Illustration einer Frau vor einem Spiegel, in dem ihr Spiegelbild unkenntlich ist. Die Autorin schreibt über die Erfahrung mit der Alzheimerkrankheit ihrer Mutter.
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Wie ich versuche, mit der Alzheimer-Erkrankung meiner Mutter klarzukommen

Mit 30 stehe ich einer Krankheit gegenüber, die meine Mutter für immer verändert. Wie kann ich ihr trotz allem nahe sein?

Richtig ernst wurde es, als meine Mutter anfing, mit dem Fernseher zu sprechen. Sie erzählte ihrer Lieblingsmoderatorin Bianca Berlinguer, dass ihre Tochter ebenfalls eine "großartige Journalistin" sei. Das war vor anderthalb Jahren.

Die offizielle Diagnose hatte meine Mutter bereits ein paar Jahre davor bekommen: Alzheimer-Krankheit. Sie war 72 Jahre alt. Bis zu dem Vorfall mit dem Fernseher hatte ich mich allerdings an die naive Hoffnung geklammert, dass ihre Diagnose zwei Wörter in einem PDF-Dokument bleiben würde. Der Fernsehervorfall markierte eine Veränderung: In den Jahren seit der Diagnose, gestellt 2016, hatte sie sich äußerlich normal verhalten, jetzt trat sie in das milde Stadium der Krankheit ein – die Phase, in der Alzheimer beginnt, das Realitätsempfinden zu beeinträchtigen.

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Das Fortschreiten ihrer Krankheit war langsam, aber unaufhaltsam. Als ich noch zur Schule ging, litt meine Mutter unter starken chronischen Kopfschmerzen. Nur selten klagte sie darüber, dafür nahm sie starke Schmerzmittel. 2014 dann, als ich 24 war, begann ein Zeit zunehmend beunruhigender Arztbesuche.


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Zwei Jahre später attestierte der Arzt ihr bereits "kognitiven Abbau". Sie war aber noch da. Sie war immer noch sie selbst, abgesehen von ein paar kleinen Gedächtnisproblemen wie bei der Espressokanne, die sie zu lange auf dem Herd ließ. "Sie braucht einfach mehr Ruhe", redeten wir uns als Familie ein. Ihre Untersuchungsergebnisse belehrten uns eines Besseren, wieder und wieder.

Wie ich heute weiß, gibt es von Alzheimer kein Zurück. Benannt ist die Krankheit nach dem deutschen Arzt und Psychiater Alois Alzheimer. Er dokumentierte die Krankheit 1906 zum ersten Mal, nachdem er im Gehirn einer Frau charakteristische Veränderungen festgestellt hatte. In den Jahren vor ihrem Tod hatte die Frau unter zunehmendem Gedächtnisverlust und Sprachproblemen gelitten, sich unberechenbar verhalten. Heute versteht man Alzheimer als neurodegenerative Erkrankung – das heißt, die Gehirnzellen sterben ab. Es ist die häufigste Form der Demenz. Unter diesen Oberbegriff fallen Gehirnerkrankungen, die den Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit zur Folge haben.

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Demenzerkrankungen setzen in der Regel ab 65 ein. Frauen sind häufiger betroffen, auch weil sie im Schnitt älter werden als Männer. Mit der zunehmenden Alterung der europäischen Bevölkerung sind auch immer mehr Menschen von Demenz und Alzheimer betroffen. Laut der NGO Alzheimer Europe lebten 2019 fast zehn Millionen Europäerinnen und Europäer mit Demenz. Diese Zahl könnte bis 2050 auf 19 Millionen steigen. Weltweit sind momentan rund 50 Millionen Menschen von Demenz betroffen, schon 2030 werden es schätzungsweise 80 Millionen sein.

Ich habe mit der Psychotherapeutin Ilaria Maccalli über die Krankheit gesprochen. Sie ist die wissenschaftliche Leiterin der Mailänder Alzheimer Gesellschaft, einem Solidaritätsnetzwerk, das Angehörige und Patienten unterstützt.

"Die Ursachen für Alzheimer sind nicht genau bekannt", sagt sie. "Es gibt auch kein Mittel, das den Fortschritt der Krankheit aufhalten kann, nur Medikamente, die die Symptome lindern oder verlangsamen." Alzheimer wird in sieben Stadien unterteilt, die sich im Grad der Beeinträchtigung für die Betroffenen unterscheiden. "Einige Stadien können sich auch überlappen und jeder Patient erlebt die Krankheit anders", sagt Maccalli.

Heute, mit 77 Jahren, befindet sich meine Mutter in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. Es umfasst psychotische Episoden und einen merklichen Abfall der Lebensqualität. Sie redet nicht länger mit Fernsehjournalistinnen. An ihre Stelle sind Geister und Schatten getreten, böse Augen und Frauen, die ihr wehtun wollen.

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Seit einigen Monaten sind Spiegel ihr schlimmster Feind. Wenn sie sich selbst anschaut, sieht sie "die andere", die ihr alles wegnehmen will, was ihr lieb und teuer ist. "Viele Menschen mit Alzheimer denken, dass sie jünger sind als ihr tatsächliches Alter, und erkennen sich nicht mehr im Spiegel", sagt Maccalli. Sonderbarerweise haben Betroffene andererseits meistens kein Problem damit, die Reflektionen anderer Menschen im Spiegel als solche zu erkennen.

Wenn ich daran denke, was mit meiner Mutter passiert, mit ihren Nervenverbindungen im Gehirn, dann stelle ich mir einen bösen Wirt vor, der alles in seiner Macht stehende tut, um sie auszubremsen. Ich denke daran, wie sie versucht, sich ihren Weg zu ihrer Persönlichkeit zurückzukämpfen – und sich dabei verheddert. Ich denke daran, wie sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verwechselt, wie sie ständig unheimlichen Gestalten begegnet.

Die Krankheit betreffe vor allem das Gedächtnis, erklärt Maccalli, "den Teil, in dem wir unser Selbstbild speichern". Aus diesem Grund schwindet die Persönlichkeit meiner Mutter, ihre Identität, nach und nach. "Wir hören häufig von Angehörigen: 'Das ist nicht länger er oder sie.' Das zeigt auch das Ausmaß ihres Schmerzes."

Während mich der geistige Verfall meiner Mutter anfangs noch vor allem überrascht hat, überwiegt nach all den Jahren die Entmutigung. Manchmal habe ich das Gefühl, mit ihr unterzugehen. Mit diesem Gefühl müssen sich pflegende Angehörige früher oder später auseinandersetzen.

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Allein in Italien, wo ich lebe, kümmern sich rund drei Millionen Menschen entweder direkt oder indirekt um Menschen mit Alzheimer. In unserem Fall hat mein Vater den Großteil der Pflegearbeit übernommen, er kümmert sich um fast alles von Kochen bis Putzen. Ich habe zwei große Brüder und zwei große Schwestern. Wir versuchen, uns gegenseitig bei der Hilfe zu ergänzen. Ich lebe und arbeite in Mailand, aber häufig fahre ich nach Hause nach Lecce in Süditalien, weil ich weiß, dass es immer schwieriger wird, Zeit mit meiner Mutter zu verbringen.

Diese Erkenntnis ist verhältnismäßig neu. Erst im Juli 2020 habe ich aufgehört, das zu leugnen, als meine Mutter beim Mini-Mental-Status-Test neun von 30 möglichen Punkten erreichte. Der Test besteht aus einem Fragebogen mit ein paar simplen Aufgaben, die verschiedene Hirnfunktion testen wie Orientierung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Sprache. Erreicht man weniger als 24 Punkte, ist das ein Hinweis auf kognitive Einschränkungen. Mit neun Punkten fällt meine Mutter in die Kategorie der schweren Demenz.

Für Angehörige ist es häufig schwer, die Krankheit zu akzeptieren. 2019 ergab eine weltweite Studie der NGO Alzheimer's Disease International und der kanadischen McGill University, dass 35 Prozent der pflegenden Angehörigen die Demenz-Diagnose vor mindestens einer Person verheimlicht.

Die Krankheit verlangt den Pflegenden und Angehörigen einiges ab. Das Verhältnis zueinander verändert sich, ständig hat man Schuldgefühle, weil man meint, nicht genug zu tun. Alzheimer stellt jedes Gefühl von Normalität auf die Probe. Alles ist plötzlich kompliziert und man selbst schnell überfordert. Selbst einfachste Aufgaben wie die Organisation einer Fahrt zu einem Arzttermin erscheinen unfassbar komplex.

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Egal, was du tust, eine Person mit Alzheimer zwingt dich, an dir zu arbeiten, wie du es vielleicht nie gewollt hast. Das wichtigste positive Gefühl, das mir geblieben ist, ist mein Mitgefühl. Heute brauche ich nur hin und wieder an einem ihrer guten Tage ihre fröhliche Stimme zu hören, um mich glücklich zu machen. An ihren schlechten Tagen hat sie Probleme, mich zu erkennen. Wenn ich in Mailand bin, beginnt mein Vater unsere Telefonate häufig mit "Heute ist kein guter Tag".

"Man trauert um jemanden, obwohl die Person noch lebt", sagt Maccalli. Besser könnte ich dieses Gefühl nicht ausdrücken. Es ist verwirrend. Dazu kommt dieser Verlust während einer schwierigen Phase in meinem Leben. Ich bin in eine neue Stadt gezogen, habe den Job gewechselt und spüre eine allgemeine Unsicherheit. Ich werde meine Mutter nie in meiner neuen Stadt zum Essen ausführen oder mit ihr meine Leidenschaft für Pflanzen und fürs Kochen teilen können. Sie wird mir auch nie zeigen können, wie man Orecchiette macht, eine traditionelle Pasta aus unserer Region.

Aber ich habe auch neue Wege gefunden, mit ihr zu kommunizieren. Mit Voranschreiten der Krankheit hat sie vergessen, wie man kocht, aber am Telefon – in ihren klaren Momenten – erzählt sie mir, welche Gerichte sie mir kochen wird, wenn ich sie das nächste Mal besuchen komme. Ich schicke ihr häufig Blumen, was sie liebt. Wenn ich sie besuche, hören wir zusammen Musik. Das letzte Mal haben wir "La valse d'Amélie" von Yann Tiersen angemacht und ich war sehr gerührt, als sie sagte: "Es ist schön, so zusammen zu sein."

Auch wenn ihnen einige Erinnerungen fehlen, können die Gehirne von Alzheimerpatienten auf einer Instinktebene immer noch Informationen verarbeiten, sagt Maccalli. "Sie wissen, welche Person wichtig ist", sagt sie. "Sie wissen, dass sie emotional mit Familienmitgliedern verbunden sind."

Die Ärztin weiß nicht, wie sehr mich das erleichtert.

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