Menschen

Wie sich dein Leben verändert, wenn du nichts mehr riechen kannst

"Das Schlimmste ist, ich kann meine Liebsten nicht mehr riechen", sagt Sabrina.
NP
aufgeschrieben von Nora Pauelsen
Nahaufnahme des Gesichtes einer jungen Frau, die an einer blauen Blume riecht.
Symbolfoto bestehend aus: Universum: Pixabay | Frau: imago images / Westend61 | Collage: VICE 

Sabrina Hentzgen kann seit einem Unfall nicht mehr riechen. Sie lebt seitdem in einer neutralen Welt, in der kochen und essen keinen Spaß mehr macht, sie den Salzwassergeruch des Meeres vermisst und nicht mehr weiß, wie ihr Sohn riecht. Hier erzählt sie von ihrem Alltag ohne Geruchssinn.

Ich konnte den vertrauten Geruch meines Sohnes nicht riechen. Er roch nach – nichts.

"Als mein Sohn mich nach dem Unfall im Krankenhaus umarmte, wusste ich: Etwas stimmt nicht. Ich beugte mich zu meinem vierjährigen Jungen herunter und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Ich atmete erleichtert aus und als ich wieder durch die Nase einatmete, war etwas anders. Ich konnte den vertrauten Geruch meines Sohnes nicht riechen. Er roch nach – nichts.

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Im Krankenhaus habe ich einen Fencheltee getrunken. Der schmeckte nur nach Wasser, als hätte er zu kurz gezogen.

Ich lag im Krankenhaus, weil ich mir die Nase gebrochen hatte. Nichts Schlimmes, eigentlich. Ich war frontal auf die Tischkante geknallt, weil ich über den Staubsauger gefallen bin. Doch zu Hause ging es mir immer, immer schlechter. Vier Tage später wurde entdeckt, dass ich eine Blutung im Kopf hatte. Meine Diagnose war ein starkes Schädel-Hirn-Trauma. Danach war ich vier Monate krankgeschrieben und hatte – vergleichbar mit einem Schlaganfall – Probleme mich zu konzentrieren oder Wörter für Dinge zu finden, die ich sonst kannte. Das konnte ich alles wieder erlernen, eine große Beeinträchtigung ist aber geblieben.


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Im Krankenhaus habe ich einen Fencheltee getrunken. Der schmeckte nur nach Wasser, als hätte er zu kurz gezogen. Später stellte sich heraus: Ich konnte ihn nicht schmecken, ich konnte meinen Sohn nicht riechen, weil ich seit dem Unfall an Anosmie leide. Ich habe meinen Geruchssinn verloren.

Jeder 20. Deutsche verliert im Alter seinen Geruchssinn. Bei manchen kann das aber auch durch einen Unfall passieren, wie bei mir. Durch den Aufprall sind meine Geruchsnerven gerissen. Die Sinnesreize können seit des Nasenbruchs nicht mehr ins Gehirn gelangen.

Eine Frau hält ein Baby

Sabrina und ihr Sohn | Foto mit freundlicher Genehmigung von Sabrina Hentzgen

Bei vielen kann der Geruchs-und Geschmackssinn wiederkommen. Aber wenn man wie ich auch noch ein Jahr nach den Blutungen im Kopf keine Verbesserung sieht, gibt es wenig Hoffnung.

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Ich lebe seitdem in einer neutralen Welt. Das hemmt mich. Mein Leben hat sich komplett verändert. Früher hatte ich einen sehr ausgeprägten Geruchssinn. Als ich schwanger war, konnte ich Trüffel aus Schleswig-Holstein oder Bayern am Geruch unterscheiden. Ich habe vor Kurzem angefangen, für einen Gastronomiebetrieb als kaufmännische Angestellte zu arbeiten. Mein Chef meinte: "Riechen Sie doch mal, wie herrlich es nach frisch gebackenen Kuchen duftet!" Aber ich rieche nichts.

Es fragt keiner mehr: "Wie schmeckt dir das Essen?", sondern: "Wie ist die Konsistenz?"

Das beschäftigt mich täglich. Wir sind an die Ostsee gezogen und ich kann das Meer nicht riechen. Oder Sommerregen. Frisch gemähtes Gras. Der Geruch lebt nur noch in meiner Erinnerung. Wenn andere Zimt riechen und sagen: "Es riecht nach Weihnachten!", kann ich damit nichts mehr assoziieren.

Es fragt keiner mehr: "Wie schmeckt dir das Essen?", sondern: "Wie ist die Konsistenz?" Ich trinke Aperol Spritz, weil ich eine bittere Note spüre. Ich esse Waffeln, weil sie weich auf der Zunge sind. Ich esse weniger Fleisch, weil die Konsistenz ohne Geschmack zäh ist. Ich esse Gemüse, das sich beim Kauen knackig anfühlt.

Ich versuche natürlich weiterhin zu kochen, aber Geruch hat so viel mit Essen zu tun. Ich koche Nudeln mit Tomatensoße, wenn ich mich danach sehne. Ich freue mich auf den Geschmack, den ich früher so geliebt habe. Aber wenn ich den ersten Löffel im Mund habe, ist da nichts. Es schmeckt neutral. Ein bisschen salzig. Mehr nicht. Das deprimiert mich. Mein Lieblingsgericht von früher – Rinderfilet mit Brokkoli und Kartoffeln – möchte ich gar nicht mehr essen. Ich möchte mich vor der Enttäuschung bewahren, den Geschmack, den ich so mochte, nicht mehr genießen zu können.

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Ich habe auch keinen Hunger mehr. Mein Gehirn suggeriert mir nicht mehr, dass es Lust auf etwas hat. Wenn andere den Grill des Nachbarn riechen und deshalb Lust auf ein Steak bekommen, kann das in mir nichts mehr auslösen.

Ich bin auch paranoid. Gerade im Sommer denke ich ständig: "Hilfe, rieche ich nach Schweiß?"

Das ist natürlich auch gefährlich. Letztens rief mein Ex-Partner: "Oh Gott, oh Gott, die Küche!" Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich Frikadellen im Backofen vergessen hatte.

Ich bin auch paranoid. Gerade im Sommer denke ich ständig: "Hilfe, rieche ich nach Schweiß?" Ich verbrauche viel mehr Duschgel, weil ich mir einbilde, ich müsse mich noch mehr eincremen. Das Frischegefühl nach dem Duschen vermisse ich, weil es mir zeigt, dass ich gut rieche. Wie soll ich das jetzt feststellen?

Das schlimmste aber ist, meine Liebsten nicht mehr riechen zu können. Das Haar meines Sohnes, den Geruch von Pferden. Ich war auf der Pferdekoppel und habe meine Nase an das Fell eines Pferdes gehalten. Diesen vertrauten Geruch kann ich nicht mehr wahrnehmen.

Mein Ex-Partner ist fremdgegangen und ich wäre sicher früher schon wegen des fremden Geruchs im Bett misstrauisch geworden und hätte gemerkt: Hier stimmt etwas nicht.

Mein Sohn hilft mir, wenn ich zum Beispiel nicht weiß, wann ich das Zimmer lüften soll und ob es stickig ist. Als ich in einer Parfümerie war, fragte ich nach einem Parfum, das so ähnlich wie meines ist. Die Verkäuferin meinte: "Riechen Sie doch mal!" Das kann ich nicht. Sie hat dann ein Parfüm aufgesprüht, meinem Sohn hingehalten und gefragt: "Riecht Mama so?" Das fand ich ganz toll.

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Das Gutachten für meine Anosmie zu bekommen, war Erleichterung, weil ich meinen Geruchsverlust jetzt schriftlich habe.

Ich hätte nicht gedacht, dass mich diese Krankheit psychisch so umhaut. Ich funktioniere auf einmal nicht mehr so, wie ich mich selbst kenne. Ich habe mir eine Psychologin gesucht, die versucht, das mit mir aufzuarbeiten. Dieser plötzliche Verlust ist schwer zu ertragen.

Das Gutachten für meine Anosmie zu bekommen, war Erleichterung, weil ich meinen Geruchsverlust jetzt schriftlich habe. Es ist anerkannt und kann nicht mehr von Anderen hinterfragt werden.

Würde es einen Arzt geben, der mir helfen könnte, wäre ich bei ihm. Ich habe am Anfang nach Experten geschaut und viel gegoogelt, wie ich meinen Geruchssinn wieder bekommen kann. Aber jetzt akzeptiere ich die Situation."

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