„Graue Dinge leuchten wie Kristalle“: Mein Leben mit Synästhesie

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„Graue Dinge leuchten wie Kristalle“: Mein Leben mit Synästhesie

Dem Künstler Jack Coulter ist es möglich, Farben zu hören. Jetzt versucht er, seine Sinneseindrücke auf die Leinwand zu bringen.

‚Celexa' | Alle Bilder: bereitgestellt von Jack Coulter

Als Kind war selbst so etwas Banales wie das Betrachten des Himmels ein fluoreszierendes Erlebnis. Ich weiß noch, wie ich eines Tages allein in meinem Zimmer saß und mir mein eigener Herzschlag in Farben vor den Augen tanzte. Das Ganze war ultraviolett—wie der Lichtschein, der von einer Schwarzlichtlampe ausgeht.

Ich habe eine eigentümliche Form der Synästhesie—deswegen fallen meine Symptome auch sehr unterschiedlich aus. Das dominanteste Anzeichen ist jedoch meine Fähigkeit, Farben hören zu können. Dieses Phänomen trägt auch die Bezeichnungen Chromesthesia oder Geräusch-Farben-Synästhesie. Ich sehe alles bunt schillernd: Wenn ich mich überwältigt oder überstimuliert fühle, dann erscheinen Farben vor meinen Augen. In anderen Worten: Wenn ich etwas Schönes erblicke, während ich gute Musik höre, dann sehe ich Farben, die im Rhythmus tanzen und herumwirbeln. Das Ganze mutet wie ein grün-, blau- und rotschimmerndes Feuer an.

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Meine Synästhesie ist ein konstanter Strom des visuellen Vergnügens: Selbst die langweiligsten und grauesten Objekten strahlen wie Diamanten oder Kristalle. Ich kann das Ganze auch in keinster Weise steuern. Selbst wenn ich schlafe, erscheinen mir Farben. Wenn es nachts heftig regnet, dann habe ich immer den gleichen Traum. Wenn ich die Regentropfen höre, werde ich von Farbformationen umgeben, die im Takt des Trommelns pulsieren. Synästhesie ist eine sehr intime und persönliche Erfahrung: Teile davon können sich unglaublich sexuell anfühlen—so wie das überwältigende Gefühl, wenn man sich in eine andere Person verliebt.

Das psychoanalytische Ventil der abstrakten Kunst war eine willkommene Befreiung.

Es ist schwer, Leuten ohne Synästhesie zu erklären, um was genau es sich dabei handelt, denn man kann gar nicht alle einzelnen Feinheiten beschreiben. Das Ganze ist ungefähr so, als würde man einer von Geburt an blinden Person erzählen wollen, wie die Welt aussieht.

Das Erwachsenwerden war für mich nicht einfach. Ich dachte immer, dass meine Farbhalluzinationen nur Tagträume wären. Für Kinder ist doch sowieso alles neu und deswegen habe ich nie etwas gesagt. Ich war schüchtern und habe mich oft zurückgezogen, um allein zu sein. Das mache ich auch heute noch.

‚Conscivit'

Ich fühlte mich verloren. Meine Lehrer fanden keinen Zugang zu mir. In der Schule konnte ich mich nie konzentrieren und auch niemandem erklären, was ich da sah. Zu meiner Abschlussfeier bin ich gar nicht erst hingegangen. Ich fing auch schon sehr früh an, mit Drogen zu experimentieren, und machte im frühen Teenageralter das durch, was die meisten Erwachsenen während ihrer Midlife-Crisis erleben—also das Ausfüllen einer Leere sowie eine Art Selbstfindung. Mit 12 Jahren bin ich dann fast an einer schlimmen Alkoholvergiftung gestorben. Die Ärzte meinten, dass ich mich glücklich schätzen könnte, noch am Leben zu sein. So etwas zu hören, war für meine Familie nicht gerade leicht.

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Dann entdeckte ich jedoch die Kunst für mich. Meine Tante war eine Künstlerin und meine Mutter hatte ihre abstrakten Drucke überall in unserem Haus aufgehängt. Ich weiß noch, wie ich als Kind zu einer ihrer Ausstellungen gegangen bin. Ich konnte ihre Bilder hören. Sie war es auch, die mich zum Malen gebracht hat. Das hat mein Leben verändert, denn ich konnte nun endlich ausdrücken, was ich sehe, höre und fühle. Das psychoanalytische Ventil der abstrakten Kunst war eine willkommene Befreiung. Einen Tag vor Beginn meines Kunststudiums beging meine Tante dann Suizid. Bis heute ist sie meine größte Inspirationsquelle.

Als feststand, dass bei mir neurologisch gesehen etwas anders läuft, ergaben viele Dinge für mich plötzlich Sinn. Selbst so einfache Sachen wie meine Kopfschmerzen konnte ich mir nun durch sensorische Überlastung erklären.

‚Narcotic'

Meine Dozenten an der Kunsthochschule meinten immer zu mir, dass ich anstatt abstrakter Werke erstmal etwas konventionellere Kunst erschaffen sollte. Ich wollte mich jedoch nicht einschränken lassen. Jetzt habe ich meinen Abschluss in der Tasche und nutze meine Garage als Arbeitsplatz. Ich habe das Gefühl, mich endlich richtig ausdrücken zu können. Ich versuche, alle meine Erfahrungen—egal ob visueller oder hörbarer Natur—auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Wenn ich die Musik höre, die beim Malen in meinem Kopf erklingt, dann hebt das die Erfahrung noch mal auf ein ganz anderes Level und ich sehe, wie sich die Farben vor meinen Augen hin- und herbewegen.

Motherboard: Inzwischen brauchst du für alle Farben nur noch einen Stift

Meine Kunst ist ein solch persönlicher Ausdruck meines Zustands, dass es sich schon irgendwie überwältigend anfühlt, wenn ich meine Werke öffentlich ausstelle. Vor Kurzem hat mich eine junge Frau kontaktiert und mir erzählt, dass sie im Internet auf meine Kunst gestoßen sei und sie durch meine Bilder vom Suizid abgehalten worden wäre. Als ich mir ihre Nachricht durchlas, zog sich in mir alles zusammen, denn sie brachte einige schmerzhafte Erinnerungen zurück.

Ich bin jetzt 21 Jahre alt und fühle mich mit meinem seltenen neurologischen Phänomen endlich glücklich. Der Gedanke an ein Leben ohne Synästhesie macht mir Angst. Ich lebe in Farbe und werde in Farbe sterben.

Mehr von Jacks Arbeiten findest du auf seiner Homepage.