Christel und ihre beiden Kinder sitzen mit ihren Gästen am Tisch und essen zu Abend; die 52-Jährige Belgierin hat über einen Zeitraum von 18 Monaten über 50 Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen
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Christel hat über 50 Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen

Trotz steigender Kosten und widerwilliger Polizei hat die 52-jährige Belgierin ihre Tür für Menschen in Not geöffnet.
Clara Montay
Brussels, BE

Die 52-jährige Christel aus Brüssel hat eine außergewöhnliche WG: Über einen Zeitraum von 18 Monaten hat sie über 50 Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen. "Wenn neue Leute hier ankamen, duschten sie zuerst ausgiebig. Dann wuschen sie ihre Wäsche, aßen etwas und legten sich schließlich schlafen", erzählt sie. "Manchmal schliefen sie zwei Tage durch, weil sie vorher fünf Nächte kein Auge zubekommen hatten." Die Kosten dafür hat sie – mit Ausnahme einiger Spenden von Freunden und Familie – selbst gestemmt.

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Da sie mit ihren beiden eigenen Kindern zu Hause lebte, musste Christel ein System ausarbeiten, damit kein absolutes Chaos entstand. So schliefen die Gäste auf Luftmatratzen im Erdgeschoss und hingen zusammen im Wohnzimmer ab. Christel hielt in einem ihrer Küchenschränke immer zusätzliche Grundnahrungsmittel bereit, damit die Migranten selbst kochen konnten. Viele von ihnen waren anfangs noch verschlossen, tauten mit der Zeit aber immer mehr auf. "Wir saßen zusammen am Esstisch und kommunizierten so gut es ging mit Handzeichen", erzählt Christel. "Manchmal wurde das richtig lustig. Und es fühlte sich immer natürlich an."

Christel fing 2018 an, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Sie verteilte in einem Camp im Brüsseler Maximilianpark Essen und Schlafsäcke. Dabei wurde sie von der örtlichen NGO Plateforme Citoyenne gefragt, ob sie nicht einige Migrantinnen und Migranten bei sich zu Hause aufnehmen könne. Christels Kinder waren davon erstmal nicht begeistert.


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Schließlich entschied Christel, für eine oder zwei Nächte pro Woche zwei Geflüchtete aufzunehmen, die auf dem Weg nach Großbritannien waren. Weil das gut lief, wurde sie gefragt, ob noch drei weitere Menschen in ihrer Wohnung unterkommen könnten. "Letztendlich blieben Woadosa, Ibrahim und Salomon – einige meiner ersten Gäste – dann für längere Zeit", sagt sie.

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Die meisten Geflüchteten, die bei Christel Unterschlupf fanden, kamen entweder aus Äthiopien oder Eritrea und waren – wie Christels Kinder – zwischen 16 und 29 Jahre alt. "Viele von ihnen waren gläubige Christen, die viel beteten", sagt Christel.

Fünf Migrantinnen und Migranten liegen auf Luftmatratzen und Decken auf dem Boden eines Wohnzimmer

Christels Gäste in ihrem Nachtlager

Christel erzählt, sie habe vor allem positive Erfahrungen gemacht. Es sei aber auch manchmal schwierig gewesen, zum Beispiel wenn zu viele Anfragen nach Obdach kamen. "Einmal saßen an Weihnachten plötzlich sieben Geflüchtete bei mir zu Hause. Das waren einfach zu viele", sagt sie.

Christels Hilfsbereitschaft wurde immer teurer. Ihre Wasserrechnung stieg auf 1.000 Euro im Jahr und ihre Stromrechnung auf 240 Euro pro Monat. "Das war schon viel. Und ich bekam ja keine Unterstützung von den Behörden", sagt sie. "Trotzdem haben wir immer einen Weg gefunden." Freunde unterstützen Christel bei den täglichen Besorgungen oder gaben ihr Geld. Dazu brachten die Läden in ihrer näheren Umgebung oft übriggebliebene frische Lebensmittel bei ihr vorbei.

Irgendwann musste Christel aber die Notbremse ziehen. Ihre Telefonnummer wurde in Migrantengruppen weitergegeben und es standen immer mehr Leute ohne Ankündigung von ihrer Haustür. "Wir hatten als Familie keine Zeit mehr für uns", erzählt Christel. "Finanziell und psychologisch gesehen wurde es einfach zu viel."

Vier Geflüchtete posieren fröhlich vor einem Brüsseler Wahrzeichen

Elisa de Pieri, eine Forscherin bei Amnesty International, sagt, Menschen, die wie Christel Migranten helfen, seien durch die Erklärung zu den Menschenrechtsverteidigern von 1998 geschützt. Diese Erklärung verpflichtet Staaten dazu, Menschenrechtsverteidigern ein sicheres und befähigendes Umfeld zu schaffen. Also Menschen, die sich gewaltfrei für Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzen. Dennoch würden einzelne Personen und Organisationen, die Geflüchteten helfen, oft zum Ziel von Gesetzen gegen illegale Migration, sagt de Pieri.

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Solche Gesetze sind eigentlich gegen Menschenhändler gedacht, aber in der Praxis werden sie auch gegen Leute eingesetzt, die nur helfen wollen. Vor allem seit 2016, als die Stimmung kippte, sagt de Pieri. Einem aktuellen Amnesty-International-Bericht zufolge wurde zwischen 2015 und 2018 gegen mindestens 158 Menschen und 16 NGOs ermittelt, die illegale Migration gefördert haben sollen. In einem Bericht der Plattform Open Democracy ist im gleichen Zeitraum sogar von 250 Fällen die Rede, die meisten davon in Italien, Griechenland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Dänemark und Spanien. 

"Und der Trend ist mit Sicherheit nicht rückläufig", sagt de Pieri. 

2002 versuchte die EU mit einer Richtlinie namens Facilitator's Package bereits existierende Gesetze gegen Menschenhandel in verschiedenen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Darunter fällt auch der Schutz von humanitärer Unterstützung, was aber nur sehr vage definiert ist. In anderen Worten: Hilfe für Migrantinnen und Migranten ist zwar in allen EU-Staaten gesetzlich verankert, sieht aber in jedem Land anders aus.

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Die meisten Leute, die auf Grundlage der Gesetze gegen Menschenhandel strafrechtlich verfolgt wurden, halfen Migranten an den Landesgrenzen. Italien ist zum Beispiel rechtlich gegen Rettungsboote von NGOs vorgegangen. Frankreich hat Freiwillige sogar verurteilt, die Migranten an der alpinen Grenze zu Italien geholfen haben. In den Bergen kommt es besonders im Winter häufig zu Unfällen – manche gar tödlich. Zwar wurden die meisten dieser Urteile erfolgreich angefochten, aber die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung bleibt bestehen.

"Wir als Gesellschaft vergessen leider oft, in welcher Notlage sich Migrantinnen und Migranten befinden."

Der Bericht von Amnesty International enthält auch Zwischenfälle, bei denen Leute zum Ziel der Behörden wurden, die Geflüchteten, die sich schon länger im Land befanden, Essen und ein Dach über dem Kopf gaben. NGOs in der französischen Küstenstadt Calais haben zwischen November 2017 und Juli 2018 zum Beispiel fast 650 Fälle von polizeilicher Einschüchterung aufgezeichnet. Darunter finden sich unberechtigte Durchsuchungen, Bußgelder wegen Falschparkens, Ausweiskontrollen und in 37 Fällen sogar körperliche Übergriffe.

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In der Schweiz wurde der Pastor Norbert Valley zu einem Bußgeld von umgerechnet rund 900 Euro verurteilt, weil er einem Mann aus Togo Essen und eine Unterkunft bereitgestellt hatte. Und Ende Februar 2021 wurde gegen zwei ältere Italiener ermittelt, die Migranten geholfen haben, die angeblich von der kroatischen Polizei verletzt wurden.

Auch Christel hatte laut eigener Aussage ein unangenehmes Aufeinandertreffen mit den Behörden. "Einmal wurde ich mit Ibrahim im Auto angehalten. Wir wollten sein Mobiltelefon in einer Polizeiwache in Antwerpen abholen, die Beamten hatten es konfisziert", sagt sie. Die Polizei würde bei Kontrollen oft die Handys, Jacken und Schuhe von Migranten mitnehmen, zum Großteil ohne Erklärung, so Christel.

Auf der Polizeiwache habe man Christel dann vorgeworfen, Menschenhandel zu betreiben, und sie stundenlang verhört. Außerdem sollen die Beamten den Zugriff auf ihr Handy verlangt haben. Schließlich schaffte Christel es, die Situation zu klären. Nachdem sie und Ibrahim gehen durften, soll die Polizei aber noch einen letzten Versuch gestartet haben, Ibrahim den Namen von einem seiner Schmuggler zu entlocken. Dafür sollen ihm legale Papiere als Gegenleistung angeboten worden sein. "Das war klarer Machtmissbrauch", sagt Christel.

De Pieri glaubt, dass die EU-Institutionen dennoch Fortschritte machen. Im Dezember 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren neuen Pakt über Migration und Asyl. Darin steht, dass die Seenotrettung nicht kriminalisiert werden sollte. "Leider ist das Ganze nicht rechtlich bindend", sagt de Pieri, "aber es ist immerhin eine offizielle Interpretation davon, wie die Richtlinie umgesetzt werden sollte." Das bedeutet, dass sich die Staatsanwaltschaften in EU-Ländern daran orientieren sollen, wenn ein entsprechender Fall verhandelt wird.

Christel sagt, sie sei froh darüber, dass sie helfen konnte – und dass sie es wieder tun würde. "Wir als Gesellschaft vergessen leider oft, in welcher Notlage sich Migrantinnen und Migranten befinden", sagt die 52-Jährige. "Das ist erschreckend. Und abscheulich."

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