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Recherche: Angestellte des Lieferservice Gorillas berichten von zermürbenden Arbeitsbedingungen

Das Start-up aus Berlin verspricht, Lebensmittel in nur zehn Minuten zu dir zu bringen. Dieses Versprechen hat seinen Preis.
Ein junger Mann und eine junge Frau sammeln für eine Bestellung Lebensmittel aus den Regalen eines Warenlagers des Lieferservices Gorillas; acht Angestellte haben mit uns darüber gesprochen, wie schlimm die Arbeitsbedingungen bei dem Start-up sind
So sieht es in den Warenlagern von Gorillas aus | Foto: Gorillas

Kağan Sümer, Mitbegründer und CEO des inzwischen gut ein Jahr alten Lebensmittel-Lieferservices Gorillas, betrachtet die Warenlager seines Unternehmens wie die Umkleideräume aus seiner Zeit als Wasserballer.

"Du gehst da rein und es spielt Technomusik", erzählt Sümer im Gespräch mit dem Start-up-Podcast OMR. "Jeder dort verfolgt das gleiche Ziel, ich liebe es einfach."

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Während Gorillas auf seiner Website potenziellen Angestellten "funktionale, komfortable und stylische" Ausrüstung und eine "energetische Crew" verspricht, erzählen acht Mitarbeitende im Gespräch mit VICE etwas anderes über den Arbeitsalltag bei dem Start-up: Die Lieferantinnen und Lieferanten, die aus offensichtlichen Gründen anonym bleiben wollen, sprechen von strapaziösen Lieferplänen, chaotischem Management und mangelhaften Sicherheitsmaßnahmen.

In einer Antwort auf einen Fragenkatalog von VICE heißt es von Seiten Gorillas, dass es in einem jungen und schnell wachsenden Unternehmen nicht ungewöhnlich sei, Störungen und Unstimmigkeiten zu erleben, wenn neue Abläufe und Strukturen eingeführt werden. Ein Zugehörigkeitsgefühl und die Community seien aber ein essenzieller Teil von Gorillas – und etwas, auf das das Unternehmen stolz sei.


Auch bei VICE: Die krassesten WG-Storys von Berlinern


Die Sorgen der Angestellten kollidieren genau mit der europaweiten Expansion von Gorillas. Im März 2021 sicherte sich das Start-up mehrere Hundert Millionen Dollar an Fördergeldern und erreichte eine Marktbewertung von einer Milliarde Dollar. Damit ist Gorillas das am schnellsten wachsende "Einhorn" in Europa.

Einige Experten bleiben jedoch skeptisch: Profitiert Gorillas nur vom Hype oder basiert das Unternehmen tatsächlich auf einem stabilen Geschäftsmodell?

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Diese Skepsis liegt daran, dass Gorillas anders funktioniert als andere Lebensmittel-Apps, die sich vorrangig auf größere Lieferungen konzentrieren. Bei Gorillas sind nämlich auch kleinere Bestellungen möglich – etwa ein paar Zutaten, die man beim richtigen Einkauf vergessen hat, oder ein Sixpack Bier. Um diesen Ansatz zu schaffen, hat das Unternehmen ein Netzwerk an eigenen Lagerzentren geschaffen und ist so nicht von Logistikpartnern abhängig.

Mit das wichtigste Merkmal von Gorillas ist allerdings die Lieferzeit: Das Unternehmen verspricht, die Lebensmittel in nur zehn Minuten bis zur Haustür zu bringen. Und das ohne Mindestbestellwert. 

Von fehlenden Pausen und der Angst, aufs Klo zu gehen

Die Lieferantinnen und Lieferanten von Gorillas sind dabei direkt beim Unternehmen angestellt und können zwischen einem Vollzeit- und einem Teilzeitvertrag wählen. Der tatsächliche Arbeitsalltag hängt dann aber stark davon ab, welchem Warenlager man zugewiesen wird. So erzählen die Angestellten, mit denen VICE gesprochen hat, dass manche "Rider Ops" – also die Managerinnen und Manager, die die tägliche Logistik in den Lagern organisieren – freundlich seien, während andere die Lieferantinnen und Lieferanten wild umher scheuchten und es nicht mal schafften, ordentliche Pausen zuzuweisen.   

Wenn während der Stoßzeiten mehr los ist, kann es noch schlimmer werden. Ein Angestellter beschreibt das Ganze als "die absolute Hölle". Ein anderer erzählt davon, dass allein der Gedanke an das laute und während der Rush Hour ständig ertönende Klingelgeräusch, das eine neue Bestellung ankündigt, für "extreme Angstzustände" sorge. 

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"Der Druck, Bestellungen zu scannen und auszuliefern, ist krass hoch", sagt eine Lieferantin. "Das gilt vor allem, wenn die Bestellungen direkt hintereinander kommen. Dafür sorgen die Rider Ops, aber auch die Lagerchefs."

"Es kam schon oft vor, dass ich nicht aufs Klo gehen konnte", so die Lieferantin weiter. "Und ich habe häufig mitbekommen, wie die Lagerchefs herumschreien."

Abseits der Warenlager wird dann die unzureichende Ausrüstung zum Problem. Die E-Bikes, die die Gorillas-Lieferantinnen und -Lieferanten benutzen, hätten keine Federung und seien nur mit schlechten Reifen ausgestattet, so die Angestellten. Das mache die Fahrt auf Pflasterstein quasi unmöglich. Die Lieferrucksäcke seien dazu nur sehr dünn, was dazu führe, dass schwere Lebensmittel während der Fahrt darin herumrutschen. Die Folge: Die Rücken der Lieferantinnen und Lieferanten werden in Mitleidenschaft gezogen und es ist schwerer, die Balance zu halten.

Da einige Lieferantinnen und Lieferanten in ihren Acht-Stunden-Schichten 80 Kilometer runterradeln und dabei Lebensmittel transportieren, die oft mehr wiegen als die durchschnittliche Essensbestellung, sind Rückenschmerzen keine Seltenheit. Bei einer Umfrage in einer internen Telegram-Gruppe von Gorillas-Angestellten, die VICE einsehen konnte, gaben 50 Prozent der 156 Teilnehmenden an, dass "nachhaltige Rückenschmerzen" ihre größte Sorge seien. 

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Rückenschmerzen sind auch ein beliebtes Thema bei dem Instagram-Account @gorillasriderlife: Dort werden die Schwierigkeiten des Gorillas-Arbeitsalltags in Memes ironisch verarbeitet, auf einem Bild ist zum Beispiel ein Sarg mit den Wörtern "dein Rücken" versehen.

Die Angestellten, mit denen VICE gesprochen hat, geben auch an, dass Gorillas erst im April 2021 ein Sicherheitstraining angeboten habe – also fast ein Jahr nach der Gründung des Unternehmens.

Gorillas selbst sagt, dass es eine Gewichtsbegrenzung von zehn Kilogramm pro Lieferung gebe und dass man die "besten auf dem Markt verfügbaren E-Bikes für Essenslieferungen" nutze. 

Viele Lieferantinnen und Lieferanten verspüren einen extremen Druck, ihre Aufträge innerhalb des engen von der App gesteckten Zeitfensters zu erledigen. Gorillas speichert nämlich detaillierte Statistiken über jede Lieferantin und jeden Lieferanten, auch wenn das Unternehmen behauptet, das derzeit nur für die Schichtplanung zu tun. 

Innerhalb der sechsmonatigen Probezeit ist eine Kündigung ohne Angabe von Gründen jederzeit möglich – auch wenn Gorillas sagt, dass so etwas nur bei "schwerem Fehlverhalten" passiere. Aber genau ein solcher Fall hat in den vergangenen Wochen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Angestellten und Management geführt: Ein Lieferant wurde während der Probezeit entlassen, seitdem blockieren seine Kolleginnen und Kollegen immer wieder verschiedene Warenlager in Berlin.

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Hat es Streiks gegeben oder nicht?

Die Probleme mit der Sicherheit und der Ausrüstung erreichten Anfang Februar 2021 ihren vorläufigen Höhepunkt, als Deutschland von einem heftigen Schneesturm getroffen wurde. Die Gorillas-Lieferantinnen und -Lieferanten aus Berlin sollen aber trotz Minustemperaturen und vereisten Straßen weiter zum Arbeiten aufgefordert worden sein.

Wie vier dieser Lieferantinnen und Lieferanten gegenüber VICE erzählen, entschieden sich die Angestellten von zwei Warenlagern daraufhin einstimmig dazu zu streiken. Ein drittes Warenlager folgte. Mehrere Nachrichtenportale und Blogs berichteten über den Streik.

Gegenüber einem Blog sagte Gorillas dazu, dass es keinen Streik gegeben habe. Und in der E-Mail an VICE behauptet das Unternehmen, dass es von den Bedenken der Angestellten erfahren habe, als man den Betrieb gerade selbst einstellte: "Der Zeitpunkt dieser Einwände fiel genau mit unserer Entscheidung zusammen, bis zum Ende des schlechten Wetters zu schließen." 

Hier ist anzumerken, dass die meisten Lieferantinnen und Lieferanten, die mit VICE gesprochen haben, sagen, dass die Anstellung bei Gorillas für sie dennoch ein viel bessere Option sei, als für andere Lieferdienste wie Deliveroo zu arbeiten. Das sei allerdings auch keine große Hürde.

"Nach einer Spätschicht war ich total fertig, man hatte mich aber bereits für eine Frühschicht direkt am nächsten Morgen eingeteilt."

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In Deutschland gehören Dienste wie Gorillas zu den wenigen Arbeitgebern, bei denen auch Menschen, die noch kein Deutsch sprechen, schnell eine Anstellung finden. So geben die acht Angestellten gegenüber VICE auch an, dass der Großteil der Lieferantinnen und Lieferanten nicht aus Deutschland stamme. Und es gibt wohl einen Running Gag, dass die Amtssprache bei Gorillas Spanisch sein sollte.

Dieser Umstand führe allerdings auch dazu, dass viele Angestellten sich nicht mit dem deutschen Arbeitsrecht auskennen. Sechs Lieferantinnen und Lieferanten warfen Gorillas vor, dieses fehlende Wissen auszunutzen und nur wenig zu unternehmen, wenn Angestellte ihre Rechte nicht aktiv geltend machen.

"Nach einer Spätschicht war ich total fertig, man hatte mich aber bereits für eine Frühschicht direkt am nächsten Morgen eingeteilt", erzählt ein Lieferant. "Das deutsche Arbeitsgesetz besagt jedoch, dass zwischen zwei Arbeitstagen mindestens elf Stunden ununterbrochene Ruhezeit liegen müssen. Das wusste ich nicht und stellte mich auf eine kurze Nacht ein. Dann machte mich ein Kollege auf die Regelung aufmerksam. Wenn er mich nicht aufgeklärt hätte, wäre ich am nächsten Morgen wieder zur Arbeit gegangen."

Die Angestellten berichten auch von Problemen, wenn sie direkt bei Gorillas um Hilfe bitten. Zwar hat das Unternehmen speziell für die Unterstützung der Lieferantinnen und Lieferanten einen E-Mail-Account eingerichtet, aber laut den Angestellten, die mit VICE gesprochen haben, sei dieser Service oft nutzlos und regiere nur langsam oder in manchen Fällen gar nicht. Diese Problematik wird auch häufig bei @gorillasriderslife thematisiert.

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Wo das Ganze wahrscheinlich am schwersten wiegt, ist die Bezahlung. Drei Angestellte behaupten, dass Arbeitsstunden bei Gorillas "verschwinden" oder unbezahlt bleiben können. VICE konnte eine interne Nachricht einsehen, die im Mai an die Gorillas-Angestellten versendet wurde. Darin gibt das Unternehmen zu, dass einige der Lieferantinnen und Lieferanten Probleme bei den Gehaltsabrechnungen bemerkt haben könnten. Man garantiere aber, dass jegliche finanzielle Unstimmigkeiten mit dem nächsten Gehalt ausgeglichen werden.

In der E-Mail an VICE schiebt Gorillas die Schuld an fehlenden Stunden den Lieferantinnen und Lieferanten zu, die das Zeiterfassungssystem – "unsere Quelle der Wahrheit" – nicht richtig nutzen: "Wenn die Angestellten sich nicht an- und abmelden, kann es sein, dass die Arbeitsstunden am Ende des Monats nicht stimmen." 

Wie die Lieferantinnen und Lieferanten, die mit VICE gesprochen haben, berichten, sei die Stimmung unter den Angestellten meistens freundlich und eine willkommene Abwechslung zur sozialen Isolation, die mit der Corona-Pandemie einhergeht. Einige werfen Gorillas aber auch vor, eine solche entspannte Atmosphäre nur zu schaffen, um sie später auszunutzen.

So erzählen zwei Angestellte, dass Gorillas sie und andere Lieferantinnen und Lieferanten darum bat, beim Umzug eines Warenlagers zu helfen und neue Regale zu bauen, anstatt richtige Handwerks- und Umzugsunternehmen zu beauftragen. Zwar habe man beiden Angestellten dafür den normalen Stundenlohn angeboten, aber einer der beiden warte immer noch auf die Bezahlung für die Überstunden, die er beim Aufbau des neuen Lagers gearbeitet hat. Gegenüber VICE sagte Gorillas, dass so etwas nur "in seltenen Fällen" passiere.

Die heikle Sache mit dem Betriebsrat

Als Reaktion auf die Sorgen bezüglich der Arbeitsbedingungen und dem chaotischen Management haben einige Gorillas-Angestellte sich jetzt organisiert und angefangen, einen Betriebsrat zu gründen. Am 3. Juni fand eine Betriebsversammlung statt, um einen Wahlvorstand zu wählen. Dabei lief jedoch nicht alles glatt. Nun überlegt das Unternehmen wohl, die Wahl anzufechten.

Mit dem Betriebsrat hoffen die Angestellten, einen gerechteren Arbeitsplatz füreinander zu schaffen. "Mir liegt das Unternehmen wirklich am Herzen", sagt ein Lieferant, der bei der Wahlorganisation involviert ist. "Aber ich will auch, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern und ich nicht ausgenutzt werde. Ich sorge mich um meine Kolleginnen und Kollegen. Wir stecken da gemeinsam drin und müssen zusammenhalten. Sonst hört uns niemand zu."

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