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Was passiert, wenn die Flüchtlingszüge wieder gestoppt werden?

Schleuser-LKWs und Kleinkinder auf der Autobahn—ein Passauer Polizist gibt einen Einblick in das Chaos, das uns dann erwartet.
Foto: imago / epd

Seit die deutsche und österreichische Regierung sich entschieden haben, die in Zügen aus Ungarn ankommenden Flüchtlinge auf ihrer Reise nach Deutschland nicht mehr aufzuhalten, sind allein seit letztem Freitag mehr als 40.000 Menschen am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Seit Ende August sind es über 60.000. Die Bilder vom Empfang der erschöpften Flüchtlinge durch Hunderte Freiwillige und ein schnell eingerichtetes Erstversorgungssystem direkt am Bahnhof haben dafür gesorgt, dass Deutschland und Österreich plötzlich weltweit als Musterschüler in der Flüchtlingsaufnahme gelten.

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In gewisser Weise ist das verdient: Beamte der Regierung Oberbayerns arbeiten ähnlich wie in Wien und anderen Städten rund um die Uhr, um dafür zu sorgen, dass die Ankommenden möglichst effizient in ganz Deutschland verteilt werden, um Platz für die nächsten Züge zu schaffen. Die Münchner Messe hat eine ganze Halle zur Notunterkunft umfunktioniert, Krankenpfleger und Ärzte aus ganz München kommen nach Schichtende an den Hauptbahnhof, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Bis jetzt haben die Verantwortlichen und Freiwilligen es geschafft, der Menschenmassen Herr zu werden, ohne dass es zu ernsten Engpässen oder Zusammenstößen gekommen ist.

Afghanische Flüchtlinge, die im Kreis Passau von Schleusern ausgesetzt worden sind | Foto: imago / epd

Ob das am Bild des an der türkischen Küste angespülten Jungen liegt oder nicht: Es ist fast so, als hätten wir endlich unser Gewissen entdeckt. Als würde die Mehrheit der Menschen in Österreich und Deutschland endlich einsehen, dass es grausam ist, Menschen Asyl zu versprechen—aber sie gleichzeitig zu zwingen, auf dem Weg zu uns ihr Leben und das ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. Dass das europäische Recht ein unmenschliches ist, wenn die korrekte Anwendung so aussieht wie in Ungarn.

Trotzdem glaubt niemand, dass dieser Zustand ewig dauern kann. Bis jetzt war die Grenze bis auf wenige Ausnahmen offen, aber die Zeichen mehren sich, dass die kontrollierte Einwanderung nicht mehr lange dauern wird: Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn wird zunehmend undurchlässiger. Ebenso wurde gestern kurzfristig die deutsch-österreichische Grenze geschlossen, jedoch heute früh wieder geöffnet. Und weiterhin kommen tausende Flüchtende in Ungarn an. Das bedeutet: Die Grenzen schließen sich langsam. Wer aber trotzdem weiter kommen wird, sind die Flüchtlinge.

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Es wird nur wieder viel gefährlicher werden für die Flüchtenden. Michael Emmer ist Hauptpolizeikommissar in Passau in Ostbayern, das sich eine 130-Kilometer-Grenze mit Österreich und Tschechien teilt. Ich habe ihn nicht angerufen, um ihn um eine Prognose zu bitten, sondern nur um einen Eindruck von den Zuständen vor den Zügen zu bekommen. Aber anhand seiner Erzählung kann man sich ein ziemlich klares Bild davon machen, was passiert, sobald der #trainofhope wieder gestoppt wird.

Diese syrischen Flüchtlinge kamen in einem Kleintransporter nach Deutschland und warteten dann in der Nähe der Autobahnauffahrt Passau-Süd darauf, zu einer Erstaufnahmestelle gebracht zu werden. Foto: imago/epd

VICE: In den letzten Wochen hat man immer wieder von Flüchtlingen gehört, die massenweise nachts an der Autobahn in der Gegend ausgesetzt wurden. Ist das immer noch so?
Michael Emmer: Das ist schon noch so, aber es ist natürlich wesentlich weniger als vorher—durch die kontrollierten Einreisen, die die Bundesregierung und die Regierung von Österreich jetzt begonnen haben. Vorher hatten wir zwischen 10 und 15 Schleuser pro Tag, jetzt ist der Schnitt so bei 2 bis 3 Schleusern. Aber die Leute werden nach wie vor irgendwo ausgesetzt, entweder auf der Autobahn oder auf den Nebenstrecken, und wir greifen die dann auf—und hin und wieder machen wir auch einen Schleuser dingfest.

Wie viele Flüchtlinge transportiert denn so ein Schleuser normalerweise?
Das ist unterschiedlich. Ganz am Anfang konnten wir uns auf die Sprinter konzentrieren, mittlerweile werden aber ganz oft auch ganz normale PKW mit getönten Scheiben verwendet. Oder auch LKWs: Da gab's neulich einen Fall, wo ein Sattelzug auf ein Firmengelände vorgefahren ist und zwischen 60 und 70 Flüchtlinge an der Ladefläche hat aussteigen lassen, dann ist er wieder verschwunden. Wir müssen also den kompletten Verkehr im Auge haben.

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Ein Schleuserfahrzeug auf einem Parkplatz in der Nähe von Passau | Foto: imago / epd

Bevor es die kontrollierte Einreise gab, von wie vielen Flüchtlingen und Schleusern sprechen wir da am Tag?
Also, zu den Hochzeiten war der Spitzenreiter knapp über 900 an einem Tag, aber es waren auf alle Fälle 650 bis 850 am Tag. Das war so die Bilanz der Monate Juni, Juli, August. Und jetzt ist das natürlich sehr viel weniger geworden, weil die Schleuser einfach Arbeit verlieren.

Haben Sie einen groben Überblick über die Herkunftsländer der Flüchtlinge?
Ja, der Großteil sind Syrer. Das zweite sind Afghanen, dann Iraker, und einige Pakistaner sind dabei. Das sind so die vier Nationalitäten der Flüchtlinge, die Schleuser sind vor allem Rumänen, Ungarn und Bulgaren.

In welcher Verfassung befinden sich die Flüchtlinge, wenn Sie sie aufgreifen?
Den Schleusern ist völlig egal, wie es den Flüchtlingen geht. Die versuchen nur, so schnell wie möglich ihren Auftrag zu erfüllen. Wenn wir sehen, wie die transportiert werden, dass die über Stunden keine Nahrung, keine Flüssigkeit, keine Luftzufuhr haben, dann wundert uns das sowieso, dass die Flüchtlinge eigentlich in einem relativ guten Zustand hier ankommen.

Also, wenn wir da in den Innenraum der Schleuserfahrzeuge schauen, da sieht man teilweise noch Kinderspielzeug drin rumliegen, aber auch wo die ihre Notdurft im Auto verrichtet haben. Oder wo 39 Leute in einem Sprinter waren, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wir haben hier draußen schon Ärzte benötigt, wenn uns einer bewusstlos wurde, als er ausgestiegen ist.

Ist es dabei schon zu gefährlichen Situationen gekommen?
Also, wir haben da schon Fälle gehabt, zum Beispiel letzte Woche: Da sollte einer kontrolliert werden, also hat sich der Schleierfahnder vor den gesetzt und das „Bitte folgen"-Zeichen eingeschaltet—dann hat der auf der Überholspur eine Vollbremsung hingelegt, hat die Türe aufgemacht und ist über die Mitteplanke über beide Fahrspuren in den Wald geflüchtet. Und hat acht Flüchtlinge—also fünf Erwachsene, zwei Kleinkinder und ein Baby—im Auto auf der Überholspur stehen gelassen, in der Dunkelheit. Dahinter war so ein Sattelzug, also ein Vierzigtonner, der hat Gott sei Dank rechtzeitig reagiert und kam noch zum Stehen. Also, ich möchte mal behaupten, dass wir bei einem Auffahrunfall acht Tote in dem Auto gehabt hätten.

Einen ähnlichen Fall haben wir zwei Wochen vorher gehabt, da hat der Schleuser den Wagen sogar noch quergestellt, bevor er über zwei Spuren geflüchtet ist. In einem anderen Fall ist der Fahrer auf der Autobahn aus dem rollenden Fahrzeug rausgesprungen, das ist dann mit den Flüchtlingen an Bord in den Graben gerollt. Also, das Leben der Flüchtlinge ist den Schleusern völlig egal.

Zwischen kontrollierter Einreise und Einsickern mit Schleusern—was halten Sie denn persönlich für sinnvoller?
Na ja, um die Schleuser-Kriminalität einzudämmen, ist die kontrollierte Einreise besser. Aber deswegen werden die Schleuser-Netzwerke nicht zerschlagen sein, das ist ja letztendlich nur ein Abwarten. Wenn die kontrollierten Einreisen zu Ende sind, haben die Flüchtlinge ja letztendlich keine Wahl, als wieder auf die Schleuser zurückzugreifen. Die Flüchtlinge werden sowieso kommen, irgendwie. Deshalb stellen wir uns auch schon wieder drauf ein, dass das nur eine kurze Entspannungsphase ist, und dass das schon ab der nächsten Woche wieder so wird, wie es die letzten drei Monate war.

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