Foto: IMAGO / Noah Wedel
In dieser Serie veröffentlichen wir gekürzte Auszüge aus dem neuen Buch "Coming-out" des VICE-Autoren Sebastian Goddemeier, erschienen im riva Verlag.
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Auch bei VICE: Was kostet die Flucht nach Europa?
In Berlin-Lankwitz, im gutbürgerlichen Südwesten der deutschen Hauptstadt, wuchs Kevin auf. Er bewegte sich meist zwischen den Bezirken Schöneberg, Tempelhof und Steglitz. Schule, Hobbys, Freunde – alles gut behütet, sicher und geordnet. Seine Eltern sind bis heute glücklich verheiratet; der Vater Beamter, die Mutter im Jobcenter tätig. Die Erkenntnis, schwul zu sein, war für Kevin ein schleichender Prozess. "Es gab nicht diesen einen Aha-Moment, in dem alles klar geworden ist." Er brauchte den Kontrast zu anderen Teenagern. Heterosexuellen Teenagern. Im Alter von zwölf Jahren fühlte er sich das erste Mal zu Jungen hingezogen. "Ich habe auf einmal Emotionen in mir entdeckt, mit denen ich arbeiten musste. Ich hatte mich bis dato noch gar nicht mit meiner Sexualität auseinandergesetzt – es war nicht mal die Vermutung da, dass ich schwul sein könnte."Je älter er wurde, desto präsenter wurde das Thema Homosexualität in seinem Leben. "In der Schule hat man als Teenager hin und wieder das Wort 'schwul' gehört. Da fing ich an, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, forschte im Internet und merkte: Das könnte auf mich zutreffen." Manchmal wurde "schwul" auch als Schimpfwort benutzt, Kevin hatte aber das Glück, in einer liberalen Gegend zu leben, in der Homofeindlichkeit kein großes Thema war: "Bei uns war das nicht so heftig wie anderswo. Auch mein Umfeld in der Schule hat mir nie den Eindruck vermittelt, dass Homophobie jemals ein ernstzunehmendes Problem wäre."
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Damals tanzte und flirtete Kevin in den Berliner Schwulenclubs, heute sitzt er in seinem eigenen Büro im Willy-Brandt-Haus. Sein Leben und seine politische Laufbahn sind von einem SPD-Politiker besonders stark geprägt worden: "Die Geschichte von Klaus Wowereit hat mich wirklich sehr angetrieben. Nicht damals, 2001, zu seinem Coming-out – da war ich noch etwas zu jung. Aber im Rückblick war dieser Satz sehr prägend: 'Ich bin schwul und das ist gut so.'" Zu diesem Zeitpunkt war offen schwul zu sein für Politiker*innen eine große Ausnahme. "Außerdem wurde er von Boulevardjournalist*innen indirekt erpresst: Entweder du outest dich oder wir tun es. Hoch beeindruckend, wie er das unter Druck gemanagt hat." Nicht nur Kevin wurde von Klaus Wowereits Coming-out beeinflusst, sondern auch seine Heimatstadt Berlin. "In den ersten fünf Wowereit-Jahren ist sehr viel aufgebrochen, die Stadt ist internationaler geworden. Man dachte damals, dass mit der Industrie nicht viel zu holen war – also wollte man sich als Feier- und Kulturstadt etablieren. Klaus Wowereit hat das mit verkörpert."Heute ist der Umgang von Politiker*innen mit ihrer Homosexualität wesentlich offener – dank Klaus Wowereit und auch dank Kevin."In der SPD, wie ich sie erlebe, ist die Sexualität vollkommen egal. Interessiert keinen. Wir sind fünf queere Evolutionswellen weiter."
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Das heißt natürlich nicht, dass alles gut ist. Es ist noch viel Arbeit nötig, bis queere Menschen sicher in Deutschland leben können. Kevin glaubt, dass die letzte bleibende Domäne der Homophobie der körperliche Angriff auf gleichgeschlechtliche Paare im öffentlichen Raum ist. "Wenn irgendwelche testosterongesteuerten Typen in Nord-Schöneberg unterwegs sind und rund um den Nollendorfplatz ein schwules Pärchen sehen – das ist durchaus eine Situation, in der man mit einer Anfeindung rechnen kann." Deswegen spaziert auch Kevin nicht händchenhaltend durch die Berliner Straßen."Wenn du 15 Leute anflirten musst, bis ein Treffer dabei ist, ist das unangenehm. Deswegen sind Safe Spaces so wichtig."
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