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Die Türkei soll Agenten und Soldaten auf NBA-Spieler Kanter gehetzt haben

Enes Kanter ist kein Freund von Erdoğan. Darum ist der OKC-Center zur Psychoterror-Zielscheibe der türkischen Regierung geworden. Ein Schicksal, das seine restliche Familie in der Heimat nur allzu gut kennt.

Samstag hat die türkische Regierung den Reisepass des in der Türkei geborenen NBA-Profis Enes Kanter für ungültig erklären lassen, wodurch er in der rumänischen Hauptstadt Bukarest gestrandet ist. Dort drohte dem Center der Oklahoma City Thunder dann die Auslieferung in sein Heimatland, wo er nach seiner wiederholten Kritik am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Gefängnis landen könnte. Es war eine genauso willkürliche wie erschreckende Aktion – aber auch eine, die leider nicht mal überraschend kam. Kanters Festsetzen sorgte weltweit für Schlagzeilen. Am Ende konnte er die ‚Heimreise' in die USA antreten. Am Montag erzählte er die ganze Geschichte, erst auf einer Pressekonferenz in New York und dann in der ESPN-Show Outside The Lines. Und gestern schrieb er in The Players' Tribune einen offenen Brief über seine Odyssee. Wie Kanter berichtet, gab es schon vor dem Vorfall in Bukarest klare Anzeichen dafür, dass sein Heimatland in irgendeiner Form gegen ihn vorgehen würde. In der ESPN-Show erzählte Kanter dem Moderator Bob Ley, dass er morgens um halb drei in seinem Hotelzimmer in Jakarta – dem siebten Stopp auf seiner weltweiten Goodwill-Tour – von seinem Manager geweckt wurde. „Er meinte zu mir, komm in mein Zimmer, wir müssen reden. Dann erzählte er mir, dass die türkische Regierung in Indonesien angerufen hat und meinte: 'Enes Kanter ist bei euch, er ist ein gefährlicher Mann, wir müssen mit ihm sprechen.'" Schon tags zuvor sollen der indonesische Geheimdienst und Soldaten zu der Schule geschickt worden sein, wo Kanter gerade mit Schülern trainiert hat. Nach seinem nächtlichen Gespräch mit seinem Manager verließ Kanter so schnell er konnte das Land – in einer Aktion, die er selbst als „Flucht" beschrieb.

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"Um 3:10 Uhr haben wir Flugtickets gekauft. Um 3:30 Uhr saßen wir im Taxi. Es war noch dunkel. Wir wussten nicht, ob wir verfolgt werden. Die ganze Zeit hielt ich den Atem an. Das Boarden ging ohne Probleme, ich blieb aber nervös, bis das Flugzeug abhob. Es war ein Flug um 5:25 Uhr."

Doch der Psychoterror holte ihn in Rumänien wieder ein. "Ich hatte Indonesien entkommen können. Aber nicht Erdoğan", zitiert ihn The Players' Tribune.

Dass Kanter es zurück in die USA geschafft hat, lag vor allem an seiner Green Card und seiner Berühmtheit.

Überlegt mal: Wenn die Erdoğan-Regierung einen NBA-Spieler schon so behandelt, wie wird es dann erst dem Rest ergehen? ( Kanter in The Players' Tribune)

Zeitgleich hatten sich außerdem die NBA, die Spielergewerkschaft der NBA, die Oklahoma City Thunder, das US-Außenministerium und selbst die beiden erzkonservativen Senatoren aus Oklahoma für Kanter eingesetzt. Fest steht, dass die meisten Flüchtlinge, die aus repressiven Staaten kommen und in den USA Asyl beantragen – vor allem bei muslimischen Staaten – mitnichten mit derselben Unterstützung rechnen können, wie das bei Kanter der Fall war.

Gestern gab Kanter zu Protokoll, dass er glaubt, dass ihm das gleiche Schicksal wie den Tausenden anderen Regierungskritikern geblüht hätte, wäre er tatsächlich in die Türkei ausgeliefert worden. „Es war beängstigend", so Kanter auf der Pressekonferenz, „weil die Möglichkeit bestand, dass sie mich zurück in die Türkei schicken. Und sollte man mich in die Türkei zurückschicken, würdet ihr schon am nächsten Tag nichts mehr von mir hören. Es wäre definitiv sehr hässlich geworden."

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Es ist unklar, ob Erdoğan seinen Bodyguards letzte Woche den Befehl gab, auf die Demonstranten in Washington loszugehen. Doch allein die Tatsache, dass darüber spekuliert wird, sagt schon eine ganze Menge über Erdoğan aus sowie die Richtung, die er und seine Regierung eingeschlagen haben. Klar ist aber, dass die Bodyguards die friedlichen Demonstranten geschlagen, getreten und gewürgt haben, während sie von US-Polizisten weggezerrt wurden. Am Montag hat das türkische Außenministerium den US-Botschafter in Ankara einbestellt und sich offiziell bei ihm beschwert – wegen der Polizeibeamten in Washington, die aus Sicht der Türkei nicht hart genug gegen die Demonstranten vorgegangen seien. Der Washington Post zufolge habe die "semi-offizielle Nachrichtenagentur" der Türkei ein bearbeitetes Video hochgeladen, "das den Auslöser des Angriffs zeige: eine Wasserflasche, geworfen von einem Demonstranten."


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Das war bei Weitem nicht die schrecklichste oder brutalste Form der Unterdrückung vonseiten der Erdoğan-Regierung, die im letzten Jahr eine selten dagewesene Kampagne gegen ihre Kritiker gefahren hat und sich fleißig ins autokratische Abseits schießt. Doch die Kleinlichkeit ihres Auftretens in Washington – wo man erst mit Kanone n auf Spatzen schoss, dann aber behauptete, die Spatzen seien Schuld – ist äußerst aufschlussreich. Und erklärt zudem, warum sich die türkische Regierung zu so einer ebenso kleinlichen Aktion wie dem Annullieren von Kanters Pass hinreißen ließ.

Denn wegen seiner Unterstützung für den im Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen und seiner Kritik an Erdoğan befand sich Kanter de facto schon länger im Exil – also nicht erst, seitdem ihm sein Pass abgenommen wurde. „Das letzte Mal habe ich mit meiner Familie vor rund zwei Jahren gesprochen", so Kanter gegenüber Ley. „Wenn ich aktuell mit ihr in Kontakt treten würde, kämen sie ins Gefängnis. Das ist auch der Grund, warum ich zu keinem meiner Freunde und Bekannten in der Türkei Kontakt haben kann." Kanter ergänzte, dass sein Vater, ein Professor, im letzten Jahr gefeuert wurde. Kanters Familie hat sich von ihrem Sohn für dessen politischen Aktivismus öffentlich distanziert, doch Kanter glaubt, dass seine Familienmitglieder noch immer überwacht werden. Er berichtete weiter, dass sein Vater wegen der Ansichten seines Sohnes schon bedroht und bespuckt worden sei. „Fast jeden Tag erhalte ich aus den USA und der Türkei Todesdrohungen", sagte Kanter auf der PK. „Ich versuche, die Stimme all dieser unschuldigen Leute und Kinder zu sein… Ich glaube, egal was dafür nötig ist, es ist wichtig für unsere Kinder und unsere Zukunft. Denn diese Kinder werden diejenigen sein, die für Veränderungen sorgen."

Kanter wolle US-Staatsbürger werden, ließ er weiter verlauten. Einerseits, weil ihm klar sei, dass er eh nicht mehr in die Türkei zurückkommen kann. Andererseits wegen all der Unterstützung, die er in den USA als Flüchtling aus einem für ihn nicht mehr sicheren Land erfahren habe. „Ich fühle, dass das hier mittlerweile mein Zuhause ist", gestand Kanter auf der PK. Und bei ESPN wurde er dann noch etwas direkter. „Ich bin aktuell staatenlos", so Kanter zu Ley. „Und offen für eine Adoption.