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Was passiert, wenn Öl überflüssig wird?

Wir haben uns mit einem Experten darüber unterhalten, was passieren würde, falls Öl überflüssig wird

Illustration von Sam Taylor

Diesen Monat verkündete die US Navy die bahnbrechende Neuigkeit, dass sie eine Technologie entwickelt hat, mit Hilfe derer Meerwasser zu Treibstoff umgewandelt werden kann. In anderen Worten: Wir sind jetzt offiziell nicht mehr von Öl abhängig. Natürlich könnte das aber auch totaler Unfug sein. Der Plan ist nicht ansatzweise so umweltfreundlich, wie er klingt, und das Ganze ist auch noch ziemlich unpraktisch, aber nichtsdestotrotz brachte mich die Nachricht auf ein paar Gedanken. Öl ist entweder unter unberührten Landschaften versteckt, die man auch besser so belassen sollte, oder befindet sich in Ländern, in die man erst einfallen muss, um das Zeug dort vernünftig rauszubekommen. Was würde es also für die ganzen weltweiten Konflikte und die internationalen Beziehungen bedeuten, wenn man, dank zukünftiger technologischer Entwicklungen, gar nicht mehr so scharf auf Öl ist? Würden wir weiterhin mit diesen ganzen zwielichtigen Regimen befreundet sein, die auf riesigen Ölquellen sitzen? Würde sich „Kein Blut für Öl“ von einem Slogan Protestierender zu einer politischen Realität wandeln? Ich habe mich mit Dr. Walter Ill, einem Professor für internationale Beziehungen am Kings College in London, unterhalten, um das herauszufinden.

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Experten der Navy versuchen, ein kleines Modellflugzeug mit flüssigem Hydrocarbon-Treibstoff in Gang zu setzen (Foto: US Naval Research Laboratory)

VICE: Ich möchte mit dieser Idee beginnen, dass diese neue Technologie auf Meerwasserbasis Wasserfahrzeuge antreiben könnte, ohne dass diese jemals auftanken müssten. Das heißt, sie könnten theoretisch für mehrere Jahre ununterbrochen fahren. Welchen Effekt würde das auf die weltweiten Meereskonflikte haben?
Dr. Ladwig Ill: Zuerst einmal muss man darauf hinweisen, dass schon jetzt Schiffe existieren—atombetriebene Flugzeugträger und U-Boote—, die eine Energiequelle haben, die es ihnen theoretisch ermöglicht, ununterbrochen in Betrieb zu sein. Sie sind es aber nicht. und der Grund dafür ist, dass es neben dem Treibstoff, der bestimmt eine wichtige Rolle spielt, es auch andere Faktoren gibt, die die Ausdauer eines Marinegefährts einschränken. Es gibt auch noch andere Dinge, die ein Schiff braucht [um in Betrieb zu bleiben], wie die Crew. Es braucht auch Schmiermittel und Ersatzteile, und auf Schiffen gehen Sachen einfach durchgehend kaputt. Die Leute denken vielleicht, dass die Schiffe für immer fahren könnten, wenn das Treibstoffproblem gelöst ist, aber das ist definitiv nicht der Fall. Falls Schiffe durch technologische Verbesserungen nicht mehr so Anfällig für Schäden wären—und dann wirklich unendlich lange in Betrieb sein könnten—wie würde das die Kriegsführung zur See beeinflussen?
Nagut, wenn du es mit der Dronentechnologie verbindest … Es gibt momentan Berichte darüber, dass daran geforscht wird, weitestgehend eigenständige Frachtschiffe zu entwickeln. Wenn du auf diese Weise also das Crewproblem löst, könnte das auf jeden Fall ein Teil davon sein. An zweiter Stelle muss hier gesagt, dass momentan nur die Big Five—also die Atommächte plus Indien—über Schiffe mit Atomantrieb verfügen. Wenn die Technologie nicht zu komplex ist und so von vielen anderen Ländern verwendet werden kann, wäre die größte Veränderung wohl die, dass jetzt auch kleinere Nationen wie die Philippinen, Malaysia und Vietnam über solche Schiffe verfügen könnten, die viel länger auf See bleiben können. Das wäre der Aspekt, an dem du die große Veränderung sehen würdest. Letztendlich ist der Einsatz von Seewaffen und Scharmützel immer etwas, das von Politik getrieben wird. Ich weiß nicht, zu welchem Grad sich Gefechte entfachen würden, die gerade nicht in der Welt stattfinden, nur weil dann die Technologie dafür da ist. Es ist allerdings gut möglich, dass es dann bei den Disputen um die Gebietsansprüche im südchinesischen Meer zwischen chinesischen, malaysischen und philippinischen Flotten etwas rauer zugehen würde. Ich glaube auch, dass es auch noch etwas mehr Raum [für Konfrontation] gibt, was die USA und China angeht. Falls sich zwei Wasserfahrzeuge zu nahe kommen, oder chinesische und indische Schiffe anfangen würden, sich gegenseitig zu beobachten, oder in die Hoheitsgebiete des anderen Landes eindringen würden—die Financial Times würde wahrscheinlich eine Überschrift in der Art von „Gefährliche Spielereien im Indischen Ozean“ drucken—die Wahrscheinlichkeit für solche Vorfälle wäre definitiv höher. Es gäbe auch viel mehr Möglichkeiten für die einzelnen Staaten, sich mit der Positionierung ihrer Schiffe gegenseitig Signale zu setzen. Das könnte ebenfalls zu einer Eskalation führen—aber man bräuchte letztendlich die passende Politik, um so etwas durchzuführen. Wenn diese Technologie auch dazu eingesetzt werden könnte, Autos anzutreiben, Häuser zu heizen und Maschinen in Bewegung zu setzen—wenn Öl also quasi überflüssig wäre—, was würde das für geopolitische Auswirkungen mit sich bringen?
Die ölproduzierenden Staaten wären dann den USA natürlich wesentlich egaler. Seit Präsident Carter haben die vereinigten Staaten eine Strategie verfolgt, den Mittleren Osten in ihren Augen abzusichern, die Routen der Öltanker zu beschützen und sicherzustellen, dass kein feindlich gesinntes Land zu viel Macht über die Ölproduktion hat. Wenn [das aber passieren sollte], wäre [der Mittlere Osten] eine Region, die für sie wesentlich weniger interessant wäre. Glauben Sie, dass die USA ihre engen Beziehungen zu, sagen wir, Saudi-Arabien beibehalten würde?
Ich kann mir nicht vorstellen, warum das der Fall sein sollte. Die eigentliche Bedeutung von Saudi Arabien würde signifikant abfallen, da der ganze Nutzen für ihr Öl verloren gehen würde. Ich schätze auch, dass die sozialen Probleme vor Ort rapide ansteigen würde. Das ist noch eine andere Aspekt: Aus einem geopolitischen Standpunkt gesehen glaube ich, dass wir einen neuen arabischen Frühling sehen würden—diesmal auf Stereoiden—wenn die konservativen Monarchien am Golf, die ihren Reichtum dafür verwenden, politische Widersacher ruhigzustellen, dies nicht mehr tun können.

Illustration von Sam Taylor

Welchen Effekt würde diese neue Technologie auf Entwicklungsländer haben, die extrem von Öl abhängig sind?
Das ist schwer einzuschätzen. Für Länder wie zum Beispiel Nigeria, das den Großteil seines Reichtums durch Öl erwirtschaftet, würde das wohl einen signifikanten [Schaden an ihrer Wirtschaft] ausrichten. Kurzfristig wäre das sehr schlecht, da das Geld, das sie mit dem Öl verdienen, sofort wegfallen würde, während die Vorteile, die die neue Technologie mit sich bringt, auf sich warten lassen würden.
Ein anderes Argument ist, dass viele Städte in Afrika, China und Südasien bereits unter zu starkem Verkehrsaufkommen und verstopften Straßen leiden. Dabei haben wir noch nicht einmal den Status erreicht, an dem der durchschnittliche Bürger ein eigenes Auto besitzt. In Delhi ist es heute schon praktisch unmöglich, von einem Ende der Stadt ans andere zu gelangen. Man kann sich also vorstellen, dass billiger Treibstoff dazu führen würde, dass die Straßen in solchen Städten noch schlimmer blockiert werden. Auch die russische Wirtschaft ist bekanntermaßen sehr abhängig vom Öl. Welchen Effekt könnten wir dort erwarten?
Es ist etwas lächerlich, dass Russland immer mit  dieser Gruppe [von reichen Staaten] in einen Topf geworfen wird, weil Russlands Wachstum und Entwicklung über die letzten Jahrzehnte fast ausschließlich auf seine natürlichen Ressourcen zurückzuführen war—Öl und Gas. Wenn diese plötzlich ihren Wert verlieren, wird es schwer für ein Land wie Russland, dessen Bevölkerung immer mehr zurückgeht, sich neu zu orientieren. Eine Weile wird es aufgrund seiner Atomwaffen und seiner militärischen Macht noch seine Position behaupten können, aber auch für diese Dinge würde der Regierung bald das Geld fehlen. Russland würde stark abrutschen. Und gleichzeitig wären wir vielleicht wieder mit den gleichen Problemen konfrontiert wie in den frühen 90ern, mit all diesen Atomwaffen, die herumliegen. Wenn Russland sich nicht mehr halten kann, was passiert dann mit diesen Atomwaffen? Russland würde sich zu einer extremen Problemzone entwickeln. Glauben Sie, dass terroristische Vereinigungen an Macht gewinnen könnten, während die Regierung an Stärke verliert?
Es kommt darauf an—an Orten wie Tschetschenien, wo es bereits starke gegen die Regierung gerichtete Strömungen gibt, bestimmt. Würde Russland seine Vormachtstellung in Osteuropa ohne das Öl einbüßen? Wie würde sich zum Beispiel die Lage in der Ukraine verändern?
Es würde die politischen Vorgänge nicht mehr so einfach beeinflussen können. Aber die Osteuropäer erkennen die russische Militärmacht an und Russland ist ihnen weiterhin viel näher als der Westen.