Ich habe meinen Schlaf gehackt, um mehr vom Leben zu haben
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Ich habe meinen Schlaf gehackt, um mehr vom Leben zu haben

Schlafen kannst du, wenn du tot bist.

Nach einem Monat Kaffee-, Alkohol- und Zigarettenabstinenz hatte ich es im Winter 2011 endlich geschafft, meinen Schlaf zu hacken: Ich hatte meinem Körper beigebracht, mein tägliches Schlafpensum in zwei Phasen aufzuteilen. Denn ich wollte nicht länger um 1 Uhr ins Bett fallen, um mich dann morgens pünktlich, aber trotzdem todmüde aus dem Bett zu quälen, noch schnell drei Tassen Kaffee zu trinken und den Vormittag total verpeilt im Vorlesungssaal zu verbringen. Ich entschied mich also, das auszuprobieren, was von einer erstaunlich großen Online-Community von Schlaf-Probanden als „biphasischer Schlaf" bezeichnet wird: Die erste Schlafphase erfolgt hierbei von Mitternacht bis 4:30 Uhr, und von Mittag bis halb zwei legt man ein weiteres kleines Nickerchen ein.

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Im Internet versprach man mir, dass ich mich großartig fühlen würde, stets frisch, wach und produktiv und mit einem Zeit-Überschuss von drei Stunden, die ich auf vorbildliches, fleißiges Arbeiten und Lernen verwenden könnte. Wahrscheinlich würde ich ein Buch schreiben, einfach nur um die Zeit rumzukriegen.

Doch eines Morgens stellte ich fest, dass ich mir selbst ein Bein gestellt hatte. Ich war so fasziniert von dem Gedanken gewesen, meinen Schlaf zu hintergehen, dass ich dabei ganz vergessen hatte, zu überlegen, was ich denn mit all der zusätzlichen Zeit anfangen würde. So saß ich also einsam und allein in meiner stillen Studentenwohnung, starrte aus dem Fenster in eine stockfinstere Novembernacht hinaus und machte mir schon Sorgen, wie ich es später pünktlich von der Uni zurück nach Hause schaffen sollte, um meine obligatorischen 90 Minuten Mittagsschläfchen zu halten. Und ich überlegte, wie viele Zigaretten ich wohl bis dahin rauchen könnte, ohne meinen mir hart erarbeiteten Rhythmus dadurch zu sehr zu stören.

Kurze Zeit später warf ich meinen biphasischen Schlafzyklus über Bord. Ich musste feststellen, dass ich zu einem ausgeruhten, aber auch einsamen urbanen Einsiedler mutiert war. Ich fühlte mich wie ein Versager, doch von der Neugierde getrieben klickte ich mich im Internet durch die Erfolgsgeschichten anderer Schlaf-Hacker. Wer waren diese Leute, die jahrtausendealte Verhaltensmuster für ein wenig mehr Zeit aufgaben? Was machten sie damit? Und warum fiel es ihnen so viel einfacher, als mir?

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Meine Gefühl des Scheiterns wurden nicht gerade geringer, als ich mich mit dem /r/polyphasic-Redditor Juanito Taveras über seine Schlafgewohnheiten unterhielt. Sein Schlafmuster, das sich Dual-Core 1 nennt, besteht aus einer nächtlichen Schlafphase von dreieinhalb Stunden, nochmal 90 Minuten bis zwei Stunden Schlaf vier Stunden später und aus einem 20-minütigen Schläfchen um die Mittagszeit. Insgesamt liegt er damit also bei rund fünf bis fünfeinhalb Stunden Schlaf—und spart gegenüber den acht Stunden, die er früher „monophasisch" geschlafen hatte, eine Menge Zeit.

Zum Schluss reichten uns pro Tag tatsächlich nur zwei Stunden Schlaf aus. So viel Zeit zum Lesen, Lernen und Filme gucken zu haben war fantastisch.

Doch der wahre Unterschied zwischen seinen und meinen Erfahrungen ist, dass Juanito mit seiner zusätzlichen Zeit einfach viel mehr anfangen konnte, statt wie ich nur mürrisch aus dem Fenster zu schauen.

„Ich bin schon immer sehr effizient gewesen", teilte er mir viel bescheidener mit, als es sich hier vielleicht anhören mag. „Ich habe schon immer viel gelesen, ich spiele viele Instrumente, ich bin Programmierer, ich mache Filme. Schlafen war in meinen Augen schon immer reine Zeitverschwendung."

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„[Vor meiner Zeit als polyphasischer Schläfer] war ich überall als der Typ bekannt, der immer müde war", erzählte er. „Ich blieb immer lange auf und schaute mir Filme an oder baute Dinge zusammen. In der Schule schlief ich dann aber ein. Eines Tages stieß ich bei YouTube auf ein Video, in dem von polyphasischem Schlaf die Rede war und wusste sofort, dass ich das ausprobieren musste!".

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Juanito fackelte nicht lange. Der heute 20-jährige Student begann bereits in der Oberschule, mit extremeren Schlafensmustern zu experimentieren—den berüchtigten Uberman Schlafrhythmus mit eingeschlossen. Dieser heilige Gral aller Anhänger des zeitsparenden Schlafs erlaubt täglich nur sechs Mal je 20 Minuten Schlaf. Je nach Verfassung bleiben einem, wenn man diesen Zeitplan rigoros einhält, täglich sage und schreibe 22 Stunden Zeit zur freien Verfügung. Oder man endet als unter Schlafentzug leidender Zombie.

An seine Zeit mit Uberman, die scheinbar eine Explosion gebündelter Energie war, erinnert sich Juanito aber gerne zurück: „Ich habe tolle Erfahrungen gemacht", sagt er über den Zeitplan, den er damals drei Wochen lang zusammen mit einem Freund eingehalten hat. „Zum Schluss reichten uns pro Tag tatsächlich nur zwei Stunden Schlaf aus. So viel Zeit zum Lesen, Lernen und Filme gucken zu haben war fantastisch."

Juanito begann mit dem polyphasischen Schlaf, um mehr Zeit für seine kreativen Beschäftigungen zu haben, Brandon Parkers Beweggründe hingegen waren um einiges dringlicher, und seine Schlafgewohnheiten waren deutlich pragmatischer.

„Ich hatte lange Zeit Probleme mit dem Einschlafen und auch Schlafstörungen", erzählte mir Brandon, ein 19-jähriger /r/polyphasic Redditor. „Jetzt arbeite und studiere ich parallel. Ich könnte zwar beides [auch mit normalem Schlafrhythmus] schaffen, aber es wäre um einiges schwieriger… Auf einer Website über polyphasischen Schlaf habe ich ein paar Beiträge gelesen und dachte mir‚ das muss ich ausprobieren".

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Der Schlafzyklus, den Brandon nun schon seit einem Jahr befolgt, heißt Everyman-4. In diesem Zyklus schläft er nachts viereinhalb Stunden und tagsüber zwei Mal je 20 Minuten. Seit der Umstellung haben sich Brandons Schlafstörungen in Luft aufgelöst. Netter Nebeneffekt: Er hat nun viel mehr Zeit für seine Hobbies wie Zeichnen, Gitarre spielen und Videospiele.

„Ich bin dadurch um einiges produktiver", sagt er. „Es fühlt sich natürlicher an…Selbst wenn ich nicht studieren würde oder keine Arbeit hätte, die ich miteinander koordinieren müsste, würde ich diesem Zeitplan folgen."

Die Versprechen des polyphasischen Schlafs klingen verlockend. Geschichten wie die von Juanito oder Brandon sind typisch für Online-Communities wie /r/polyphasic. Unter all den Erfahrungsberichten konnte ich jedoch kaum Diskussionen darüber finden, was man alles opfern muss, um den Zyklus einzuhalten. Ich dachte an die vielen Male zurück, die ich meine Pläne verwerfen und zuhause bleiben musste, weil mein neues Schlafmuster noch zu fragil war. All die vor Begeisterung strotzenden Beiträge betrachtete ich nach meiner Erfahrung eher skeptisch—sie wirkten auf mich eher wie die unrealistischen Wundermittel-Anzeigen in meinem Spam-Ordner. Wenn polyphasischer Schlaf tatsächlich so gut funktioniert, warum machen es dann nicht längst alle? Und warum konnte ich es nicht durchziehen?

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„Es kann gut sein, dass manche Leute nur eine bestimmte Anzahl an Stunden schlafen und danach fit genug sind, um zu arbeiten und kreativ zu sein", so Derk-Jan Dijk, Schlaf- und Physiologieprofessor und Leiter des Sleep Research Centre an der University of Surrey. „Nach vier oder fünf Stunden Arbeit werden sie dann müde, machen ein kurzes Mittagsschläfchen und fühlen sich danach viel besser. All das ist gut möglich. Aber ich würde dennoch definitiv nicht dazu raten, dass deswegen jetzt alle diesem polyphasischen Schlafmuster folgen."

Wie Dijk erklärt gibt es aus der wissenschaftlichen Perspektive einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Aufteilen der acht Stunden Schlaf in mehrere Stücke und dem zeitsparenden, polyphasischen Schlafen, das Juanito und Brandon befürworten. Die polyphasischen Schläfer sind im Grunde nichts weiter als Versuchskaninchen, und Dijk rät, die Schlafumstellungen mit Vorsicht zu genießen.

„Aus der Sicht der Schlafregulierung stehen Schläfer wie Juanito und Brandon unter höherem Druck, einzuschlafen", sagt er. „Die Epidemiologie legt jedoch nahe, dass eine kurze Gesamtschlafdauer—also weniger als fünf, sechs Stunden—mit negativen Gesundheitsauswirkungen wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder schlechterer Immunfunktion einhergeht. Es ist aber bislang noch völlig unklar, ob sich die Schlafreduzierung längerfristig negativ auf die Gesundheit auswirkt. Es gibt auf jeden Fall noch keine Daten, die das Gegenteil belegen. Ich würde [diese Schlafmuster] niemals empfehlen."

Dijks Einschätzungen stehen im krassen Gegensatz zu den Erfahrungsberichten, die ich von Juanito, Brandon und anderen gehört habe. Doch seine Ausführungen erklären auch nicht, warum die beiden weiterhin erfolgreich damit fahren, während ich nach kurzer Zeit aufgeben musste. Die Liste berühmter Persönlichkeiten, die zumindest für eine gewisse Zeit als polyphasische Schläfer lebten, ist lang: Kafka; Ellen MacArthur; Churchill… Aber all diese Persönlichkeiten hatten ja auch etwas mit ihrer Zeit anzufangen; Bücher mussten geschrieben, Welten umsegelt und Kriege geführt werden. Ohne solcherlei Ansprüche kommt es früher oder später sicherlich zu Problemen im sozialen Leben, wenn man seine Freunde, Familie und die restliche monophasische Welt scheinbar grundlos vernachlässigt.

„Klar kann polyphasischer Schlaf deinem Sozialleben schaden", gibt Juanito zu. „Es wird empfohlen, früh schlafen zu gehen, so zwischen 22 und 2 Uhr—und das ist natürlich die Zeit, in der die meisten Menschen rausgehen und feiern wollen. Ich lasse das sein. Ich trinke kaum Alkohol, so dass ich mich an meinen Zeitplan halten kann. Es beeinträchtigte mein soziales Leben also schon in gewissem Maße, doch gleichzeitig erlaubte es mir, gute Noten zu haben, viel Musik zu spielen, viel zu lesen und Sport zu treiben."

„In Bezug auf das Sozialleben muss jeder für sich ein Gleichgewicht finden", stimmte Brandon zu. „Vor allem in der Gewöhnungsphase muss man sich gut an die Zeiten halten, sonst klappt es nicht. Sobald man eine gewisse Routine hat, kann man je nach Plan etwas flexibler sein. Man muss aber Kompromisse eingehen: Wenn du gerne lange aufbleibst oder viel feiern gehst, musst du bereit sein, das einzuschränken. Das ist schon ein großer Nachteil."

Plötzlich geht es mir schon um einiges besser. Jetzt weiß ich, dass meine Entscheidung, das biphasische Schlafen aufzugeben kein Versagen war, sondern dass ich mich damit für einen bestimmten Lebensstil entschieden habe. Zwar habe ich keine Bücher oder Gedichte verfasst, aber nicht, weil ich nicht konnte, sondern weil ich stattdessen lieber Zeit mit meinen Freunden verbringen wollte. Und wenn ich ehrlich bin, dann gefällt mir dieses verschlafene Leben voll uneingeschränkter Kontaktmöglichkeiten und bescheidener Errungenschaften, für das ich mich entschieden habe, ziemlich gut.