Zwischen Lieblings-Emojis und Atomkrieg: Wie Angela Merkel vier YouTuber plattmacht
Illustration: VICE [Merkel: imago | photothek; Hintergrund: imago | Ikon Images; YouTuber: YouTube | Deine Wahl]

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Popkultur

Zwischen Lieblings-Emojis und Atomkrieg: Wie Angela Merkel vier YouTuber plattmacht

"Ihr allererstes Interview?", fragt die Bundeskanzlerin die Beauty-Vloggerin. "Sonst machen Sie immer nur Selbstdarstellung?"

Hätte man mich Anfang des Jahres gefragt, welcher der beiden Kanzlerkandidaten die Nase bei der jungen Zielgruppe vorne hat – meine Antwort hätte ganz klar Martin Schulz gelautet. Reddit-Nutzer feierten den "Gottkanzler" und es verbreitete sich die Legende des unstoppbaren "Schulzzugs". Mittlerweile hat sich die Euphorie gelegt, die Umfragewerte der SPD sind so niedrig, dass Merkel nicht einmal auf die Idee kommt, Schulz' Namen bei Wahlkampfreden in den Mund zu nehmen. Und ausgerechnet jetzt zieht die Kanzlerin ihr vielleicht größtes Ass aus dem Ärmel: YouTube-Stars.

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Im Rahmen der hip hashtaggig betitelten Aktion #DeineWahl bekamen vier Webvideogrößen die Chance, der Kanzlerin Fragen zu stellen, die sie und ihre Community bewegen: Mirko Drotschmann (MrWissen2Go), Lisa Sophie (ItsColeslaw), Alex Böhm (AlexiBexi) und Ischtar Isik. Jede YouTube-Persönlichkeit bekam zehn Minuten Zeit, um Merkel zu einem jeweils anderen Thema zu löchern. Das Ziel der Veranstalter: die junge Zielgruppe für Politik zu begeistern und klarzumachen, wie wichtig es ist, wählen zu gehen. Das offensichtliche Ziel von Merkel: in einem möglichst konfliktfreien Raum Werbung für sich zu machen und sich gleichzeitig als medienaffine, moderne Kanzlerin für die Millennials zu präsentieren. Schon wieder.

Der erste YouTuber, der Angela Merkel interviewen durfte, um die Brücke zwischen Politik und Generation Primark-Haul zu schließen, war LeFloid. Das war vor zwei Jahren, Merkel befand sich inmitten ihrer aktuellen Legislaturperiode und hatte weder sonderlich viel zu gewinnen noch zu verlieren. Sie gab den politischen Teflon-Don und lieferte Nicht-Antwort nach Nicht-Antwort. Die vernichtende Kritik über zu lasche Fragen und fehlendes Nachbohren traf im Nachhinein den YouTuber. Dem blieb nur noch übrig, sich zu rechtfertigen: "Klar war ich schweinenervös", er sei halt nur ein "fucking YouTuber", der "die fucking Kanzlerin interviewen wollte".

Zwar hatte insbesondere Drotschmann im Vorfeld deutlich gemacht, dass er und seine YouTube-Kolleginnen und -Kollegen die Fehler ihres Vorgängers nicht wiederholen wollen. Nach wenigen Minuten im ersten Interview kommt es allerdings zu einer Situation, die genau so schon vor zwei Jahren stattfand. Lisa Sophies Frage, warum sie gegen die Ehe für Alle gestimmt habe, begründet Merkel mit ihrem ganz persönlichen Bauchgefühl. Die 20-Jährige hakt nicht nach und macht weiter im Programm. "Soziale Gerechtigkeit" scheint das Thema für ihren Interviewteil zu sein, zumindest ging es in einem kurzen Einspieler (mit der YouTuberin Nilam) um die Schere zwischen Arm und Reich.

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"Haben sie ein Lieblings-Emoji?" – "Smiley. Wenn's gut kommt, ein kleines Herzchen mit dran."

Während Lisa Sophie über Bildung spricht, klettert die Zuschauerzahl von 34.000 auf 50.000. Den Live-Chat schalte ich aus. Er aktualisiert sich so schnell, dass sich nur vereinzelt Kommentare wie "Merkel muss weg!!" oder "AFD AFD AFD" ausmachen lassen. Die komplett willkürlichen Stockfotos an der Wand hinter Merkel und den YouTubern – eine weichgezeichnete Filmklappe, Nagellackfläschchen, eine Spiegelreflexkamera neben einem Glas voller Geldscheine – sind irritierend genug.

Interviewer Nummer zwei, AlexiBexi, nimmt sich dem Thema Automobilindustrie und Elektromobilität an. Einem Thema, das zweifelsohne wichtig ist, über das er offensichtlich sehr viel weiß und zu dem er gut nachhakt. Aber: Ist das wirklich etwas, das junge Menschen beschäftigt? Junge Menschen, die es in Großstädte zieht, und für die aus praktischen und wirtschaftlichen Gründen die Anschaffung eines Autos keine große Priorität hat? Erst zum Schluss hin besinnt sich der YouTube-Star seiner massenmedientauglichen Wurzeln und stellt zwei Fragen, die selbst die schlagfertige Merkel aus dem Konzept bringen. "Haben sie ein Lieblings-Emoji?", will Böhm wissen. "Smiley. Wenn's gut kommt, ein kleines Herzchen mit dran", antwortet Merkel und verzieht ihren Mund dabei zu einer Emoji-Schnute.

Die Anschlussfrage, was sie sich auf ein T-Shirt drucken lassen würde, ist ähnlich skurril (Antwort: eine Welle, weil ihr Wahlkreis an der Ostsee ist), ebnet aber den Weg für die nächste Fragerunde.

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Bei Beauty-YouTuberin Ischtar Isik in der Rolle der Erstwählerin menschelt es nämlich gewaltig. Direkt zum Einstieg erzählt die 21-Jährige, dass sie selbst ihre Fans gefragt hätten, warum ausgerechnet sie als Interviewerin ausgewählt wurde, schließlich sei sie bisher ausgesprochen unpolitisch aufgetreten. Schlussendlich stellt sie aber die Fragen, mit denen man das vermeintlich einstiegsfreundliche Politikformat wahrscheinlich hätte eröffnen sollen. Bringt es überhaupt etwas, wenn ich wähle? Welche Politik richtet sich konkret an junge Menschen? Und: Warum genau hat Angela Merkel, ihres Zeichens schließlich erste Bundeskanzlerin Deutschlands und damit ein Vorbild für viele Frauen, so ein Problem damit, sich als Feministin zu bezeichnen?

Merkel lächelt, bestärkt, spricht viel, ohne dabei irgendetwas zu sagen und wirkt dabei wie eine nachsichtige Mutter. Zum Schluss kann sie es sich trotzdem nicht verkneifen, kurz durchblicken zu lassen, wie wenig Berührungspunkte es zwischen ihr und der Beauty-Vloggerin gibt. "Ihr allererstes Interview?", fragt sie auf Ischtars Bekenntnis, vorher noch nie ein journalistisches Gespräch mit jemandem geführt zu haben, und schiebt nach: "Sonst machen Sie immer nur Selbstdarstellung?" Müsste ich diesen Satz verhashtaggen, es wäre #punchlinemerkel.

"Wir sind ja hier im Internet. Es kann sich ja jeder auch noch selbst informieren."

Die letzten zehn Minuten gehören Mirko Drotschmann. Als MrWissen2Go spricht er immer wieder über aktuelle politische Geschehnisse und nimmt dabei stellenweise auch Positionen ein, die der konservativen Union nicht ganz unähnlich sind. Sein Themenbereich ist Außenpolitik und wird mit einem kurzen Video über türkisches Gebäck eingeleitet. Auch er ist gut vorbereitet und moderiert souverän durch das Gespräch, was bei seinem journalistischen Hintergrund auch keine Überraschung sein dürfte. Es geht um inhaftierte Journalisten in der Türkei, einen möglichen Atomkrieg zwischen Nordkorea und den USA – ja klar, müssen wir drüber reden. Gleichzeitig wird aber auch relativ schnell klar, was den YouTuber wirklich interessiert: was der Kanzlerin eigentlich so durch den Kopf geht, wenn sie die Tweets von Donald Trump liest. Gleich zwei Mal stellt er diese Frage. Die erwartete Antwort bekommt er trotzdem nicht. Wer schon mit Erdoğan und Putin diskutieren musste, lässt sich von Influencern eben auch nicht mehr kleinkriegen.

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So angenehm vorbereitet und engagiert die YouTuber auch rüberkamen, das komplette Format wirkt unausgegoren. Statt sinniger Einblendungen, die beispielsweise zusätzliche Infos zu den gestellten Fragen liefern, wurde zwanghaft versucht, die Zuschauer einzubinden. Sei es durch bemerkenswert vage formulierte Twitter-Umfragen wie "Habt ihr Angst vor einem Krieg?", oder die Tatsache, dass zwischen den Segmenten immer wieder Tweets vorgelesen wurden, die weder viel beitrugen noch wirklich spannende Fragen aufwarfen.

Vielleicht war es die Angst davor, dass sich die Presse anschließend über sie lustig machen würde – wie damals bei LeFloid. Vielleicht scheiterten die YouTuber aber auch einfach an dem Anspruch, die Fragen und Sorgen ihrer Zuschauer in einige wenige Fragen zu pressen. Und wenn jeder Interviewer nur zehn Minuten bekommt, macht es das auch nicht einfacher, ein richtiges Gespräch zu führen. Fakt ist: Statt authentischen Momenten zwischen jungen Menschen und der wohl mächtigsten Frau der Welt lieferte #DeineWahl eine Art Wahlarena-Light. Stellenweise wähnte man sich eher in einer betont lockeren Sendung der Öffentlich-Rechtlichen als einem Format von und für das Internet.

Schlussendlich ging Merkel aus dem einstündigen Interviewmarathon als klare Siegerin hervor. Um konkrete politische Inhalte und Ziele ihrer Partei ging es kaum. Ihre kontroversen Entscheidungen wie die Ablehnung der Ehe für Alle oder ihre milliardenteure Rentenreformen, die uns Junge benachteiligen, wurden auch nicht hinterfragt. Stattdessen durfte sie sich als verlässliche Mutti der Nation inszenieren, die auch auf die krudeste Frage noch eine ansatzweise souveräne Antwort parat hat und dabei trotzdem sympathisch wirkt. Wäre ich Erstwähler und würde mich außerhalb meiner YouTube-Abos nicht oder nur wenig mit Politik beschäftigen – ich würde mein Kreuz wahrscheinlich für Merkel machen.

Auch deshalb muss die Frage gestellt werden, ob es bei dieser einmaligen Talkrunde bleibt, oder auch andere Spitzenkandidaten sich zu ihren Lieblings-Emojis befragen lassen dürfen. Die verantwortliche Webvideo-Produktionsfirma Studio71 wollte sich dazu gegenüber Übermedien noch nicht festlegen.

"Wir sind ja hier im Internet. Es kann sich ja jeder auch noch selbst informieren", sagte Moderator Rob in der abschließenden Nachbesprechung, als die Kanzlerin schon auf dem Weg zu ihrem nächsten Termin war. Und damit war dann vielleicht auch schon alles zum Anspruch von #DeineWahl gesagt.

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