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Josef Mengeles Schädel und die Wende der Forensik

Eine detaillierte Schädel-Analyse führte in Brasilien 1985 nicht nur zur Identifizierung des KZ-Lagerarztes Josef Mengele, sondern in der Folge auch zu einer entscheidenden Entwicklung in der Forensik.
​Gesichts-Schädel-Überlagerung, Fall Josef Mengele. Labor des Instituto Médico Legal, São Paulo, 1985. Courtesy of Maja Helmer. Aus: Thomas Keenan and Eyal Weizman, Mengele’s Skull. Verwendet mit freundlicher Genehmigung.

Das 21. Jahrhundert präsentiert sich gerne als Wunderland der Technik und Wissenschaft, wo zu jedem Menschen eine riesige Datenbank an persönlichen Informationen besteht—von Krankenakten über staatliche biometrische Bevölkerungsdatenbanken bis zu den persönlichen Highlights des Onlineshopping.

Profiling und gläserne Lebensumstände gehören zum überwachten Alltag und die Analyse und Zuordnung von Leichenfunden ohne Personalausweis oder klar erkennbarem Leichnam ist längst als allabendlicher Krimialltag bekannt. Kurzum: 3D-Scanner, DNA-Analysen, Nanotechnologie und Biometrische Daten sind die Grundausstattung der Kriminalistik und jedweder moderner Beweisführung.

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Das Aufkommen einer forensichen Methode der Strafverfolgung liegt jedoch noch gar nicht so lange zurück. Noch bis weit nach dem zweiten Weltkrieg wurden Untersuchungen und Verurteilungen Verstorbener maßgeblich anhand von Fotos, Zeugen und der Konstruktion einer vergangenen Realität durchgeführt. So galt das letzte Jahrhundert auch als „Zeitalter der Zeugen", während das aktuelle von einer forensischen Wende geprägt ist. Die Geschichte dieser technischen, ethischen und juristischen Transformation in der Kriminalforschung wird momentan ausführlich in der Ausstellung FORENSIS im Berliner Haus der Kulturen der Welt gezeigt—und ein wichtiger Wendepunkt in Diskursen um Tote als Beweismittel war ausgerechnet die Ausgrabung eines Nazischädels.

Josef Mengele, Lagerarzt von Auschwitz, befand sich mit falschem Pass in seinem Versteck in Brasilien als er im Jahr 1979 ertrank. Nachdem Hinweise die Kriminalisten 1985 zu einem kleinen Friedhof in einem Vorort von Sao Paulo führten, exhumierten sie einen Körper, von dem sie annahmen, dass es sich um den gesuchten Verbrecher handelte.

Das weite Feld forensicher Anhaltspunkte in der Untersuchung, ob es sich wirklich um den gesuchten Nazi handelte, der bis zu seiner Flucht aus Deutschland grausame Verbrechen begangen hatte, beschäftige Wissenschaftler der unterschiedlichsten Bereiche. Die Analyse von Handschrift, Fingerabdrücken, Zahnarztaufzeichnungen, Röntgenbildern, Photographien, Dokumenten, Kleidung und weiterer Spuren wurden in die Ermittlungen einbezogen, jedoch statt 15 parallele Berichte zu verfassen, entschieden sich die Forscher, zusammen zu arbeiten.

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Für die Feststellung, wem die Knochen gehören, musste erst einmal das Leben der Person nachgezeichnet werden. Ein Skelett birgt viele Informationen über die Biographie eines Menschen, über Krankheiten, Unfälle, Geburtsdefekte oder die Zahngesundheit. Die Botschaft der Knochen lautete: männlich, Rechtshänder, 174 cm groß, normale Statur, weiße Hautfarbe, Füllungen und Lücken in den Zähnen, Frakturen und Unfälle an Hüfte, Schulter, Schlüsselbein, zwischen 64 und 74 Jahre alt bei Todeseintritt.

Um die Skeptiker im Fall Mengele zu überzeugen, waren jedoch weitere Beweise nötig. Anhand eines Fotos bildete der Forensiker Richard Helmer am Schädel die Dicke und Form des Gesichtes nach. Mit 30 verschiedenen am Schädel befestigten Nadeln konnte er die verschwundenen Konturen rekonstruieren. Ein milimetergenauer, präziser Abgleich der sterblichen Überreste mit dem Foto des Lebenden konnte als allgemein anerkannter Beweis fungieren.

Mit Hilfe von zwei auf Schienen befestigten hochauflösenden Kameras, die vor und zurück bewegt werden konnten, projizierte Helmer Bilder auf einen Fernseher, die er überlagerte. Auf diese Weise konnte er Foto und Schädel eins zu eins miteinander vergleichen und stellte fest, dass sie identisch waren.

Die neuen Methoden wurden schon kurze Zeit später in Argentinien eingesetzt, wo Überreste der Verschwundenen des „Schmutzigen Krieges" untersucht wurden. Clyde Snow, vom Mengele-Untersuchungsteam, und eine Gruppe junger Wissenschaftler waren die ersten, die systemathische Exhumierungen in einem menschenrechtlichen Kontext vornahmen und sie fanden über viele Jahre hinweg wichtige Beweise für die Anklagen gegen verbrecherische Junta-Führer. So lieferte die Forensik und ihre Pioniere mit einer professionellen Expertise tatsächlich einen gewissen wissenschaftlichen Hoffnungsschimmer im Angesicht fürchterlicher Straftaten.

Die Ausstellung Forensis wird noch bis zum 5. Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt gezeigt.

Sie wird kuratiert von Eyal Weizman dem Leiter des Projektes Forensische Architektur und zeigt zahlreiche weitere historische und gegenwärtige Fälle von politischen Implikationen wissenschaftlicher Beweisführung.