Drogen

Was es über Putin aussagt, dass er seine Gegner als "Junkies" beschimpft

Ich selbst bin cleaner Süchtiger und kenne diesen menschenverachtenden Sound. 
Wladimir Putin vor rotem Hintergrund. Daneben die Worte aus Zeitungsschnipseln Neonazis, Bande, Junkies. Putin schmäht Drogenabhängige aus politischem Motiv und wirkt dabei selbst wie ein Abhängiger
Foto von Putin: IMAGO / ZUMA Wire | Collage: VICE

Wladimir Putin hat seine Gegner in Kiew und auch andernorts oft als Drogensüchtige verunglimpft. In Russland führt Putin einen erbitterten Kampf gegen Drogensüchtige. Er hasst sie, weil sie in seinen Augen willensschwache und korrupte Subjekte sind. Putin kämpft gegen Süchtige, nicht gegen die Sucht, das ist ein großer Unterschied. Es geht dem russischen Präsidenten nicht um die Heilung oder wenigstens Eindämmung einer gefährlichen Krankheit. Er will die Akteure selber, die Kranken und Aussätzigen, beseitigen.

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Ein schrecklicher Satz Stalins passt zu dieser Haltung: "Der Mensch ist das Problem. Keine Menschen, keine Probleme." Die Idee, dass Suchtkranke nicht krank, sondern einfach nur verkommen, haltlos und unzumutbar sind, ist nicht neu. Am 10. Juni 1935 erklärten deutsche Psychiater auf einem Fachkongress, Alkoholiker gehörten ins KZ. Philip L. Hansen, die Koryphäe der damaligen Suchtforschung, schrieb: "Alkoholiker sind haltlose, leicht schwachsinnige, kriminelle Persönlichkeiten."

Drei Jahre später gründete der amerikanische Börsenmakler und Trinker Bill Wilson eine Vereinigung, die seit den 40er Jahren Anonyme Alkoholiker heißt und einen weltweiten Siegeszug beim Kampf um die Genesung krankhafter Trinker und Trinkerinnen begann. Ich sage bewusst: beim Kampf um die Genesung, nicht beim Kampf gegen die Sucht. Gegen die Sucht kann ein suchtkranker Mensch nicht kämpfen. Die aktive Sucht – das Saufen, Kiffen, Koksen, Spritzen – wird immer stärker sein als der Süchtige selbst. Noch so viel Willenskraft werden ihm oder ihr nicht helfen, die Sucht zu stoppen. Es hilft nur eines: Kapitulation. Abstinenz.  


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Im Jahr 1953 spaltete sich in Amerika eine Gruppe von den AA ab, die anonymen Narkotiker, Narcotics Anonymous. NA verzichtet auf alle Drogen, legale wie illegale, und stuft auch Alkohol als Droge ein. NA-Leute leben von allen Drogen abstinent. Ich gehöre dieser Gemeinschaft seit 1994 an. Ich bin am 10. Januar 1994 clean geworden, nach einer achtjährigen Drogenkarriere. Meine Diagnose lautete: polytox. Jemand, der alles nimmt, was berauscht, betäubt und in der Folge zerstört. Die Droge meiner Wahl – die meisten Süchtigen haben, auch wenn sie alles nehmen, eine Präferenz – war Heroin

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Ich habe wie die meisten Ex-Junkies einige Entzüge hinter mir. In Psychiatrien oder in einem verwahrlosten Apartment, versteckt in einem Kloster oder bei den Eltern zu Hause. Vor 28 Jahren kapitulierte ich, weil ein Leben ohne Drogen zwar unvorstellbar erschien, ein Leben mit Drogen aber auch. Ich wog 61 Kilo bei einer Körpergröße von 183 cm. Ich war pleite. Alle meine Freunde hatten sich von mir abgewandt. Selbst meine Eltern suchten das Weite. Der Zusammenbruch war meine Rettung. 

Ich begann, in die Meetings, die täglich stattfindenden Zusammenkünfte von Narcotics Anonymous zu gehen. Ich lernte andere Süchtige kennen, die es geschafft hatten, mit der Hilfe des 12-Schritte-Programms, den NA zugrundeliegenden Genesungsregeln und -ideen, ein neues Leben aufzubauen. Ich begegnete Männern und Frauen, die alles verloren hatten, ihre Ehepartner, ihre Freunde, ihre Jobs und Vermögen, ihre Gesundheit, ihren Verstand, ihr Seelenheil. Aktive Sucht ist ein großer Gleichmacher. Sucht ist demokratisch in der Weise, dass jeder und jede süchtig werden kann und – das ist die brutale Pointe – auch jeder und jede zerstört wird, wenn sie nicht aufhören.

"Gefängnis, Anstalt oder Tod" heißt es in den Meetings: Das ist es, was am Ende einer Suchtkarriere auf dich wartet. Oder du kapitulierst. Du hörst auf zu glauben, du könntest die Sucht managen, sie austricksen. Ich habe eine Menge schlauer Leute bei Narcotics Anonymous kennengelernt, aber keiner von ihnen hatte es geschafft, die aktive Sucht, den Wodka, das Hasch, das Heroin, das Crystal Meth zu kontrollieren. Erst wenn man das Spielfeld wechselt, gar nicht erst antritt gegen diesen verschlagenen Gegner, hat man eine Chance zu überleben.

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Ich will und kann mich nicht zum Sprecher der Süchtigen aufschwingen. Ich bin nicht das Sprachrohr von NA. Es gibt keine Chefs oder Chefinnen bei den Anonymen. Jeder und jede kann mitmachen, unabhängig von Alter, Klasse, Ethnie oder sexueller Ausrichtung. Es kostet nichts. Man darf am Ende eines Meetings, in dem die Süchtigen ihre Erfahrungen austauschen, ein wenig Geld spenden, muss aber nicht. Ein Euro, ein Dollar, hundert Yen, hundert Rubel. Das Geld wird für Raummiete, Kaffee und Literatur verwendet.

Narcotics Anonymous, die AA, aber auch alle anderen aus dieser Idee entstandenen Gruppen wie Overeater Anonymous, Gamblers Anonymous, Sexaholics Anonymous haben keine Meinungen zu Fragen außerhalb ihrer Gemeinschaft. Politik, Kultur, Wissenschaft, zu all diesen Themen äußert sich Narcotics Anonymous grundsätzlich nicht. Solche Einlassungen würden schnell zu Kontroversen und Streit führen, und nichts ist für Süchtige leichter, egal ob drauf oder clean, als sich zu zerstreiten.

Narcotics Anonymous ist überall auf der Welt zu Hause, auch in Russland und in der Ukraine. Die ukrainische NA-Gemeinschaft ist groß und energisch. Vom Staat alleingelassen oder verfolgt, finden Süchtige, die clean werden wollen, NA anziehender als heruntergewirtschaftete Therapieeinrichtungen und Krankenhäuser.

Überhaupt wächst Narcotics Anonymous in Diktaturen oder autokratisch geführten Staaten besonders schnell. Die russische NA-Gemeinschaft ist ein bewegendes Beispiel dafür, wie kranke Menschen, die vom Staat drangsaliert und verfolgt werden, sich selber helfen und überleben.

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Ich habe bei der sogenannten Welt-Convention, dem größten Treffen von cleanen Süchtigen auf dem Globus, die russische Delegation gesehen. Vor rund 3.000 Menschen sprachen ein russischer junger Mann und eine junge Frau von ihrem Weg der Genesung. Wie ihre Eltern verzweifelt versuchten, einen Therapieplatz oder wenigstens einen Ort für den Entzug ihrer Kinder zu finden. Wie diese Eltern durch Zufall an ein Mitglied von NA gerieten. Und wie sie nun mehrere Jahre clean leben können und anderen leidenden Süchtigen helfen.

Noch beeindruckender ist Narcotics Anonymous im Iran. Der Iran ist einer der wichtigsten Opiumlieferanten für die international agierende Drogenmafia, man kann in manchen Stadtvierteln zwölfjährige Dealer mit Tennisball-großen Opiumkugeln treffen.

Bis NA im Iran Fuß fasste, galten Süchtige als minderwertige Kriminelle. Die Polizei verprügelte sie, sie wurden eingesperrt, misshandelt oder in die Armee gepresst. Heute gibt es Tausende NA-Meetings in allen Städten des Landes. Zu einem durchschnittlichen NA-Meeting in Europa kommen zehn bis vierzig Personen. Im Iran sind es weit mehr als hundert.

Irgendwann haben auch die Mullahs kapituliert vor dieser Entschiedenheit. NA wird im Iran geduldet, weil cleane Süchtige das Gesundheitswesen nicht belasten, nicht kriminell werden und anderen Süchtigen helfen können wie sonst niemand. Wenn ein Süchtiger dem anderen hilft, ist der therapeutische Wert unvergleichlich: Dieser Satz wird in jedem NA-Meeting überall auf der Welt vorgelesen. Er ist wahr, ich habe es selbst erlebt.

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Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu Narcotics Anonymous ist das Verlangen, mit dem Drogennehmen aufzuhören. Du musst es am Anfang noch nicht mal hinkriegen. Hauptsache, du kommst wieder und gibst nicht auf. Hoffnung für die hoffnungslosen Fälle, das sind AA und NA.

Jemanden als Säufer oder Junkie zu verdächtigen, ist ein alter, bewährter, aber auch ziemlich abgegriffener Trick des Mobbings. Putins notorische Diffamierung von Süchtigen hat, wie mir scheint, selbst zwanghafte Züge angenommen. Putin nennt Nazis und Süchtige auch gern in einem Atemzug. Dahinter steckt leider eine historische Tatsache: Viele ranghohe Nazis waren Drogen-User. Hermann Göring war schwer abhängig von Morphium. Hitler erhielt von seinem Leibarzt einen Mix aus Naturheilmitteln und süchtig machenden Pharmazeutika.

Es macht mich dennoch wütend, dass Süchtige und Nazis in Putins Schmähreden oft zusammengespannt werden. Es impliziert, dass Süchtige besonders anfällig für Nazismus wären. Dabei haben die meisten Süchtigen massive Probleme mit Autoritäten. Aktiv Süchtige isolieren sich meistens, weil sie sich schämen und ihre Krankheit verheimlichen wollen. Wenn sie irgendwann clean werden, müssen sie das Leben in einer Gemeinschaft erst mühsam lernen. Schon in dieser Hinsicht ist Putins Methode der Abwertung nicht schlüssig.

Ebenfalls abwegig finde ich Putins Idee, dass man das Land von Süchtigen "säubern" müsse. Wer Süchtige ausrotten will, hat damit nichts am grundlegenden Problem verändert. Es ist nicht so, dass die vorhandenen Süchtigen die Normalbürger infizieren würden und dadurch immer mehr Junkies herumliefen. Sucht entsteht aus verschiedensten Gründen. Der oder die Süchtige hat eine bestimmte psychische und physiologische Disposition, hinzu kommen äußere Faktoren wie Stress, Traumata und so weiter. Vielleicht sind Süchtige auch ein besonders grimmiger Scherz von Gott, der schauen möchte, wie verrückt Leute sein können bei der gleichzeitigen Überzeugung, alles im Griff zu haben.

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Leider ist es genau umgekehrt: Putins Vergewaltigung ganzer Gesellschaften wird sehr wahrscheinlich die Grundlage schaffen für viele psychische Erkrankungen. Darunter wird auch Suchtverhalten sein. Am Ende läuft es wieder auf Stalin hinaus: Der Mensch muss weg, dann sind auch alle Probleme gelöst.

Der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, hat im Stern den russischen Präsidenten so beschrieben: "Er handelt zunehmend allein, auf sich gestellt und nimmt die Wirklichkeit verzerrt wahr. Er ist getrieben von Zorn und Rachsucht, die zunehmend seine politischen Entscheidungen dominieren." Mit einer kleinen Korrektur, wenn man das Wort "politisch" aus dem Zitat herausstreicht, habe ich das schon mal gehört. Ich habe das sogar schon Hunderte Male gehört, und zwar von cleanen Süchtigen im Meeting. Wenn sie erzählen, wie sie immer weiter in die aktive Sucht abrutschten. Wie sie sich selbst und andere belogen. Wie sie wütend waren auf jeden, der sie am Ausleben ihrer Sucht hindern wollte. Wie alle Entscheidungen einer einzigen Frage untergeordnet waren: Wie komme ich an meinen Stoff?

Es kommt mir nicht zu, die psychologische Inventur von anderen zu machen. "Don't presume anything", sagt ein enger NA-Freund oft zu mir. Stelle keine voreiligen Vermutungen über andere an. Im Fall von Wladimir Putin ist die Versuchung groß.

Der Artikel erscheint anonym, weil trotz des weltweiten Erfolges der anonymen Gemeinschaften genesende Menschen rückfällig werden und sterben. Prominente, Journalisten, Personen des öffentlichen Lebens, die sich zu NA oder AA bekennen, dann aber rückfällig werden, können Hilfesuchende abschrecken und dazu verleiten, zu glauben, das 12-Schritte-Programm funktioniere nicht. In NA und AA genesen viele bekannte Persönlichkeiten. Stars aus Popkultur, Literatur und Kunst, Politiker, berühmte Unternehmer. Die meisten von ihnen achten aus diesem Grund sehr genau auf ihre Anonymität. Narcotics Anonymous lässt sich gut erleben bei einem der großen, von einem Land oder einer Region ausgerichteten Treffen. Die nächste große Convention findet von 29. bis 31. Juli in Kekscemet in Ungarn statt. Von 9. bis 11. September treffen sich Hunderte genesende Süchtige in Kairo. Überall dort wird das Cleansein gefeiert. Alle Hilfesuchenden sind herzlich willkommen.

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