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Die Einhörner der Meere

Forscher vermuten, dass in den längsten Eckzähnen der Welt der Narwale ungeahnte Fähigkeiten stecken.
Narwale beim munteren Spielen. Bild: Glenn Williams

Der Narwal ist eine so bizarre Kreatur, dass viele Menschen nicht glauben können, dass es sich dabei um ein echtes Tier und kein Fabelwesen handelt. Im Gegensatz zu seinen Artgenossen hat dieser arktische Geselle einen hervorstehenden Stoßzahn, der die Mäuler nahezu aller Männchen und 15 Prozent der Weibchen schmückt.

Der Zweck dieser gigantischen Gesichts-Grätsche wird seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert. Die Vermutungen zu seiner Funktion reichen von geschlechtlicher Selektion über Atmung und Gehör bis zur Verteidigungswaffe. In einer neuen Studie haben Forscher der Harvard Universität nun eine weitere Annahme ins Spiel gebracht, und zwar dass es sich bei den Hörnern um sensorische Organe handelt.

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„Es braucht eine gewaltige Menge an Energie und Ergebenheit, dieses Ding wachsen zu lassen" sagte der Hauptverfasser und Dentalspezialist Martin Nweeia im Magazin Wired. „Um so viel Energie in solch einer rauen Umwelt aufzuwenden, muss es schon einen überzeugenden Grund geben."

Um Aufschluss über die sensorischen Fähigkeiten der Stoßzähne zu bekommen, sammelten Nweeia und seine Kollegen etliche Proben von Inuit Jägern in Baffin Island. Diese bestätigten, dass die Stoßzähne eines Narwals eine durchlässige äußere Hülle besitzen, die es dem Meerwasser erlaubt bis zum inneren Zahnbein vorzudringen. Ist es einmal dort drinnen, kann es durch Röhrchen bis ins Zentrum des Zahnbeins laufen, welches mit Blutgefäßen und Nervenmark gefüllt ist.

Wenn du nicht gerade einen Wurzelkanal erwischst, sind die Nerven menschlicher Zähne nie in solch dramatischer Weise freiliegend. Doch der Stoßzahn von Narwalen reagiert extrem sensibel auf seine Umgebung und scheint das Wasser in seinem Zahnlabor permanent auf Gefahren zu filtern.

Nweeias Team beobachtete diesen Prozess während seiner Experimente in Aktion. Sie konstruierten einen Plastik-Zylinder, den sie den Tieren über den Stoßzahn stülpten und mit Wasser füllten, welches jeweils unterschiedliche Salzkonzentrationen hat. Je höher der Salzgehalt, desto höher war die Herzschlagrate der Tiere. Dies liegt möglicherweise daran, dass sie Angst hatten in Blitzeis gefangen zu werden. Unabhängig von der Ursache bleibt zunächst einmal die Erkenntnis, dass Narwale Wasser durch ihre Stoßzähne trichtern und so die Salzkonzentration messen.

Die schiere Seltsamkeit des Zahns spielt eine wesentlich komplexere Rolle im Leben der Tiere als bei anderen Säugetieren mit Stoßzähnen—die hervorstehenden Zähne von Elefanten, Rhinozerossen und Walrossen sind alle gebogen. Überraschenderweise sind die der Narwale noch sehr flexibel und können bis zu 30 Zentimeter gebeugt werden bevor sie zurück schnellen.

Es ist auch der längste Eckzahn der Welt und kann über zweieinhalb Meter lang werden. Von den beiden Zähnen der Tiere ist es immer der linke, der aus der Backe herausbricht und zu dem charakteristischen „Horn" der Narwale heranwächst. „Nichts an diesem Zahn macht Sinn", sagt Nweeia im Forschungsbericht. „Er trotzt nahezu allen bekannten Prinzipien von Säugetierzähnen."

Somit bleibt das allgegenwärtige Rätsel der Stoßzähne von Narwalen zumindest teilweise bestehen, denn eine Untersuchung dieser Tiere kann frustrierend und äußerst schwierig sein. Sie leben in einigen der abgelegensten Regionen der Welt und verstecken sich das halbe Jahr unter Eisschollen. Möglicherweise dient ihr ikonischer Zahn gleichermaßen allen Funktionen, die die Wissenschaftler durch die Jahrhunderte in Erwägung gezogen haben. Und es wäre nicht allzu überraschend, wenn sich noch ein paar weitere Superkräfte in dem Zahn versteckt halten.

Die echte Version des Narwals ist also viel cooler als es jedes Fabelwesen je sein könnte.