Wie das Bundesamt für Statistik Fremdenfeindlichkeit fördert
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Wie das Bundesamt für Statistik Fremdenfeindlichkeit fördert

Das Bundesamt für Statistik zeigt erstmals auf, welche Nationalitäten wie oft verurteilt wurden. Damit spielt es vor allem Rechtspopulisten und Fremdenfeinden in die Hände.

"Erstmals Auswertung der verurteilten Personen nach Nationalität", betitelt das Bundesamt für Statistik (BFS) eine aktuelle Medienmitteilung. In der Auswertung schlüsselt das Amt alle im Jahr 2014 strafrechtlich Verurteilten, die entweder Schweizer sind oder über einen längerfristigen Aufenthaltsstatus verfügen, danach auf, wieviel Prozent einer jeweiligen Nationalität verurteilt wurden. Eine "Kriminalstatistik mit 'Nationalitäten-Ranking'", wie das SRF schrieb.

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Während das BFS die Ergebnisse nach Alter und Geschlecht unterteilt, gehen diese beiden Faktoren in den meisten Medienberichten komplett verloren oder führen ihr Schattendasein in Nebensätzen. Vom Tages-Anzeiger über 20 Minuten bis zum Blick (die drei Schweizer Online-Medien mit den meisten Lesern) findet lediglich die Herkunft und nicht das Alter und das Geschlecht Eingang in die Titel. Das wirft die Frage auf, wieso das BFS—auch mit der Wahl des Titels der Medienmitteilung—seinen Fokus auf die Nationalität legt. Der Tages-Anzeiger bastelte aus den Daten folgendes Balkendiagramm:

Obwohl es diese roten Balken kaum vermuten lassen: Die Wahrscheinlichkeit, kriminell zu werden, wird durch viele Faktoren beeinflusst—kaum aber durch die Nationalität. André Kuhn, Professor für Kriminologie und Strafrecht an den Universitäten Lausanne, Neuenburg und Genf, zeigt in einem Beitrag auf, warum es statistisch gesehen zu einfach ist, Kriminalität auf nur einen Faktor herunterzubrechen. Er zeigt das am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Kriminalität und Körpergrösse auf.

Es sei leicht, aufzuzeigen, dass die meisten Straftaten von Menschen begangen werden, die über 1.75 Meter gross sind—doch sei dieser statistisch korrekte Zusammenhang eben inhaltlich irreführend, da ein Grossteil der Kriminellen Männer seien und Männer nun mal oft grösser als 1.75 Meter sind. Ähnlich verhalte es sich mit der Nationalität, die kaum einen Zusammenhang mit der Kriminalitätsrate habe, wenn man weitere Faktoren berücksichtigt. Er führt an, dass folgende Faktoren in dieser Reihenfolge am meisten Einfluss auf die Kriminalität haben:

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1. Das Geschlecht
2. Das Alter
3. Der sozioökonomische Status
4. Der Ausbildungsstand
5. Die Staatsangehörigkeit (manchmal)

Fasst man die Ausländer zu einer Gruppe zusammen, sei es so, dass sie mehr Männer, mehr Junge, mehr aus der Unter- und der unteren Mittelschicht und mehr schlecht Ausgebildete habe als Schweizer—und darum im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung krimineller seien. Die Nationalität könne dann einen Einfluss haben, wenn die Zuwanderer aus einem Land kommen, das sich im Krieg befindet. Die Gewalt des Krieges könne bewirken, dass sich diese Menschen enthemmt fühlen.

Auch der Berner Soziologieprofessor Ben Jann betont in einem Interview mit der NZZ, dass zwischen Schweizern und Ausländern kaum Unterschiede bezüglich Kriminalität bestehen, wenn man den Einfluss der Bildung, der beruflicher Stellung und der familiären Situation berücksichtigt.

Das BFS macht in zwei Sätzen seiner zweiseitigen Medienmitteilung und im angehängten Methodenbericht darauf aufmerksam, dass die Realität doch nicht ganz so einfach ist, wie es der Titel seiner Medienmitteilung vermuten lässt: "Ein kausaler Zusammenhang zwischen Nationalität und straffälligem Verhalten wird aber damit nicht belegt. Viele Faktoren wie beispielsweise das Wohlstands- oder Bildungsniveau, die das Verhalten der Personen beeinflussen, sind aus der Strafurteilsstatistik nicht ersichtlich und werden in den Auswertungen nicht berücksichtigt." Als Titel und Hauptfaktor seiner Statistik wählt das BFS trotzdem die Aufteilung nach Nationalitäten. Wieso impliziert ein Amt mit einer solchen Macht durch die Fokussierung auf die Nationalität trotzdem, dass diese einen so hohen Einfluss auf die Kriminalität hat?

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Auf Nachfrage von VICE antwortet Marius Widmer vom BFS, dass das Amt die wichtigsten Daten nach den zur Verfügung stehenden Variablen ausweise und weitere Auswertungen mache, wenn ein Bedürfnis bei den Statistikbenutzern (zum Beispiel öffentliche Verwaltung, Parlamentarier, Medienschaffende, Wissenschaftler und Studenten) festgestellt werde. Es scheint so, als ob das BFS die Verbindung von Nationalität und Kriminalität neu als "wichtige Daten" ansieht.

Mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das BFS fremdenfeindliche Ressentiments unterstütze, meint Widmer: "Die Neutralität des BFS gebietet es, Daten unabhängig von den zu erwartenden Ergebnissen zu publizieren. Zudem zeigt der Methodenbericht klar die Grenzen dieser Auswertungen auf." Die Verantwortung dafür, wie die veröffentlichten Daten interpretiert werden, scheint das BFS demnach von sich zu weisen.

Eine tiefergehende Antwort auf obige Frage könnte die Politikwissenschaft liefern. Politologen ordnen Wähler und Parteien entlang von Konfliktlinien an. Konfliktlinien sind Merkmale, nach denen sich etwa die politischen Vorlieben von Wählern unterteilen lassen. Das klassischste Beispiel dafür ist wohl der Röstigraben, ein anderes, ob jemand in der Stadt oder auf dem Land wohnt. Gemäss mehreren Politologen positionierten sich die Schweizer Parteien früher stärker entlang einer ökonomischen Konfliktlinie, heute dominiere eine identitäre Konfliktlinie. In weniger akademischen Worten: Früher kämpften die Reichen gegen die Armen, heute wird um eine (schweizerische) Identität gekämpft.

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Die Partei, die von dieser Entwicklung am meisten profitiert und sie auch kräftig vorantreibt, ist die mittlerweile stärkste politische Kraft des Landes: die SVP. Jene Partei, die im Wahlkampfgeplänkel vor etwas über einem Jahr forderte, dass ein grosser Teil der Statistiken des BFS "restlos gestrichen" werden soll.

In einem Dokument beschreibt das BFS einen Teil seiner Aufgabe damit, ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Vorbereitung von Entscheiden in verschiedensten Bereichen wie Politik, Wirt­schaft, Soziales oder Kultur zu sein. Fragt sich, welche Entscheidungsträger in einem Land, in dem Rechtspopulisten die stärkste politische Kraft stellen, von solchen Statistiken profitieren.

Marius Widmer vom BFS kommentiert die Frage nach dem Einfluss auf Entscheidungen wie folgt: "Wir liefern die Grundlagen für die demokratische Entscheidungsfindung. Die statistische Darstellung eines Phänomens kann durchaus dazu führen, dass Massnahmen ergriffen werden." Die Jugendkriminalität sei intensiv präventiv bekämpft worden, als die Jugendstrafurteilsstatistik immer höhere Verurteilungszahlen ausgewiesen habe. Seit 2011 gehe die Zahl der Jugendurteile konstant zurück.

Einen Tag nachdem das BFS seine Zahlen veröffentlichte, erörtert bei 20 Minuten ein als Experte präsentierter schweizerisch-tunesischer Schriftsteller, wieso es genau Afrikaner sind, die so häufig kriminell werden—und zeigt somit, was in der Öffentlichkeit von der BFS-Statistik hängenbleibt.

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Titelfoto: Collage aus Screenshots von Tages-Anzeiger, Blick und 20 Minuten