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10 Jahre danach: Als der Egomane Kobe Bryant 81 Punkte erzielte

Am 22. Januar 2006 hat die Black Mamba den Raptors 81 Punkte eingeschenkt. Die schier unvorstellbare Leistung wird immer noch ambivalent aufgenommen: Warum konnte Kobe nicht aufhören zu scoren?
Photo by Larry W. Smith/EPA

Im Augenblick selbst fühlte es sich nach einem seltsamen Zusammentreffen von Geschichte und Neuigkeit an. Eine Demonstration aller Stärken und Schwächen von Kobe Bryant, zusammengepresst in ein einziges Spiel. Für seine Fürsprecher war es eine Bestätigung dafür, dass Kobe einer der besten Scorer der NBA-Geschichte ist. Für seine Kritiker war es eine Bestätigung dafür, dass er—um es in den Worten eines Leserbriefs an dieLos Angeles Times auszudrücken—„das perfekte Beispiel eines egoistischen und gereizten Spielers" ist. Heute vor genau zehn Jahren, am 22. Januar 2006, erzielte Bryant die zweitmeisten Punkte in einem Spiel aller Zeiten, als er den Toronto Raptors sage und schreibe 81 Punkte einschenkte. Auch heute noch, im tiefen Winter seiner Karriere, hat das Spiel eindeutig etwas von einem Tintenklecks-Test (Ihr wisst schon: Was siehst du in seinen 81 Punkten?). Ein Zeugnis der ewigen Diskussionen um Kobe Bryant: Hat er es gemacht, um das Spiel zu gewinnen, oder um sich selbst auf den Olymp zu heben?

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Für seine Karriere war das Spiel auf jeden Fall ein absoluter Schlüsselmoment. Er selbst habe den Abend in einem einzigen „Nebelschleier" erlebt. Als Bryant Anfang der Woche auf das Spiel angesprochen wurde, gab er zu Protokoll: „Ich habe nicht wirklich verstanden, was da gerade vor sich ging. Es war sehr bizarr."

Um das Spiel besser zu verstehen, muss man wissen, was für eine seltsame und komplizierte Zeit das für Bryants Karriere war. Er war 27 und auf dem Höhepunkt seines Schaffens, spielte aber in einer nur mittelmäßigen Lakers-Mannschaft, die im Grunde genommen außer Bryant keinen einzigen Topspieler zu bieten hatte. Shaquille O'Neal hatte dem Staples Center anderthalb Jahre zuvor den Rücken gekehrt. Kobe war noch im Begriff auszuloten, wie er ohne Shaq an seiner Seite spielen sollte. Gleichzeitig war seine Trefferquote seit O'Neals Abschied um neun Punkte pro Spiel gestiegen. Kobe traute seinen Teamkameraden nicht besonders viel zu. Ein Grund dafür, dass Kobe in jener historischen Nacht auf unfassbare 81 Punkte kam, lag an seinem Gefühl, dass er sein Team nur auf diese Weise zum Sieg zu führen könnte. Denn genau das war die Karriere von Kobe Bryant, ein ewiges Konfligieren von Eigeninteresse und dem übergeordneten Wohl seiner Mannschaft.

In den kommenden Monaten wird man vieles über den scheidenden Superstar lesen können. Dabei dreht sich doch fast alles nur um die folgende Frage: Kann man tatsächlich von „Egoismus" sprechen, wenn auf der anderen Seite der Gleichung so viele Erfolge stehen?

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„Ich bin nun mal ein Scorer, egal mit wem ich zusammenspiele", meinte Bryant vor wenigen Tagen. „Ich wollte immer den Korb treffen. Nur war das bei der damaligen Mannschaft deutlich schwieriger."

Am Ende dieser Saison ist finito. Foto: Kyle Terada/USA TODAY Sports

Der Abend begann ganz nach dem Geschmack von Kobe: mit einem äußerst pittoresken Reverse-Layup. Dann sammelte er weiter fleißig Punkte, während seine Mannschaft immer mehr einem Rückstand hinterherrannte. Als im drittel Viertel weniger als neun Minuten zu spielen waren, betrug der Rückstand schon 18 Punkte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kobe 30 Punkte erzielt und war damit in der Nähe seines Saisondurchschnitts von 35,4 Punkten. Eine super Leistung bahnte sich an, aber auch nichts Sensationelles. Und dann passierte es doch. Bryant traf einen Sprungwurf aus sechs Metern, gefolgt von einem Dreier aus acht Metern und einem weiteren Dreier aus acht Metern. Allein im drittel Viertel kam er auf 27 Punkte, was dazu führte, dass seine Lakers mit 91:85 in Front gingen. Jetzt war Bryant sowas von on fire, sodass im letzten Viertel weitere 28 Punkte hinzukamen. In weniger als 42 Minuten traf Bryant 28 von 46 Field-Goal-Versuchen, 7 von 13 Dreiern und 18 von 20 Freiwürfen. Die Lakers gewannen mit 122:104.

Während der gesamten Partie soll Kobe Raptors-Spieler Jalen Rose zufolge kein einziges Wort gesagt haben. Er sprach nicht und er provozierte auch nicht. „Er war angepisst", sagte sein Teamkollege Lamar Odom nach dem Spiel. Es schien also, als habe sich Kobe von einer immensen Wut im Bauch auf ungeahnte Scorer-Dimensionen anheben lassen. Rose hat wiederholt betont, dass die Raptors während des gesamten Spiels mit einer 1-2-2-Zonenverteidigung gespielt haben. Außerdem soll Torontos Headcoach, Sam Mitchell, darauf verzichtet haben, Bryant zu doppeln, um seiner Mannschaft eine Lektion zu erteilen. Das behauptet zumindest Rose. Wie dem auch sei, Kobe nahm das Geschenk dankend an und fraß die Raptors bei lebendigem Leibe.

„Das Spiel zeigt, dass alles möglich ist", meinte Bryant Anfang dieser Woche. „Wenn man als Kind Basketball spielt, hat man große Träume. Und selbst wenn diese Träume extrem unrealistisch ist, trainiert man weiter und gibt nicht auf. Weil man daran glaubt, dass Abende wie damals gegen die Raptors tatsächlich passieren können."

Ein Jahrzehnt später gibt es in Bezug auf Kobe noch immer unbeantwortete und vielleicht auch nicht beantwortbare Fragen. Beispielsweise, wie er als Spieler und als Person zu bewerten ist und wo genau er unter allen vergangenen NBA-Göttern einzuordnen ist. Ist seine Wahrnehmung als unbiegsamer Workaholic und Control-Freak unterm Strich etwas Positives oder etwas Negatives?

„Herzlichen Glückwunsch, Kobe Bryant", konnte man diese Woche in einem Leserbrief an die Los Angeles Times lesen. „Nicht nur, dass er die Messlatte im Sport nach oben gerückt hat, er hat sie gleich komplett weggeschmissen. Dank ihm erwartet man jetzt bei High-School- und College-Football-Teams, dass gegen schwächere Mannschaften gleich im ersten Saisonspiel 1.000 Yard Raumgewinn nichts Unmögliches sind!"

Auch wenn die Kritik natürlich an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt sie doch perfekt das Paradoxon um Kobe Bryant auf. Denn selbst der beste Abend seiner Karriere steht gleichermaßen für Kobes unnachahmliche Brillanz sowie für einen ausgeprägten Egoismus, der einen solchen Meilenstein überhaupt erst möglich gemacht hat.