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Cyber-Gotteskrieger wollen Sotschi angreifen

Wir haben uns mit Anonymous Caucasus unterhalten, um herauszufinden, warum sie mit Hacker-Methoden gegen die Olympischen Spiele und für ein kaukasisches Emirat kämpfen.

Anonymous Caucasus beim Verlesen ihrer Botschaft. Via YouTube

Der einst beschauliche Kurort Sotschi an der kaukasischen Schwarzmeerküste wird ab morgen zum Austragungsort der zweiundzwanzigsten olympischen Winterspiele. Und wenn es nach dem Hacker-Kollektiv Anonymous Caucasus geht, dann wird es auch die Kulisse einer neuen Cyber-Front in ihrem Kampf gegen den russischen Staat. Bis jetzt fanden ihre Aktionen vor allem im Verborgenen statt, doch die Olympiade bietet ihnen die glanzvolle Bühne, auf die sie lange gewartet haben.

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Während die USA vor Zahnpasta-Bombern warnen, und die verschiedensten Organisationen Sotschi für ihren Protest gegen Homophobie, Korruption oder Umweltzerstörung nutzen wollen, haben die selbsterklärten Cyber-Mudschahedin angekündigt, mit tatkräftigen Hacker-Aktionen die Spiele und den Alltag der russischen Gesellschaft zu sabotieren. Wir haben Anonymous Caucasus kontaktiert, um mehr darüber herauszufinden, warum sie meinen, mit virtuellen Attacken gegen die Olympiade kämpfen zu müssen.

Das Hacker-Kollektiv hat sich dabei keinen harmlosen Gegner ausgesucht—aber wie sie uns erzählten, wird Allah sie vor dem mächtigen russischen Geheimdienst FSB beschützen. Sotschi wird während der Olympiade von einem engmaschigen Überwachungsnetz abgedeckt sein, dem keine auch noch so private SMS oder E-Mail der internationalen Athleten entgehen wird. Der FSB benutzt die Überwachungsprogramme SORM 1, SORM 2 und SORM 3 um wortwörtlich die gesamte Telefon-und Internetkommunikation sowie Unmengen von Metadaten aller Besucher der olympischen Spiele aufzuzeichnen.

Anonymous Caucasus: Protest gegen den Genozid an den Tscherkessen. Via Facebook.

Als wir vor einigen Monaten unsere Recherche zu Sotschi und zu russischen Online-Aktivisten begannen, stießen wir immer wieder auf Warnungen vor potentiellen Cyber-Angriffen seitens oppositioneller Gruppen. Die russischen Medien und einige regierungfreundliche IT-Experten warnten—so abenteuerlich das auch klingen mag— vor „Gay-Hackern“ oder „Mudschahedin-Hackern“. Für unsere Ohren klangen diese formelhaft beschworenen Warnungen eher nach regierungstreuer Propaganda.

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Doch schließlich stießen wir auf den kaukasischen Ableger von Anonymous—ein Hacker-Kollektiv, das tatsächlich schon mehrere Operationen gegen den russischen Staat erfolgreich durchgeführt hat und konnten dank der Hilfe kaukasischer Aktivisten einen Kontakt zu der Gruppe aufnehmen, die die Guy Fawkes Maske im Sinne ihres Kampfes umgedeutet haben.

Am 1. Oktober haben Anonymous Caucasus fünf der größten russischen Banken zum Absturz gebracht: die Zentralbank der russischen Föderation, die Sberbank, die Alfabank, die VTB und die Gazprombank. Als Reaktion versuchte das renommierte IT-Sicherheitsunternehmen Kaspersky Lab, das im Auftrag der russischen Regierung arbeitet, diese Attacken auf sich abzulenken, um die Banken zu schützen. Zur Strafe brachten Anonymous Caucasus auch das Kaspersky Lab zum Absturz.

Als weitere Beispiele für erfolgreiche Attacken können die Hacker von Anonymous Caucasus mehrere Angriffe auf regierungstreue Webseiten in Inguschetien vorweisen. So erfolgte der Angriff auf Pravitelstvori.ru und Ingushetia.ru als Reaktion auf die Drohung der inguschetischen Regierung, sie werde Häuser von Muslimen abreisen, aus denen heraus Mudschahedin in ihrem Kampf unterstützt werden. Eine weiteren Attacke richtete Anonymous Caucasus gegen den russlandfreundlichen Nachrichtenblog Kavkazpress—dessen Nutzer und Administratoren von dem Hacker-Kollektiv de-anonymisiert und der Öffentlichkeit preisgegeben wurden. Als Begründung für ihre Tat veröffentlichten Anonymous Caucasus folgendes Statement:

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„Dieser Blog ist durchsetzt von russischen Agenten, die das unbeugsame kaukasische Volk demoralisieren und mit der Propaganda der russischen Invasoren vergiften. Wir haben während unseres Angriffs 10 GB vertraulicher Daten erbeutet, darunter viele Telefonnummern und private E-Mails.“

Unser Kontakt zu Anonymous Caucasus ergab sich zu Beginn dieses Jahres, als die Gruppe aktiver in der Öffentlichkeit auftreten wollte, vor dem Hintergrund der beiden Anschläge in Wolgograd, bei denen mehr als 34 Menschen ums Leben kamen. Natürlich entbehrt es nicht der Ironie, das sich hinter der grinsende Maske von Guy Fawkes, die mit der Aktion gegen Scientology zu einem Symbol der globalen Anarcho-Bewegung von Anonymous wurde, nun auch Hacker verstecken, die sich ganz offen zu ihren religiös-nationalistischen Motiven bekennen.

Stilsicher veröffentlichten Anonymous Caucasus auf ihrem YouTube-Kanal mehrere Bekennervideos zu ihren Angriffen. Eines ihrer neusten Machwerke siehst du hier:

30.12.2013 Operation Pay-Back Sotchi: Skiing on Mass-Graves. Via YouTube.

Pay-Back Sotchi ist die jüngste Operation von Anonymous Caucasus. Darin kündigt das Hacker-Kollektiv die Sabotage der olympischen Spiele in Sotschi an. Aus einem Kommuniqué, das uns die Gruppe Mitte Januar zuspielte, erfuhren wir etwas über die Gründe des geplanten Vorhabens—dort heißt es:

„Seit mehr als 150 Jahren wird unser Land von der russische Armee und der russische Regierung okkupiert. Die Aggressoren nehmen uns unsere Freiheit und lähmen unser gesellschaftliches Leben. Sie verbieten uns die Ausübung unserer Religion—des Islams. Seit 1864 hat unser Volk mehr als 2 Millionen Menschen verloren. Unsere Väter und unsere Söhne vegetieren in russischen Gefängnissen. Und warum? Weil sich unser Land unter einer russischen Okkupation befindet und weil die Russen einen Krieg gegen den Islam führen. Sie hassen uns! Sie wollen unser Land und sie wollen unsere Geschichte auslöschen!“

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Das Jahr 1864 bildete den Höhepunkt im russisch-kaukasischen Krieg: Damals wurde die Volksgruppe der Tscherkessen in der Gegend um Sotschi zusammengetrieben und deportiert, viele wurden aber auch auf brutalste Weise ermordet, und zwar ausgerechnet dort, wo ab Freitag die olympischen Bob-und Rodelwettbewerbe stattfinden werden—auf Russisch heißt dieser Ort „Krasnaja Poljana“, was man als „rote Lichtung“ übersetzen kann und was schon mit dem Namen an das vergossene Blut der dort getöteten Tscherkessen erinnert.

Gnadenlose analoge Kriegsführung während des russisch-kaukasischen Krieges. Gemälde von Alexandr Koslow via Wikimedia Commons.

Heute noch ist umstritten, ob die Ereignisse von 1864 als Genozid am tscherkessischen Volk anzusehen sind. Für die russische Regierung hat ein solcher Völkermord nie stattgefunden und nur wenige Staaten haben ihn als geschichtliches Ereignis anerkannt. In Deutschland berichtete der NDR und die Zeit über den vergessenen Genozid am tscherkessischen Volk und international macht sich die Aktivistengruppe NoSotchi2014 mit ihrer Kampagne KnowSotchi für Aufklärung und einen Boykott der Spiele stark.

Für uns stellte sich daher die Frage: Ist Anonymous Caucasus ebenfalls eine Gruppe von Aktivisten, die die Scheinheiligkeit der russischen Regierung und der olympischen Spiele anprangern will? Wir haben nachgefragt:

Motherboard: Gegen wen richtet sich euer Cyber-Krieg?

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Anonymous Caucasus: Unser Cyber-Krieg gegen Russland ist ein Spiel, bei dem wir nicht scherzen. Unser Krieg gegen Russland ist unsere Antwort auf die Besetzung unseres Landes und auf die Ermordung von 2 Millionen Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Unsere Operationen werden die Russen an ihrer Macht zweifeln lassen und sie das Fürchten lehren.

Der Krieg im Kaukasus dauert bereits mehr als 200 Jahre, doch dieser Konflikt spielt in den heutigen Massenmedien überhaupt keine Rolle. Anonymous Caucasus hat sich dazu entschlossen, einen Cyber-Krieg gegen Russland zu beginnen. Wir wollen, dass alle Massenmedien und Journalisten von unserem Kampf erfahren.

Die Gleichgültigkeit der Massenmedien ist erschreckend—die Russen wollen unser Land. Aber wir wollen den Russen zeigen, dass der Kaukasus sich nicht nur auf den Schlachtfeldern zur Wehr setzen kann, sondern auch im Internet. In diesem Kampf geht es um Daten und am Ende werden wir die schmutzigen Geheimnisse der Russen aufdecken!

Warum Sotschi?

Sotschi ist das Land, auf dem der Genozid am tscherkessischen Volk verübt wurde. Die russische Regierung will diesen Genozid vor der Öffentlichkeit verschleiern. Die Regierung spricht von der Versöhnung und der Gleichheit des russischen und des tscherkessischen Volkes, dabei behandeln sie uns wie ihre Sklaven.

Habt ihr etwas geplant während der Spiele?

Wir werden während der Olympiade von Sotschi Aktionen durchführen. Unser Ziel ist es, allen Besuchern und berichtenden Massenmedien die Wahrheit zu offenbaren. Wir haben viele Wege, um die russische Regierung daran zweifeln zu lassen, ob sie in Zukunft noch einen Fuß in das Land unserer Väter setzen möchte. Wir werden der ganzen Welt zeigen, dass wir Revolutionäre sind und dass Russland unser Feind ist. Während der olympischen Spiele wird die russische Regierung auf der Lauer liegen, das wissen wir sehr genau.

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Die Photoshop-Fähigkeiten zur Visualisierung ihrer Angriffe auf russische Großbanken sind noch ausbaufähig.

Unsere Angriffe werden unerwartet ablaufen und Chaos stiften. Es wird unmöglich sein, unsere Spuren zurückzuverfolgen. Wenn ihr glaubt, dass die Spiele ohne Probleme ablaufen werden, dann irrt ihr euch. Vieles wird nicht so reibungslos ablaufen, wie ihr glaubt—lasst euch überraschen.

Wohin soll euer Schlachtzug führen? Was macht ihr wenn die Olympiade vorbei ist?

Anonymous Caucasus plant weitere Operationen, die nicht nur auf die olympischen Spiele begrenzt sein werden. Wir planen Attacken für die Zukunft. Unsere Möglichkeiten der Cyber-Kriegsführung wachsen mit jedem Tag und unsere Reihen füllen sich mit Freiwilligen.

DDoS-Attacken sind Teil unseres Cyber-Krieges und Teil der stattfindenden Revolution. Wir lassen nicht nur den Kreml von unseren Attacken wissen, sondern die ganze Welt. Wir schwören, dass wir die Aggressoren nicht in Frieden lassen werden. Wir werden unser Ziel nicht aus den Augen verlieren und bis zum siegreichen Ende kämpfen.

Wie viele seid ihr?

Uns gibt es nicht nur im Kaukasus. Wir sind überall. Ihr fragt euch, wie viele wir sind? Genug um ein Nachrichten-Netzwerk zu bilden und wie ein Massenmedium zu sprechen.

Gibt es nicht andere Lösungen für die Probleme des Kaukasus?

Darauf kann ich nicht antworten. Vielleicht gibt es einen anderen Weg aus dieser qualvollen Situation, aber wir werden die Mittel nutzen, die uns praktikabel erscheinen.

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Was haltet ihr von dem Überwachungssystem des russischen Staates?

Wir machen uns keine Sorgen wegen der konspirativen Vorgänge im Netz. Für uns stellt das keine Bedrohung dar. Wir haben es geschafft, die größten Banken Russlands und das Kaspersky Lab erfolgreich anzugreifen. Damit haben wir unsere Macht demonstriert. Wir wollten eine Botschaft schicken, nicht nur an die russische Regierung, sondern auch an das gesamte russische Volk: Wir können eure Verteidigungslinien durchbrechen!

Habt ihr keine Angst vor dem FSB?

Wir glauben, dass Allah mit uns ist. Er wird uns beschützen. Wir werden auf dem Weg, den er uns gewiesen hat, weiterkämpfen. Und wenn wir auch fallen, so kommen neue Cyber-Mudschahedin, die es unserem Beispiel gleichtun werden. Wir werden das islamische Volk schützen und wir werden für die Befreiung unseres Volkes im gesamten kaukasischen Emirat kämpfen.

"Wenn die Ungerechtigkeit zum Gesetz wird, wird der Widerstand zur Pflicht." Via Twitter.

Ich glaube nicht, dass Anonymous Caucasus mit vielen der anderen Gruppen gleichgesetzt werden kann, die die Scheinheiligkeit der russischen Regierung und der olympischen Spiele anprangern.

Dafür sprechen mehrere Gründe: Zum einen ist es opportun ein gewaltiges Medienereignis für sich zu nutzen—wirklich jeder tut es, so funktioniert nun mal unsere oberflächliche Gesellschaft, die immer dorthin hinschaut, wo es am lautesten und schrillsten zugeht. Das weiß natürlich auch das kaukasische Hacker-Kollektiv. Zum anderen geht es der Gruppe nicht einfach nur um die Spiele, sondern um die Verwirklichung ihres Ziels—die Befreiung Nordkaukasiens von den russischen Invasoren und die Errichtung eines kaukasischen Emirats auf der Basis der Scharia.

Die Spiele in Sotschi sind schon vor Beginn der eigentlichen Wettkämpfe zu einem Medienereignis mit einer geradezu magnetischen Anziehungskraft geworden. Diese bombastischen Spiele übersteigen alle bisher dagewesen Olympiaden in gleich mehreren Dimensionen. Schon allein ein Blick auf die Kosten dürfte das verdeutlichen—während die Spiele von Salt-Lake-City, Turin und Vancouver zusammengenommen etwas mehr als 15 Milliarden Dollar gekostet haben, kostet das Großereignis in Sotschi bereits jetzt mehr als 50 Milliarden Dollar.

Doch diese unglaubliche Summe, die auf eine grassierende Korruption zurückzuführen ist, ist nur ein Grund für das mediale Interesse. Im Vorfeld der Spiele wurden unzählige Anwohner der Region per Gesetz enteignet, umgesiedelt oder einfach nur verjagt. Ströme von Gastarbeitern wurden aus dem südlichen Kaukasus und Zentralasien eingeführt, nur um systematisch ausgebeutet zu werden. Und die einzigartige Natur einer südtropischen Region wurde für die Veranstaltung von Winterwettkämpfen (!) rücksichtslos umgestaltet.

Daher sind die olympischen Spiele von Sotschi—wie fast alle sportlichen Großereignisse dieser Dimension—scheinheilige Inszenierungen der Macht. Für dieses Argument gibt es unzählige historische Beispiele oder hat jemand die Spiele von Berlin 1936 vergessen, um nur ein Beispiel zu nennen. Anonymous Caucasus wendet sich gegen die pompöse Inszenierung der russischen Staatsmacht in Sotschi und sie erinnern uns an das Verbrechen von 1864—das sind wichtige Punkte des gesellschaftlichen Widerstandes.

Doch die Argumentation des Hacker-Kollektivs deckt sich in vielen Punkten mit der Rhetorik der islamistischen Organisation „Kaukasus-Emirat“—einer paramilitärischen Untergrundarmee, deren Oberhaupt der international gesuchte Terrorist Doku Umarow ist. Doku Umarow war es auch, der 2007 die Gründung eines Emirats im Nordkaukasus ausrief. Einige Journalisten haben daher die begründete Vermutung geäußert, dass das „Kaukasus-Emirat“ auch die Verantwortung für die Anschläge in Wolgograd trägt. Die Gelehrten des kaukasischen Scharia-Rats haben diese Anschläge jedenfalls als gerechtfertigt anerkannt.

Anonymous Caucasus ist eines dieser seltsamen post-modernen Phänomene einer globalisierten Welt. Sie sind die Klone einer anarchisch geprägten Bewegung, die das Internet als die Verwirklichung von Freiheit ansieht und sich gegen den Allmachtsanspruch der Machteliten unserer Gesellschaft—seien es nun Unternehmen, Regierungen oder Geheimdienste—zur Wehr setzt. Andererseits sind sie auch Kinder einer kriegszerrütteten Region, die sich nach einer verlorengegangenen Identität zurücksehnt. Die Frage ist, ob man diese Identität durch einen Cyber-Krieg gegen einen übermächtigen Gegner erkämpfen kann?