In der Schule erwischten sie ihn mehrmals mit Gras. Einmal wurde er für zwei Wochen suspendiert, ein anderes Mal kurz in eine guamische Jugendstrafanstalt geschickt. Joe war nicht begeistert, dass sein Stiefsohn kiffte, zumal noch zwei jüngere Kinder im Haus waren: Leonard, Arlenes Sohn aus einer früheren Beziehung, und Matua, Joes und Arlenes 2008 geborener Sohn. "Wir versuchten es mit Auszeiten", sagt Joe. "Er bekam Hausarrest, Verbote, kein Taschengeld mehr. Nichts funktionierte." Joe, ein stämmiger Mann mit rasiertem Kopf, führt Johnathans mangelnde Disziplin vor allem darauf zurück, dass er ohne Vater aufwuchs. Doch könnte dessen Abwesenheit auch ein Segen gewesen sein: Sein leiblicher Vater hat eine lange Liste von Vorstrafen, viele davon wegen Gewalttaten, und Arlene hatte wohl ihre Gründe, warum sie ihn verließ, als Johnathan sechs war.Dann kamen der Umzug nach Maui und das Feuer. Die Kaution wurde auf 20.110 Dollar festgelegt, weit mehr, als die Familie zahlen konnte. Johnathan kam zur Untersuchungshaft ins Maui Community Correctional Center. Da sich Arlenes Dienstplan mit den Besuchsstunden im Gefängnis überschnitt, konnte sie ihn nur ein paar Mal im Monat sehen. Meist sagte er, es sei alles gut, und erzählte von Mitinsassen, die er seine "Freunde" nannte. Johnathan neigte dazu, alle Menschen als Freunde zu sehen. Einmal jedoch brach er in Tränen aus. "Er hatte Angst, wollte mir aber nicht sagen, wieso", sagt Arlene.Johnathan Namauleg wanderte vom Gefängnis auf Maui in zwei weitere Vollzugsanstalten. Die Wärter stuften ihn als "leichte Beute" ein, weil er die geistige Reife eines Kindes habe und seine geringe Körpergröße ihn angreifbar mache.
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Einige Anhaltspunkte liefert der Erstbericht einer Bewährungshelferin, die Mitarbeiter des Gefängnisses befragte. Ihr zufolge wurde Johnathan Borderline-Intelligenz diagnostiziert. Diese milde Form der Intelligenzminderung kann die Gewöhnung an neue Umgebungen erschweren. Sowohl Johnathans Lehrer im Gefängnis als auch ein Pädagoge äußerten "große Besorgnis"; der Pädagoge schätzte Johnathans nie offiziell getesteten IQ auf höchstens 70. Beide empfahlen einen Umzug in eine betreute Wohngemeinschaft für Erwachsene mit Entwicklungsstörungen.Andere Gefängnismitarbeiter erzählten der Beamtin, Johnathan sei wegen seiner "begrenzten kognitiven Fähigkeiten und fehlenden emotionalen Reife" für andere Häftlinge "leichte Beute". Wie sie notierte, wurde er "vermutlich von anderen Insassen schikaniert, seiner Lebensmittelrationen beraubt, etc." Viermal wurde er wegen Selbstmordgefahr unter Beobachtung gestellt. Wie er später den Wachen sagte, behauptete er nur, er wolle sich schneiden, weil er aus Angst vor seinen Mitinsassen in eine Einzelzelle wollte. Bei seiner Entlassung war er sichtlich traumatisiert. Als die Beamtin sich ihm näherte, um ihm ein Dokument zum Unterzeichnen zu geben, "schreckte er zurück, als rechne er damit, geschlagen zu werden"."Eine Inhaftierung des Angeklagten könnte eine unzumutbare Härte darstellen", schloss sie in ihrem Bericht. Sie empfahl, die Anklage auf die leichteste Form von Brandstiftung zu reduzieren und Johnathan fünf Jahre Bewährung zu geben. Das Gericht stimmte zu. Am 18. Januar 2013 kam Johnathan nach 183 Tagen frei, zu den Entlassungsbedingungen gehörten regelmäßige Alkohol- und Drogentests.
Arlene schickte ihren Sohn umgehend wieder auf die Maui High. Im Verlauf der nächsten Monate bemühte er sich in der Schule trotz seiner Konzentrationsprobleme so sehr wie nie zuvor. Im Frühjahr begegnete Arlene beim Einkaufen einer Sonderpädagogin ihres Sohns. Diese lobte Johnathan als wunderbaren Jungen, der im Unterricht sehr hilfsbereit sei. Arlene strahlte eine Woche lang. Im Mai war es so weit: Jonathans Abschluss. Zusammen mit ihrer Mutter fuhr Arlene zur Zeremonie auf dem Footballfeld der Maui High. Joe kümmerte sich zu Hause um das abendliche Festmahl: Reis, Grillhühnchen, Spareribs und Kuchen. Johnathan bekam ein Zeugnis für "Community Based Instruction", ein Programm, das Schüler mit Behinderungen auf ein eigenständiges Leben vorbereiten soll. In seinem schicken blauen Talar und dem Barett war er ein einziges aufgedrehtes Energiebündel."Ich bin so glücklich und nervös", sagte er im Auto. "Ich kann nicht fassen, dass ich es geschafft habe."Auch für Arlene war sein Abschluss eine große Sache. Daheim hatte sie sich Aufgaben und gemeinsame Projekte ausgedacht, um ihn im Auge zu behalten. Sie hatte seine Hausaufgaben kontrolliert, mit seinen Lehrern gesprochen, ihn Dutzende Male an wichtige Termine erinnert. Sie sagte ihm nie zwei Dinge hintereinander – er vergaß sonst beide. Als ihr Sohn endlich sein Zeugnis in die Hand bekam, fiel ihr ein Stein vom Herzen."Wenn wir mit ihm in Arizona telefonierten, hat Johnathan immer als Erstes gesagt, wie sehr er sich auf seine Schwester freut", erzählt Arlene. Maisa kam 15 Tage nach Johnathans Tod zur Welt.
Im September musste Johnathan wegen Verstoßes gegen seine Bewährungsauflagen für 30 Tage ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung postete er ein Foto auf Facebook, mit umgedrehter Basecap und breitem Grinsen. Seine Freiheit währte nur kurz. Knapp einen Monat darauf landete er wieder hinter Gittern, weil er einen Drogentest versäumt hatte. Er blieb für sechs Monate inhaftiert, bis der Richter Joseph E. Cardoza im Juni 2014 seine Bewährung aufhob. "Sie scheinen ihr Drogenproblem nicht mehr im Griff zu haben", sagte er Johnathan. "Wenn das passiert, gerät alles aus dem Ruder. Sie haben ernste Probleme, an denen Sie arbeiten müssen." Cardoza verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft.Johnathan kam zunächst in ein Gefängnis auf Maui, wurde aber im Juli in die Halawa Correctional Facility auf Oahu verlegt. Halawa ist das größte Gefängnis in Hawaii, aber bei weitem nicht groß genug. Es wurde für 586 Insassen entworfen, doch im Monat vor Johnathans Eintreffen lebten dort 1.124. Aber Halawa war nur eine Zwischenstation. Zwei Monate später begann er einen Brief an Arlene mit seiner üblichen Einleitung: "Ich vermisse euch so sehr, wie geht's euch, lang nicht gesehen." Dann eine Überraschung: "Mom, stell dir vor, ich bin in Arizona."Jason McCormick litt unter Halluzination und unternahm mehrere Selbstmordversuche. Schließlich wurde bei ihm eine schizoaffektive Störung diagnostiziert.
Er verzierte seine Briefe nach Hause mit Kreuzen und schrieb Arlene: "Du glaubst es nicht, aber ich wurde gerade von Jesus Christus getauft. Ich bin jetzt Christ."
Zuletzt lebend gesehen wurde Johnathan von dem Wärter K.C. Hathaway. Der 38-Jährige arbeitete seit drei Jahren in Saguaro. Er wunderte sich, dass Johnathan und McCormick in eine Zelle kamen, da Johnathan "aufgedreht" wirkte und McCormick sehr still war. Er wusste weder, dass man McCormick bereits von einem Zellengenossen getrennt hatte, noch dass er seine Medikamente abgesetzt hatte. Als Hathaway um 17:37 Uhr in die Zelle schaute, lag Johnathan auf dem oberen Bett und wirkte, wie Hathaway später der Polizei sagte, "fröhlich". Er habe "scherzhaft nach einem Bestellformular für den Gefängnisladen gefragt". McCormick stand still in der Zellenmitte. Hathaway fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, McCormick nickte und Hathaway ging weiter. Um 18:02 Uhr betätigte McCormick internen CCA-Berichten zufolge den Notfallknopf der Zelle, außerdem um 18:08 Uhr und ein drittes Mal um 18:11 Uhr. Der erste Ruf dauerte 5 Sekunden, der zweite 13 und der dritte 6. Die Wärterin Aisha Hobson, die eigentlich Dienst im Kontrollraum hatte, sagte der Polizei später, sie habe an jenem Abend keinen Notruf aus der Zelle erhalten. Dies könnte darauf hinweisen, dass sie entgegen ihrer Behauptung gar nicht im Kontrollraum war. 2014 räumte die CCA ein, Akten in einem Gefängnis in Idaho gefälscht zu haben, um nicht besetzte Sicherheitsposten besetzt erscheinen zu lassen. Letztes Jahr schrieb Shane Bauer für Mother Jones einen Bericht über seine viermonatige Tätigkeit als Wärter in einem CCA-Gefängnis in Louisiana. Dort wurde er Zeuge, wie Beamte "regelmäßig Sicherheitskontrollen eintrugen, die gar nicht stattgefunden hatten".Um 18:13 Uhr drückte McCormick den Notfallknopf ein viertes Mal. Er erreichte Hugo Guerrero, der gerade den Kontrollraum betreten hatte. McCormick sagte, sein Zellennachbar benötige ärztliche Hilfe. Mehr als 12 Minuten nach McCormicks erstem Notruf schickte Guerrero mehrere Wärter los, darunter Hathaway. Als das medizinische Personal eintraf, war Johnathans Gesicht blau angelaufen. Sie begannen mit den Wiederbelebungsmaßnahmen, während Wärter McCormick Handschellen anlegten. Auf die Frage, warum er nicht früher um Hilfe gerufen habe, sagte er: "Ich habe es versucht."Die Polizei in Eloy brauchte für ihre Ermittlungen in Johnathans Todesfall sechs Wochen. In Hawaii sind die Ermittlungen auch ein Jahr später noch immer nicht abgeschlossen. Derzeit erfolge "eine Prüfung durch die zuständigen Behörden", ein Termin für eine Bekanntgabe der Ergebnisse steht nicht fest. Shelly Nobriga ist beim hawaiischen Department of Public Safety für öffentliche Informationsanfragen zuständig; offiziell ist sie "Koordinatorin für Rechtsstreitigkeiten". Einen Monat nach Johnathans Tod forderte ich von der Behörde interne Untersuchungsberichte zu vier früheren Vorfällen in CCA-Gefängnissen mit Häftlingen aus Hawaii. In zwei Fällen ging es um plötzlich aufgehende Türen; bei den anderen um die Morde an Clifford Medina und Bronson Nunuha. Einige der Dokumente zu den Zellentüren seien möglicherweise vernichtet worden, sagte Nobriga. Andere wiederum seien vielleicht in einem Aktenschrank in einem Raum eingeschlossen, der einzige Schlüsselbesitzer sei im Urlaub, das Datum seiner Rückkehr ihr nicht bekannt. Die Akte zu Medina könne sie nicht freigeben, aus "Regierungsinteresse und zum Schutz der Privatsphäre von Zeugen". Auch im Fall Nunuha könne sie nichts tun, weil in Arizona noch das Strafverfahren gegen seine mutmaßlichen Mörder ausstehe.Also änderte ich meine Anfrage. Nach jedem Mord hatte Hawaii ein Ermittlungsteam nach Arizona geschickt. Ich forderte dessen Berichte an. Was hatte es zum Geschehen ermittelt? Wer war verantwortlich? Wie ließen sich derartige Todesfälle zukünftig verhindern? Nobriga rief einen Monat später an: Das Team habe keine Berichte erstellt. "Sie haben bestimmt mündlich berichtet", sagte sie mir. "Aber schriftlich haben sie nichts festgehalten."Blieb nur noch die CCA. Laut ihrem Vertrag mit Hawaii müssen "interne Ermittlungsberichte" nach einem Vorfall an den Bundesstaat freigegeben werden. Ich forderte alle CCA-Berichte zu den Morden an Nunuha, Medina und Johnathan an. Nobriga erwiderte, Hawaii habe keine CCA-Berichte. Ich fragte nach einer Liste der abgeschlossenen CCA-Fälle zu Häftlingen in Saguaro. Laut Vertrag muss die CCA alle sechs Monate eine solche Liste an Hawaii übergeben. In Hawaii gibt es keine solche Liste. Ich fragte nach Dienstplänen, aber die werden Nobriga zufolge nicht aufbewahrt."Es ist erstaunlich, wie wenig man in Hawaii weiß", sagt Ernest Galvan, ein Anwalt aus San Francisco, der die Familien von Nunuha und Medina vertreten hat. "Genauso erstaunlich ist, wie wenig man wissen will. Sie beauftragen Kontrolleure, die vor Ort eine Inspektion durchführen und ihre Häkchen im Formular setzen. Fließend heißes und kaltes Wasser, die Lichter brennen. Alles sehr oberflächlich. Man kriegt eine ganze Akte, aber da steht nichts drin."Und selbst die Häkchen sind fragwürdig. 2010 begleiteten Mitarbeiter der staatlichen Rechnungsprüferin Hawaiis die vom Bundesstaat beauftragten Inspektoren bei ihrer Quartalsinspektion in Saguaro. Sie sahen zu, wie die Inspektoren die Aussagen der CCA-Mitarbeiter entgegennahmen, "ohne die Aussagen anhand von Belegen zu überprüfen". Ihr ausführlicher Bericht erklärte, in Hawaii herrsche bei der Überwachung der CCA "ein Mangel an Objektivität".Hawaii unterhält enge Verbindungen zur CCA, oder CoreCivic, wie die Firma seit 2016 heißt. In den letzten 4 Jahren hat sie mehr als 450.000 Dollar in die Lobbyarbeit bei hawaiischen Politikern investiert. Zu den mit 100.000 Dollar am höchsten dotierten Lobbyisten gehörte Douglas Chin. Im Januar 2015 ernannte ihn der hawaiische Gouverneur David Y. Ige zum Generalstaatsanwalt von Hawaii.Im ersten Monat seiner Isolationshaft stand Johnathan 10 Tage unter Beobachtung, weil er davon gesprochen hatte, sich selbst zu verletzen.
An einem kühlen Oktobermorgen packt Arlene vor dem Fernseher Kleidung für ihre bevorstehende Reise. Ihre Tochter Maisa, mittlerweile 14 Monate alt, wackelt durch das Wohnzimmer. "Sie läuft erst seit drei Wochen und hält sich schon für eine Expertin", sagt Arlene. Wie aufs Stichwort fällt ihre Tochter hin und fängt mit dem Gesicht im Teppich an zu kichern.Der Himmel ist grau, es soll noch regnen. Morgen früh werden Arlene und ihre Tochter zu ihrer 14-stündigen, aus drei Etappen bestehenden Flugreise nach Saipan aufbrechen. Arlene will zu Allerheiligen am 1. November dort sein. Sie war schon sechs Jahre nicht mehr auf der Insel, nun wird sie zum ersten Mal Johnathans Grab auf dem katholischen Friedhof von Saipan besuchen. Ihr ältester Sohn Vincent ist bereits früher mit Johnathans Asche nach Saipan geflogen, aber Arlene fühlte sich noch nicht bereit.Die vergangenen sechs Monate hat sie damit verbracht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Nach einigen Monaten zu Hause mit Maisa, in denen sie trauerte, wurde ihr klar, dass sie aus dem Haus musste, um nicht noch tiefer in die Depression zu rutschen. Im April fand sie einen Teilzeitjob als Kassiererin in einer Drogerie, inzwischen ist sie Schichtleiterin. Unter den Kollegen hat sie neue Freunde gefunden. "Ich versuche, immer beschäftigt zu sein", sagt sie. Letzten Sommer hat sie einen großen Bilderrahmen gekauft und zu Johnathans Todestag eine Collage aus Bildern von ihm angefertigt. Groß, in der Mitte: das Foto von Johnathan bei der Abschlussfeier auf Maui. An einer Hand spreizt er den Daumen und den kleinen Finger zur Shaka-Geste, in der anderen hält er das Zeugnis. So möchte Arlene ihren Sohn in Erinnerung behalten: zufrieden und zuversichtlich.In Pinal County, Arizona, sieht sich McCormick für Johnathans Tod einer Mordanklage gegenüber. Er bleibt im Gewahrsam von CoreCivic in Saguaro. Der Staatsanwalt hat Arlene kürzlich gefragt, ob sie sich vor Gericht dafür einsetzen wolle, dass der Mörder ihres Sohns die Todesstrafe bekommt. Arlene lehnte ab. "Ich möchte ihn nicht noch mehr bestrafen", sagt sie. "Er ist krank und braucht Hilfe."Derlei Nachsicht hat Arlene für CoreCivic nicht. Sie hat sich einen Anwalt genommen, der vor Kurzem in Arizona Klage wegen widerrechtlicher Tötung gegen die Firma eingereicht hat. Sie wirft CoreCivic grobe Fahrlässigkeit, Rücksichtslosigkeit und bewusste Gleichgültigkeit in Bezug auf Johnathans Sicherheit vor. Da CoreCivic solche Klagen gewöhnlich außergerichtlich regelt, machte die Firma umgehend ein Angebot, das Arlene ohne Zögern ablehnte. Sie will wissen, was mit ihrem Sohn passiert ist."Ich weiß, dass Johnathan mir von da oben zuschaut", sagt sie. "Eigentlich bin ich eher schüchtern. Aber ich werde ihm zeigen, dass ich das hier nicht einfach hinnehme."Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Investigative Fund des Nation Institute entstanden.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.Arlene will wissen, was mit ihrem Sohn passiert ist: "Ich werde ihm zeigen, dass ich das nicht hinnehme."