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"Donald Trump ist der grösste Anarchist!"

Wir haben Experten gefragt, wo Anarchie heute im Schweizer Alltag zu finden ist.
Alle Fotos von Nadja Brenneisen

"Anarchie! Fakten und Fiktionen" klingt nach einer spannenden Ausstellung. Ich machte mich mit meiner Begleitung also auf den Weg ins Literaturmuseum Strauhof zur Vernissage. Wir kamen gerade rechtzeitig an, um noch zwei Bier zu Eröffnungsrede zu schmarotzen, dann stand auch schon Jürg Halter am Rednerpult. Die Rede wird auf dem Platz vor dem Museum gehalten, rechts von Halter steht der Schriftzug "James Joyce Corner" an der Wand—zusammen mit dem Rednerpult schaut die Szenerie aus wie ein Jahrmarkt-Stand. Trotz der Anarchie in allen Köpfen wird kaum um Stühle gestritten, die grosse Mehrheit steht in respektvollem Abstand im Halbkreis um den Dichter.

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Halter ist gewohnt inszenierend—das Thema, sich selbst, die Gedanken der Zuhörer. Mehr als einmal fühle ich mich ertappt, als er das ausspricht, was mir gerade durch den Kopf geht. Diverse Institutionen scheinen die Rede jedoch mittels Zufällen verhindern zu wollen: Erst steigt die Technik aus,—Halter lässt sich nicht beirren und macht halt ohne Mikrofon weiter. Dann beginnen die Glocken zu läuten—nicht irgendein Läuten, nein; das "Sibni läuten", bei dem es nicht darum geht, eine Anzahl an Glockenschlägen zu absolvieren, was jedes andere Glockenläuten erträglich und irgendwie sinnvoll macht. Das "Sibni Läuten" dauert einfach eine mir bis heute unbekannte Weile und bedient sich auch mehr (wenn nicht aller verfügbaren) Glocken als das übliche Läuten.

Jürg Halter gibt sich erst kämpferisch, ertrinkt dann aber mit resigniertem Blick in den Klangwellen dieses religiösen Anachronismus. Wir warten gehorsam bis die Kirche sich ihren Raum genommen hat. Derweil kämpfen sich edel gekleidetete Damen zwischen 40 und 70 durch die Menge. Sie kehren von der Shopping-Jagd in der Bahnhofstrasse heim und schauen etwas fragend um sich, während sie sich an uns vorbeizwängen.

Die Glocken verstummen zaghaft, die Rede geht weiter. Halter steht auf einer Festbank, während er die Mutlosigkeit der gegenwärtigen Kunst anprangert. Dieses Mal fliesst kein Blut. Ich hatte eine Rede über tragisch gescheiterte anarchistische Versuche oder sogar Erfolgsgeschichten erwartet, stattdessen geht es im Endeffekt um die Panama Papers und um Zug. Ja, den Kanton Zug. Zug der klitzekleine Kanton, der den anarchistischen Finanzmärkten und deren Vasallen durch seine eigene Gier ausgeliefert ist und nun in Geiselhaft gefangen gehalten wird. Der verfilzte kleine Kanton, der viel zu arm ist um sich mit den ganzen Grosskonzernen, die er beheimatet, noch brüsten zu können. Was Zug erlebt, ist wenig mehr als fiskales Sklaventum—soviel bleibt zumindest bei mir hängen: Zug zwischen den Zähnen der Bestie Glencor.

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Die Rede findet dort in etwa ihren Höhepunkt, die Menge ist begeistert, Halter wieder entspannt und die Ausstellung eröffnet. Die Szenerie löst sich auf und wir machen uns daran, uns von den hier versammelten Experten, die alle einen Beitrag an die Ausstellung geleistet haben, erklären zu lassen, wo die Anarchie im Alltag zu finden ist.

Prof. Dr. Urs Marti

Prof. Dr. Urs Marti ist Titularprofessor für für Politikwissenschaft, Teilgebiet Politische Philosophie

Im weitesten Sinne gibt es fast nur Anarchie: Es gibt die Anarchie der Märkte, der Unübersichtlichkeit, es gibt die Anarchie des Strassenverkehrs und es gibt überall verzweifelte Bemühungen, diese Anarchie zu regulieren und zurückzudämmen.

Ich würde sagen, die meisten Menschen haben durchaus das Bedürfnis nach Ordnung und Autorität—insofern ist der natürliche Zustand des Menschen nicht die Anarchie. Es gibt zudem ein Problem in unserem alltäglichen Sprachgebrauch; Wenn wir sagen "das ist die totale Anarchie!", dann nutzen wir den Begriff der Anarchie als Beschreibung von etwas, das nicht mehr funktioniert oder ungeregelt ist. Diese Beschreibung respektive Wahrnehmung stimmt so nicht unbedingt.

In den USA beispielsweise gibt es die sogenannten Right Wing Libertarian, die wünschen sich eine Gesellschaft ohne Regulierungen. Deren "Anarchismus" ist die totale Absage an den Staat. Sie wünschen sich eine Welt in der nur privates Eigentum und Konkurrenz Regeln setzt. Das kann natürlich nicht auf Dauer funktionieren. Wenn die Anarchie friedlich ablaufen soll, braucht sie Regeln der Solidarität und Reziprozität.

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Man schaue auf Deutschland und die AfD, diese von extrem starken, aggressiven Resentiments getriebene Bewegung, die sich besonders im Osten Deutschlands breit macht. Das sind einerseits Anarchisten, in dem Sinne, dass sie einen demokratischen deutschen Staat eigentlich ablehnen. Andererseits sind sie auch das Gegenteil von Anarchisten in dem Sinn, dass sie ausnehmend autoritätsgläubig sind.

Donald Trump ist allerdings der grösste Anarchist. Ich bin überzeugt, wenn der gewählt wird, hat er nach drei Tagen die Nase voll vom Regieren und überlässt das anderen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer wie Trump regiert, weil das ernsthafte Arbeit und das Bemühen um Kommunikation bedeuten würde.

Antonin Rohdich

Ich habe einen Beitrag an die Ausstellung verfasst; einen Artikel über Selbstverwaltung in Kurdistan. Anarchie im Alltag sehe ich beispielsweise, wenn ich in der Zeitung lese, dass in Deutschland und in Frankreich wieder mehr gestreikt wird als im Vorjahr. Also das kollektive Niederlegen der Arbeit ist das Anarchistische. Dass etwas im Kollektiv getan wird und nicht einfach alleine, ist meiner Meinung nach das zentrale Element der Anarchie. Anarchie ist etwas, das geschaffen werden muss.

Nora Bossong

Nora Bossong ist Buchautorin und Kolumnistin

Ich sehe Anarchie im Alltag überall da, wo Regeln nicht nur aktiv missachtet, sondern auch unbewusst nicht beachtet werden. Das Rauchverbot in Berlin ist da ein passendes Beispiel, das wird an vielen Orten sehr gut umgangen respektive ignoriert. Anarchie ist überall dort, wo die staatliche Vorkehrung, die staatliche Idee, wie wir zu sein haben, nicht befolgt wird. Das Ignorieren spielt hier eine wichtige Rolle, denn sobald ich mich explizit gegen eine Regel wehre, akzeptiere ich sie gewissermassen. Also ich akzeptiere sie als Widerstand. Es geht darum, keine Antihaltung zu den Regeln aufzubauen, sondern eine eigene Haltung unabhängig von den Regeln. Die Abwesenheit von Regeln in jeder Form, insbesondere der durch Herrschaft implementierten Regeln, ist Anarchie.

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Generell ist Anarchie etwas Individuelles. Wenn jemand in einem Restaurant als erster anfängt zu Rauchen, dann ist der ein Anarchist. Derjenige, der das sieht und selber anfängt zu rauchen, ist eigentlich kein Anarchist mehr, sondern beugt sich einfach neuen Regeln. Das ist dann eher ein kollektives Hinterherlaufen. Man denke an den ganzen subtilen Zwang zur Selbstoptimierung beispielsweise. In ein ähnliches Muster fallen meiner Meinung nach die Bestrebungen, gewisse Schamgrenzen zu übetreten, weil es gerade en vogue ist, diesen zu widersprechen. Als Beispiel bietet sich hier der klassische Dreier an, der gewissen monogamen Traditionen und Wertvorstellungen widerspricht aber gleichzeitig steht in Frauenzeitschriften, dass er befreiend wäre. Man befindet sich dann auch im Tabubruch wieder in einem Schafstrott der Selbstbefreiung.

Christian Haller

Christian Haller ist Autor, Dichter und Philosoph

Adrian Turel war ein Schriftsteller und Philosoph, der mich sehr beeinflusst hat. Von ihm habe ich das anarchistische Denken gelernt. Deswegen habe ich über ihn auch meinen Beitrag in der Ausstellung gemacht.

Die Anarchie lebt in meiner Haltung, indem ich verweigere alles bereits im Vorfeld zu definieren und nach einem bestehenden Plan zu verstehen oder mit einer gewissen Absicht zu leben. Es geht darum erst einmal zu spüren, was sich überhaupt zeigen will und auf dieses spontan einzugehen. Es ist ein Immer-wach-Sein und sich die Frage zu stellen: was will der Tag eigentlich mit mir? Dies steht im Gegensatz dazu, immer alles bestimmen zu wollen. Genau hier liegt ein anarchistisches Element, dass man sich die Unabhängigkeit bewahrt von irgendwelchen vorgefertigten Meinungen, kollektiven Strömungen, Fernsehen, Zeitungen—dieser breit ausgewalzten Propaganda, der wir tagtäglich ausgesetzt sind.

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Jürg Halter

Jürg Halter ist Dichter, Denker, Autor und hat die Eröffnungsrede gehalten

Ich sehe Anarchie besonders im Kapitalismus, in den freien, unregulierten Märkten, in diesen demokratiefernen aber dennoch in sie eingebundenen Systemen, etwa in der Steuerpolitik. Aber es ist ein pervertierter Anarchismus.Ich sehe das Bild des romantischen Anarchisten im echten Leben weniger. Wo der Anarchismus existiert, ist er eigentlich gesichtslos und anonym. So gibt es im Internet im weiteren Sinne anonyme Gruppen und Aktivisten, die ich als anarchistisch bezeichnen würde.

Julian Assange oder Edward Snowden sind beispielsweise Anarchisten, sie gehören zu den wenigen guten Anarchisten von denen wir die Gesichter kennen, sie lehnen sich mehr oder weniger selbstlos gegen bestehende, zutiefst ungerechte Herrschaftsordnung auf. Anarchismus ist für mich nicht, wenn ein paar Kids in ihren Nike Edition Sneakers Flaschen auf die Polizei werfen und sich am Tag danach mit ihren FDP-Vätern zum Espresso in einem italienischen Café treffen.

Die Panama Papers sind der bislang offensichtlichste Ausdruck einer pervertierten Anarchie, einer Anarchie, die die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ausschaltet. Dort geht es eben nur um Selbstverwirklichung und nur um Selbstbestimmung ohne Rücksicht auf alle anderen. Trump etwa pervertiert den Begriff der Anarchie, er ist wie eine Briefkastenfirma, er gibt der Gesellschaft nichts zurück, es geht nur um ihn.

Remi Jaccard

Remi Jaccard ist Co-Leiter des Literaturmuseums Strauhof

Für mich ist Anarchie etwas, das im Alltag stattfinden sollte, weil es mehr um eine Haltung geht, als um ein System. Also dass sich jeder darum kümmert, autonom zu funktionieren, und versucht, sich um sich selber und seine Mitmenschen zu kümmern. Konkret geht es darum, dass nicht Regeln bindend sind, sondern der Versuch, die Welt so zu gestalten, dass sie für möglichst viele lebenswert ist. Anarchie soll gelebter Humanismus sein. Für mich lebe ich diese Idee, indem ich mir weniger überlege, was Autoritäten oder das Gesetz zu einer gegebenen Situation sagen, sondern vielmehr mich selbst frage, was denn das Gute wäre.

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Anarchie als Widerspruch in sich bedeutet einerseits gewalttätiges Chaos und andererseits einen wünschenswerten Zustand—und das schliesst sich gegenseitig aus. Das eine ist eine propagandistische Umdeutung der Anarchie, in der man sie als einen Ort versteht, in dem Chaos regiert. Das andere ist der Versuch, den utopisch positiven Zustand zu erreichen, in dem Regeln eigentlich nicht mehr nötig sind. Und von Letzterem sind wir halt noch extrem weit weg.

Am Beispiel des Rauchverbots ist es so: Wenn ich der ganzen Beiz meinen Willen aufzwingen will und einfach anfange zu rauchen, ist das reiner Egoismus. Wenn aber der Beizer und alle anderen Gäste auch rauchen wollen, ist das OK. Egoismus hat nichts mit Anarchie zu tun. Die Basis von Anarchie ist die Vorstellung, dass ein Zusammenleben möglich ist und dass es dem Einzelnen besser geht, wenn es allen besser geht.

Die Ausstellung "Anarchie! Fakten und Fiktionen" findet vom 10.06.2016 bis zum 04.09.2016 im Literaturmuseum Strauhof in Zürich statt.

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Alle Fotos von Nadja Brenneisen