Deichkind machen Smartphone-Sakkos zu den Raver-Westen von morgen
​Bild: Deichkind/ Henning Besser

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Deichkind machen Smartphone-Sakkos zu den Raver-Westen von morgen

Wir haben mit dem Deichkind-Ingenieur gesprochen, der die Ganzkörper-Gadget-Anzüge für die neue Show der Hamburger Band entwickelt hat.

Ingenieure sind die unterschätzten Stars im Kosmos bombastischer Live-Bands: Grateful Dead hatten die ​Joshua Light Show, Miley Cyrus hat eine überdimensionierte Zunge auf die Bühne, ​Emptyset haben die Ionosphäre und Deichkind haben so ziemlich alles am Start, was ein anarchischer Wanderzirkus braucht: Masken, Accessoires, Schwimmringe, einen Schnaps-Tank namens Zitze, eine drehbare Bühne und massig blinkende Kostüme und Requisiten.

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Die aus Konsumschrott erwachsenen Gadgets werden (wenn möglich) auch gerne vom Publikum imitiert: Der ikonische Deichkind-Anzug—bestehend aus einem dreieckigen Hut aus Sixpack-Pappe und einem am Körper getragenen formlosen Gebilde aus Müllsack und Gaffatape—würde auch die Bastel-Brothers mit Stolz erfüllen. Schön und gut, aber nach ausgiebigen Touren auch eines Upgrades bedürftig:

Deshalb haben Deichkind für ihr neues Album noch einmal aufgerüstet. Live und in den Videos tragen sie nun haufenweise leuchtende Handys am Körper, die gemeinsam ein feines, steuerbares Smartphone-Sakko bilden.

Ich musste 200 nagelneue Smartphones ordentlich anschleifen. Mit der Flex.

So ist „Niveau, weshalb, warum" nicht nur voller Referenzen auf Social Media-Aufmerksamkeitsökonomie und allgegenwärtige Gadget-Fetischisierung (keine Angst, intellektuell wird das postmarxistische Seminar wie gehabt als bekömmlicher Proll-Elektro serviert), sondern macht nebenbei auch selbstgemachte Wearable-Bling-Bling-Tech als Raver-Westen des 21. Jahrhunderts salonfähig.

Deichkind sind nicht nur ​die vermutlicht punkigste Punk-Band Deutschlands, sondern mit ihrem sechsten Album mehr denn je auch ein amtliches Kollektiv-Unternehmen mit einer eigenen Werkstatt, einer Lagerhalle voller Spielzeug und nicht zuletzt einem eigenen Ingenieur. (Der moderne Musikmanager-Sprech von ​360-Grad-Deals erfasst diesen Rundumansatz nur mangelhaft.)

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Stefan Hübner darf sich mit dem offiziellen Titel Deichkind-Ingenieur schmücken und hat die neuen, komplett steuerbaren Smartphone-Sakkos entwickelt, die auch im ​Video zu „So Ne Musik" zu sehen sind. Gerne tragen wir dazu bei, Ingenieurskunst in das Licht des Glamours zu rücken und so haben wir gerne die Gelegenheit ergriffen mit Stefan, der momentan mit dem Werkeln für die anstehende Tour vollberuflich ausgelastetet ist, über seinen Smartphone-Hack, die Gadget-Outfits und den Job als Deichkind-Ingenieur zu sprechen.

Wieso habt ihr ausgerechnet Sakkos aus Smartphones entwickelt?

Die Bühnen sind groß, die Performer klein. Zumindest objektiv betrachtet. Also ist uns jedes Mittel recht, um die Blicke durch Kostüme und körpernahe Requisiten auf die MCs und Performer zu richten. Wenn die dann noch leuchten—umso besser!

Angefangen hat es mit den tetraederförmigen LED-Helmen, einer Idee von Henning, unserem Regisseur. Das Konzept sollte auf den ganzen Körper ausgeweitet werden, mit LED-Panels, die flexibel an Armen und Beinen befestigt werden können. Damals musste ich noch mühsam jede Diode einzeln auflöten.

Klettband hält die Welt zusammen. Bild: Deichkind.

Die Smartphones in der Werkstatt bei einer ersten Anprobe. Bild: Deichkind

Wir haben natürlich immer Witze darüber gemacht, statt eigener LED-Module fertige Tablet Computer oder Smartphones zu verwenden. Das ging bis zur Idee eines Bühnenvorhangs, der vollständig aus iPads besteht. Diese Art der Zweckentfremdung des symbolhaften Consumer-Produkts hätte gut zu Deichkind gepasst. Aber finanziell lag das natürlich völlig außerhalb unserer Reichweite.

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Letztllich gab es dann da diesen Kontakt zu einem Smartphone-Hersteller, der netterweise 200 Telefone auf uns herabregnen ließ.

Wie habt ihr die Smartphones dazu gebracht, das zu tun, was ihr wolltet? Kannst du uns ein paar Details dazu erzählen, wie solche interaktiven Leucht-Westen entstehen?

Die Vorgaben waren einfach: Die Telefone sollen leuchten. Und blinken. Und am Körper der Bühnen-Performer befestigt werden. Ich hatte für dieses Projekt das erste mal mit einem Android-Telefon zu tun. Linux sollte kein Problem darstellen, dachte ich mir. Wird schon machen, was ich will— schließlich stecke ich seit '92 im Kernel. Also habe ich erstmal die Software-Seite als trivial abgetan, doch das war etwas voreilig.

Eine Festival-Bühne ist hochfrequenzmäßig so ziemlich das Dreckigste, was es gibt.

Eine App zu entwickeln, die Videos wiedergibt, ist erstmal einfach. Aus mehreren Telefonen einen Gesamtbildschirm zusammenzusetzen, bei dem jedes Telefon seine Position und Orientierung kennt und den passenden Ausschnitt des Videos synchron anzeigt, ist auch nicht so schwer.

Der eigentliche Aufwand entsteht durch die schiere Anzahl an Telefonen: Für jeden Auftritt 200 Telefone laden, einschalten und ausschalten ist eine Menge Arbeit. Wir haben aber mittlerweile ein System entwickelt, das den Aufwand auf einen Bruchteil der Zeit reduziert.

Das nächste Problem war dann, dass wir die Smartphones nicht einfach per Internet ansteuern können. Ein WLAN mit 200 Stationen einzurichten, war dementsprechend auch kompliziert; noch dazu auf einer Festival-Bühne, die hochfrequenzmäßig so ziemlich das Dreckigste ist, was man sich vorstellen kann. Da sind 20.000 Smartphones im Publikum, von denen viele permanent nach ihrem Home-WLAN rufen. Dazu kommen dann noch die Sender der Beschallungstechnik der Fernsehkameras und die im Backstage. Unsere speziell entwickelten Netzwerkprotokolle sind jetzt so robust, dass ein kurzer Funkkontakt alle paar Minuten mehr als ausreicht.

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Und letztlich die Interaktivität: In Smartphones ist soviel 'enhanced user experience' drin, man weiß nie, hinter welcher Ecke einen ein Pop-Up kalt erwischt. Das können wir während der Show nicht gebrauchen. In diesem Bereich war viel Workaround nötig. Ein eigenes, modifiziertes Betriebssystem aufzuspielen oder wenigstens Root-Zugang einzurichten, wäre hilfreich gewesen. Aber da wären wir schon wieder beim Aufwand wegen der Anzahl der Geräte.

Gab es auch Enttäuschungen bei der Entwicklung der Sakkos?

Eine persönliche Enttäuschung war das Kommando zum gleichzeitigen Vibrieren aller 40 Telefone einer Smartphone-Jacke. Das Gefühl hatte ich mir irgendwie spektakulärer vorgestellt.

Wie funktionieren die Anzüge denn technisch genau? Wie werden die Smartphones mit Daten angesteuert?

Die Video-Daten liegen im Telefonspeicher. Über Funk laufen nur die Abspiel-Kommandos. Und auch die können zu Sequenzen gruppiert werden und weit im voraus übertragen werden—sogar bereits vor Beginn der Show.

Wie garantiert ihr, dass die Sakkos auch eine Bühneshow überleben und nicht abfallen, und dass sie für den Bewegungsablauf eines ordentlichen Raves geeignet sind?

Ursprünglich hatte ich einfach ein Kontingent von Reserve-Telefonen eingeplant, falls mal eines abhanden kommt. Daraus wurde aber nichts, denn der Regisseur hat Wind davon bekommen und gesagt: „Wir haben 200 Telefone. Wir zeigen alles. Wir halten nichts zurück."

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Also wurde eine bombensichere Befestigung der Telefone sehr wichtig. Wir haben uns für Klett entschieden, in einer äußerst haftstarken Industrie-Variante. Das telefonseitige Klettband aufzukleben hat sich dann aber als echte Herausforderung entpuppt.

Moderne Smartphones und besonders unser Modell sind extrem schmutzabweisend und kratzfest beschichtet. Kein Klebstoff hält darauf. Auch Anlösen oder eine sonstige chemische Vorbehandlung hat nicht funktioniert. Ich musste 200 nagelneue Smartphones ordentlich anschleifen. Mit der Flex.

Formen mit Smartphones und Anprobe in der Werkstatt. Bilder: Deichkind.

Welcher Ansatz ist Einstellungskriterium, um als Deichkind-Ingenieur arbeiten zu können? Steckt ein Konzept hinter deinem und euren technischen Requisiten-Design?

Wir machen immer sehr viel selber: Elektronik, Software, die Konstruktion in unserer eigenen Holz- und Metallwerkstatt. Und wir—das heißt der Regisseur, das Werkstatt-Team und ich—sind bei allen Auftritten dabei.

Dadurch haben wir viel besser im Gefühl, auf was wir uns während der Show verlassen können, was eher schiefgehen könnte, und was wir reparieren oder umkonstruieren müssen; gerne auch ganz entspannt bei laufender Show auf der Bühne. Das gibt uns eine enorme Betriebssicherheit, obwohl wir die Tour ausschließlich mit Prototypen im Gepäck beginnen.

Oft gilt: Lieber zwei halbfertige Projekte auf der Bühne als ein vollendetes.

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Die Konzertbesucher mögen das zwar bestimmt dann und wann bemerken, aber so etwas fügt sich bei Deichkind eben nahtlos in die Performance, in die Musik und in die Geschichte ein.

Der Do-It-Yourself-Gedanke und die Zweckentfremdung von Gegenständen steckt bei uns oft bereits in der Idee, und ich werde gelegentlich gebeten, sie mit den Werkzeugen eines Ingenieurs zu realisieren.

Eine andere Variante der Zweckentfremdung von Objekten tritt auf, wenn zur Realisierung schlicht Ideen, Zeit, Geld und klare Vorgaben fehlen. In dem Fall wird die Arbeitsweise geändert, man tauscht das detailverliebte Hinarbeiten auf Spezifikationen gegen eine hocheffiziente Nachlässigkeit. Oft gilt: Lieber zwei halbfertige Projekte auf der Bühne als ein vollendetes.

Bild: Henning Besser / Deichkind.

An was arbeitest du außerhalb von Deichkind?

Zur Zeit absorbiert mich Deichkind vollständig. Aber außerhalb der Show-Entwicklungsphasen versuche ich immer, mir mit Aufträgen aus der Industrie eine gewisse Balance zur Entertainment-Branche herzustellen.

Meist handelt es sich um Projekte mit einem Gleichgewicht zwischen Mechanik, Elektronik und Software, bei denen ich die freie Wahl meiner Mittel habe.

Was sind noch für DK-Tools und technische Arbeiten in Entwicklung im Zuge des neuen Albums, der Tour oder der Videos?

Für die anstehende Tour erweitern wir zur Zeit unsere selbstfahrende Bühnenkulisse um besondere Tricks. Und es gibt etwas im Bereich des „mechanischen Fernsehens"…

Ich schätze, jedes Stück Deichkind—egal ob auf einem Album oder auf der Bühne—hat als Mittelwert zwei Ebenen mit einer Toleranz von plusminus einer Ebene. Genauer kann ich's beim besten Willen nicht sagen.