Zwei Besucher verlassen den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
Alle Fotos: Grey Hutton

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Terrorismus

Warum die Befestigungen am Breitscheidplatz sinnlos und peinlich sind

Die Sicherheitsvorkehrungen sind teuer und machen uns nicht sicherer – im Gegenteil.

Donnerstagabend am Breitscheidplatz: Eine ältere Dame hat Mühe, über die Rampe zu klettern, die den Eingang zum Weihnachtsmarkt markiert. Sie stützt sich an den rotweiß gestreiften Pollern ab, setzt ihren Stock vorsichtig auf die abschüssige Fläche vor sich. "Ja, da muss man ganz schön rauf und runter", scherzt sie, als das Hindernis endlich überwunden hat. Aber sorgen die Barrieren nicht wenigstens dafür, dass sie sich sicherer fühlt? "Ach, Unsinn! Wenn hier einer was machen will, muss er doch nur mit dem Rucksack reinlaufen!" Weiter will sie nicht reden – sie will jetzt auf den Weihnachtsmarkt.

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Ähnlich sehen das die meisten, die man an diesem Abend fragt: Die Verkäuferin in der Süßgebäck-Bude, das Paar am Glühweinstand, die 26-Jährige mit Kopftuch, die sagt, sie gehe fast jeden Tag auf den Weihnachtsmarkt, weil es "einfach schön" sei. "Reine Makulatur" nennt ein 48-Jähriger Besucher die Befestigungen aus mit Sandsäcken gefüllten Gitterkörben, Betonklötzen und Anti-LKW-Rampen, mit denen die Stadt den Weihnachtsmarkt rundum abgesichert hat. Vor zwei Jahren war der Islamist Anis Amri mit einem gekaperten 40-Tonner in diesen Weihnachtsmarkt gefahren und hatte elf Besucher getötet. Damit sich das nicht wiederholt, hat die Stadt 2,5 Millionen Euro für die Sicherung ausgegeben. Das Ergebnis ist unmöglich zu übersehen: In fast allen Berichten wird der Weihnachtsmarkt "die Festung vom Breitscheidplatz" genannt.

Diese Barrieren hätten nie gebaut hätten werden sollen. Und zwar nicht nur, um Geld zu sparen. Der erste Grund ist ziemlich offensichtlich:

Sie schützen niemanden

Das stimmt natürlich nicht ganz. Die Barrieren erfüllen ihre Aufgabe und verhindern, dass noch einmal jemand mit einem schweren LKW in diesen Weihnachtsmarkt fährt – also genau den gleichen Plan wie Anis Amri an genau dem selben Ort verfolgt. Wenn irgendjemand diesen Plan auch nur leicht abändert, sind die Barrieren sofort sinnlos. Was Sicherheitsexperten und Polizisten "ein Restrisiko" nennen, bedeutet eigentlich: Selbst wenn jeder Weihnachtsmarkt, jeder öffentliche Platz in Deutschland ausgebaut würde wie die Green Zone in Bagdad – gegen entschlossene Einzeltäter ist sowieso nichts zu machen.

Nahaufnahmen der Sicherheitsvorkehrungen an den Eingängen

Rechts: Die Kisten mit den Sandsäcken hat man noch weihnachtlich geschmückt

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Maßnahmen wie die am Breitscheidplatz schüren also nur unsere irrationalen Ängste, ohne uns zu schützen. Ein Beispiel: Am Donnerstag kamen drei verschiedene Besucher, mit denen wir gesprochen haben, ungefragt auf die Idee, einen Mann mit einem Rucksack zum Beispiel könne sehr leicht sehr viel Schaden anrichten. Was uns gleich zum nächsten Punkt bringt:

Die Befestigungen zerstören das Konzept des öffentlichen Raums

Die Rucksack-Idee zeigt, dass die Barrieren vor allem eins erreichen: dass jeder Besucher und jede Besucherin des Weihnachtsmarkts sofort an die Möglichkeit eines Anschlags denkt und verschiedene Szenarien im Kopf durchspielt. Kein Wunder, wenn an jedem Eingang riesige Rampen stehen, auf denen die stolze Aufschrift des Herstellers "trucBlock" jeden daran erinnert, dass hier Menschen von einem LKW getötet wurden. Der öffentliche Raum wird so als Gefahrenzone wahrgenommen.

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Auch der nördliche Zugang ist jetzt vor Anis Amri sicher

Das geht direkt ans Herz dessen, was unsere Gemeinschaft ausmacht. Das ganze Konzept von Demokratie ist untrennbar mit der Diskussion im öffentlichen Raum verbunden, sie ist aus ihm geboren. Wenn wir öffentliche Räume nur noch als schützenswerte "weiche Ziele" wahrnehmen, weil sie auf jeder Seite von Rampen, Schutzwällen und Betonblöcken eingehegt sind, dann haben wir aufgegeben.

Aber sind öffentliche Räume aufgrund der Terroristen nicht eben mittlerweile Gefahrenzonen?

Nein, sind sie nicht. Die Wahrscheinlichkeit in Deutschland bei einem Terroranschlag getötet zu werden, ist winzig – es ist tausendfach wahrscheinlicher, bei einem Autounfall zu sterben. Das ist keine Relativierung, das ist die Realität. "Genau ein einziges Mal" sei auf einem Weihnachtsmarkt etwas passiert, erklärt der Dozent einer Polizeihochschule der Süddeutschen, man gehe jedes Mal ein höheres Risiko ein, wenn man ins Auto steige.

Objektiv betrachtet haben Terroristen den öffentlichen Raum also nicht gefährlicher gemacht. Das ist aber auch gar nicht ihr Ziel.

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Ihr wahres Ziel ist, unsere Wahrnehmung zu verändern. Wenn wir uns unsicherer fühlen, auch wenn wir es gar nicht sind, dann haben sie gewonnen. Die gute Nachricht ist: Wir müssen dieses Spiel nicht mitspielen. Wir müssen keine 2,5 Millionen Euro ausgeben, nur um der ganzen Welt zu zeigen, wie viel Angst uns ein abgehalfterter Loser wie Anis Amri eingejagt hat.

Sollen wir die Gefahr also einfach ignorieren, oder was?

Ja, genau! Es heißt doch immer, dass wir "uns dem Terror nicht beugen", dass wir uns nicht "unsere Art zu leben" kaputtmachen lassen. Und dann machen wir das:

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Die Befestigungen sind genauso hässlich wie sinnlos

Es ist das Beton gewordene Eingeständnis, dass jeder dahergelaufene Spinner unser Gemeinwesen einfach umkrempeln kann. Wäre es nicht viel besser, solche Anschläge so weit es geht zu ignorieren?

Je weniger Aufmerksamkeit wir Terroristen schenken, desto sinnloser wird ihre Tat – denn die lebt einzig und allein von unserer Aufmerksamkeit. Hier habe ich schon mal geschrieben, warum auch die Medien so wenig über Terroranschläge berichten sollten, wie gerade noch vertretbar ist. Das gleiche gilt genauso für übertriebene Sicherheitsmaßnahmen.

Menschen stehen vor der Treppe, in die die Namen der Opfer eingelassen sind

Die einzige Erinnerung an den Anschlag, die wir brauchen

Die einzige Wirkung, die ein Terrorist erreichen kann, ist die Zielgesellschaft paranoider, furchtsamer, instabiler zu machen. Das haben sie mit der Festung am Breitscheidplatz erreicht. Die Folge:

Die "Schutzmaßnahmen" nützen nur denen, denen Angst immer nützt

Einmal eben den Terroristen, deren Konzept wunderbar aufgeht: Sie können eine Gesellschaft "terrorisieren", die sie im fairen Kampf nie besiegen könnten. Und dann den Leuten, die diese Angst instrumentalisieren, um Hass gegen Fremde zu schüren:

Ein AfD-Pakat, dass die Aufbauten thematisiert, dazu der Spruch:
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Das Ergebnis: mehr Angst, mehr Hass, mehr Rassismus, mehr Ausgrenzung und mehr Wut.

Natürlich ist das reine Spekulation, aber im Extremfall führt diese Spirale dazu, dass sich mehr Menschen radikalisieren und für Anschläge rekrutieren lassen. Dann hätten die Sicherheitsmaßnahmen nicht nur das Unsicherheitsgefühl gestärkt – sondern die echte Unsicherheit.

Was sollen wir denn sonst tun?

Als Privatmenschen: das Getöse ignorieren, einfach weiterleben. Als Staat: die 2,5 Millionen Euro nächstes Jahr einfach direkt in die Sicherheitsbehörden investieren. Damit die mehr Ressourcen haben, um Gefährder im Auge zu behalten und bei Bedarf unschädlich zu machen.

Ich weiß nicht, wie man die Gefahr von terroristischen Anschlägen zu hundert Prozent abschalten kann, wahrscheinlich ist das unmöglich. Aber ich weiß, dass diese Bollwerke nichts tun, um uns sicherer zu machen. Eher im Gegenteil.

XXX

Die alte Dame, die es vorher so eilig gehabt hatte, tauchte nach ein paar Minuten plötzlich doch noch einmal vor mir auf. "Was ich noch sagen wollte: Ich werde mir doch von dem ganzen Zeug hier nicht die Freiheit kaputt machen lassen!" Dazu wedelte sie energisch mit dem Zeigefinger. "Ich nicht!" Dann machte sie kehrt und verschwand wieder in der Menge, den Finger immer noch in der Luft.

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