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Bundestagswahl 2017

Politiker im Test: Wären wir Freunde, wären wir im gleichen Alter?

Martin Schulz träumte von der Fußballerkarriere und sang dreckige Lieder in der Dorfkneipe. Mit 24 war er arbeitslos, Alkoholiker und dachte daran, sich umzubringen.
Fotos: SPD (vorne) | imago (hinten)

Ich muss 16 oder 17 Jahre alt gewesen sein, als ich Martin Schulz zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Er sprach aus einem Fernseher zu mir rüber. Ich schaute zurück in sein Gesicht und fragte mich dabei, warum er mir so vertraut vorkam. Irgendwann habe ich gemerkt: Es liegt an seinem rheinischen Akzent und an der Art, wie er auftritt. Er sagt nicht Sport, sondern "Spocht". Der ehemalige Präsident des Europaparlaments und Kanzlerkandidat der SPD kommt aus meinem Nachbarort. Er ist aufgewachsen, wo ich aufgewachsen bin. Der größte Teil meiner Familie wohnt in Würselen. Ich habe die gleiche Schule besucht, an der Schulz sein Abitur nicht geschafft hat.

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Ob wir befreundet gewesen wären, wenn wir vor 41 Jahren nebeneinander auf einer Schulbank des Heilig-Geist-Gymnasium in Würselen gesessen hätten? Die ehemaliger Klosterschule wurde zu seiner Zeit noch von Patern des katholischen Missionsordens der Spiritaner geführt. Sie liegt buchstäblich in einem Loch. Rundherum nur Felder und gegenüber ein paar schmale Ziegelhäuschen. Ich weiß noch, wie ich in den Pausen mit meinen Freunden hinter dem Fenster stand. Wir haben runter auf den Schulhof geschaut und gequatscht. Oft habe ich mich raus in die Welt gewünscht. Mich hat überrascht zu erfahren, wie viel präsenter das Weltgeschehen in meiner Schule war, als Schulz dort hinging. Ich wäre gerne dabei gewesen, als die Ostverträge der Brandt-Regierung Thema auf unserem Pausenhof und in Debattierzirkeln waren. Oder am 27. April 1972, Schulz war 16 Jahre alt, als er in unserer hässlichen, braungefliesten Aula mit Mitschülern und Patern vor einem kleinen Fernseher hockte, um das Misstrauensvotum gegen seinen Helden Willy Brandt zu verfolgen.

Vielleicht hätte ich auch gelacht, als er in den Pausen Politiker imitierte oder sich Wortgefechte mit Lehrern lieferte. Martin Schulz sagt, er sei ein schwieriger Schüler gewesen. Ein "Sausack" und ein Großmaul. Aber von denen habe ich mich noch nie ferngehalten. Ich bewundere, wie sorglos die scheinen.

Foto: SPD

Wahrscheinlich hätten wir aber aneinander vorbeigelebt. In der elften Klasse hatte Schulz nur Fußball im Kopf und blieb zweimal sitzen. Er war Kapitän, obwohl er nicht der beste Spieler war. Seine Stärke war das Mitreißen und Beschwören. Er war derjenige, der sich sicher war, dass seine Mannschaft ein Spiel noch drehen kann, obwohl sie in der Halbzeit 5:1 zurück lag. Er war sich auch sicher, dass er Profifußballer werden kann.

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Hätten wir uns gekannt, hätte ich das nicht nachvollziehen können. Ich hätte für kein Hobby mein Abi aufs Spiel gesetzt. Während Martin Schulz leidenschaftlich auf dem Fußballplatz stand und alles gab, habe ich meinen Kopf mit Kalorien-Rechnen trainiert, gelernt und zwanghaft Sport gemacht. Frei habe ich mich nur an den Wochenenden gefühlt, meist war dabei eine ungesunde Menge Alkohol im Spiel. Ich hätte Schulz als dumm bewertet, obwohl er damals wahrscheinlich glücklicher war als ich.

Und dann war sein Glück plötzlich vorbei. Sein Kreuzband riss nach einer Knieverletzung. Vielleicht hätte ich gedacht: "Jetzt kann sich Martin wenigstens auf die Schule konzentrieren."

Das tat er aber nicht, sondern fing in der Zwangspause an zu trinken. Im ersten Spiel nach Abschluss der Behandlung riss sein Kreuzband erneut. Er konnte nicht mehr spielen, wurde Linienrichter und flog von der Schule. Der junge Martin Schulz stand da und hatte nichts mehr. Einige seiner Freunde verliebten sich, er nicht. Er trank. Das habe ich in dem Alter auch getan. Ich weiß, wie gut man seine Sorgen zwischen Zigarettenqualm, lauter Musik und netten Leuten vergessen kann. Im Gegensatz zu ihm war ich aber so diszipliniert, mir das nur einmal in der Woche zu gönnen. Ich habe unsere Schule mit Abi verlassen.



Dabei hatte ich durchaus meine rebellischen Phasen. Als ich nicht wusste, was ich mit mir und meinem Leben noch anstellen sollte, färbte ich mir klassischerweise die Haare rot. Martin Schulz' Lösungsansatz für dieses Problem waren die Jusos. An seinem 19. Geburtstag trat er der SPD-Jugendorganisation in Würselen bei. Schulz stürzte sich in die Arbeit, schrieb Protokolle und flammende Reden. In Würselen galten er und seine Freunde als die "wilden Roten". Sie rebellierten gegen die bürgerlichen Eltern. Schulz Mutter engagierte sich in der CDU, sein Vater war Polizist aus einer SPD-Familie. Ich kann mir gut vorstellen, wie ich mit Schulz und seinen Kameraden in ihrer Stamm-Kneipe, dem Houben in Würselen, sitze. Nachdem sie das Lokal für sich auserkoren hatten, war es schnell verrufen. Die jungen Sozis vertrieben den örtlichen Kirchenchor, der dort regelmäßig probte, indem sie den frommen Menschen dreckige Karnevalslieder und sozialistische Arbeiterhymnen entgegensangen. Ich hätte gerne mit ihnen am Tresen gesessen, Bitburger getrunken und die Stones und Pink Floyd gehört.

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Martin Schulz (hinten, 2. von rechts) hat als linker Verteidiger bei der SV Rhenania gespielt

Der damalige Direktor unserer Schule besorgte Schulz einen Ausbildungsplatz in einer Buchhandlung. Trotz Alkoholproblem. Dem Spiegel sagte er über diese Zeit: "Das war eine Art Studium generale. Du hast die deutsche, europäische, internationale Literatur kennen müssen, einmal quer durch die Epochen. Dazu die Wissenschaftssystematik und Buchführung. Ich war vielleicht kein besonderes Ass in Buchführung, aber im Lesen war ich super." Vielleicht wäre ich mal in die Buchhandlung gekommen und hätte mich von ihm beraten lassen. Schulz konnte ein Buch verkaufen, wenn er den Klappentext angeschaut und es einmal quergelesen hatte, sagen die Menschen, die ihn früher erlebt haben.

Sein Ausbilder war ein älterer Mann namens Theo Goertz. Martin Schulz sagt, dass ihn kaum eine Person mehr beeindruckt hat: "Was hat der mich verarscht, das kann man sich gar nicht vorstellen." Goertz schmiss seinen alkoholsüchtigen Lehrling nicht raus, sondern sagte zu ihm: "Komm, das ziehen wir hier durch." Schulz bestand seine Prüfung geradeso.

Foto: SPD

Ich glaube, ich hätte ihn damals nicht für seinen Alkoholkonsum verurteilt, hätten wir uns gekannt. Denn über Suchtkranke möchte ich mir kein Urteil erlauben. Sein enger Familien- und Freundeskreis wendete sich allerdings von ihm ab. Seine Eltern waren mit ihm überfordert, seine Brüder redeten nicht mehr mit ihm. Seinen ersten Job in einer Buchhandlung machte er drei Monate lang. Danach wurde er noch zweimal gekündigt. Bei einem Kunstbuchverlag und einer Werbeagentur. Schulz war 24, arbeitslos und Alkoholiker und im Begriff, aus seiner Wohnung geklagt zu werden. Am 26. Juni 1980 wollte er sich umbringen. Nachts schrieb er einem guten Freund einen Abschiedsbrief.

Es waren seine letzten zwei Münzen, die ihn davon abhielten, Suizid zu begehen. Er ging damit zur Telefonzelle, rief seinen Bruder an.

Danach ging er nach Hause zu seinen Eltern und schlief in seinem alten Kinderzimmer. Er sagt: "Ich bin morgens wach geworden und ich habe gemerkt, dass es Wetter gibt, dass die Sonne scheint. Ich pflegte mich wieder, ging unter die Dusche, zog mir frische Wäsche an, genoss das Frühstück mit einem Kaffee. Ich hatte nicht mehr den ekelhaften Geschmack im Mund vom Rauchen und Saufen vom Abend davor." Seitdem Abend rührt er keinen Alkohol mehr an.

Ich glaube, nach seiner viermonatigen Therapie hätte ich mich gerne in seiner Gegenwart aufgehalten. Er wohnte mit einem seiner Juso-Freunde in dessen Haus. Unten hatten die beiden eine Buchhandlung für ihn eingerichtet. Schulz hatte zwei kleine Zimmerchen, er lebte praktisch in der Buchhandlung. Morgens konnte man ihn mit Bademantel im Laden erwischen. Die Küche hinter dem Geschäft war Anlaufstelle für Freunde, Bekannte, lokale und überregionale Politprominenz jeglicher politischer Farbe. Um einen Kaffee zu trinken, zu quatschen und zu diskutieren. Zwischenzeitlich nahm Schulz einen rothaarigen Türken bei sich auf, der vor dem Militärdienst in der Türkei geflohen war. Ich hätte gerne mit an dem runden Holztisch in der kleinen Küche gesessen. Neben dem jungen Martin, der Camel-Zigaretten rauchte, über Außenpolitik diskutierte und zwischendurch französische Chansons schmetterte. Ich hätte mich auch auf den kleinen Plastikmülleimer in die Ecke der Küche gesetzt, auf den Gäste mussten, wenn kein Platz mehr war. Wahrscheinlich wäre ich nicht in die Jusos eingetreten und wahrscheinlich wären wir politisch auch nicht immer einer Meinung gewesen. Ich bin oft hin- und hergerissen, kann viele Positionen und Meinungen nachvollziehen und tue mich schwer, mich für eine zu entscheiden. Martin Schulz war anders. Er hatte seinen Standpunkt. Wir wären keine engen Freunde gewesen, aber ich hätte ihn für seine Überzeugung bewundert.

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