Was Anonymous bisher tatsächlich gegen den IS getan hat

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Was Anonymous bisher tatsächlich gegen den IS getan hat

Die Medien feiern #OpParis als Befreiungsschlag. Wir haben uns die jüngsten Veröfentlichungen und Aktionen von Anonymous genauer angeschaut.

Foto: Screenshot YouTube 

Seitdem Anonymous-Hacker mit ihrer Rache-Operation für die Anschläge von Paris begonnen haben, werden die Hacktivisten in sozialen Netzwerken und zahllosen Artikeln dafür gefeiert. Die gewohnt martialische Rhetorik der Anons scheinen sich dabei auch die Medien zu eigen gemacht zu haben: „IS reagiert mit Panik auf Kriegserklärung von Anonymous" schreibt der Focus, „Anonymous hat die ersten IS-Kämpfer enttarnt" die Bild.

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Tatsächlich werden im Zuge von #OpParis seit dem Wochenende verschiedene Listen und Datensätze verbreitet, die sowohl Social-Media-Accounts als auch Websites, IP-Adressen, E-Mail-Adressen und VPN-Daten von angeblichen IS-Unterstützern zeigen sollen. Auf PasteBins und auch in IRC-Kanälen sollen außerdem persönliche Informationen von Terror-Verdächtigen kursieren—allerdings bleibt unklar, ob die Hacktivisten dabei tatsächlich Unterstützer des IS erwischt haben. Definitiv bestätigen konnte das bisher jedenfalls niemand.

Hacker, die sich bemühen, #OpParis zu koordinieren, erklärten gestern gegenüber Motherboard in einer Direktnachricht, in wenigen Tagen bereits 5.500 Twitter-Accounts gemeldet zu haben. Die Hacker hätten dafür spezielle Bots geschrieben, die Twitter crawlen und verdächtige Inhalte melden. Auch eine spezielle Website haben sie aufgesetzt, diese scheint sich allerdings noch im Aufbau zu befinden.

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Das Auffinden möglichst vieler IS-naher Konten, die Twitter dann offline nehmen soll, hat allerdings erstmal nicht übermäßig viel mit Hacking zu tun. Andere Anonymous-Hacker, die schon länger unter #OpISIS gegen den Islamischen Staat kämpfen, haben sich daher auch öffentlich von #OpParis distanziert.

Kontraproduktives Löschen?

Sie weisen darauf hin, dass das Melden von Twitter-Accounts sogar kontraproduktiv sein könne, da so wertvolle Erkenntnisse für Geheimdienste verloren gehen. Viel mehr sehen sie in #OpParis pure Effekthascherei. So schreibt Anon Discordian (ebenfalls auf PasteBin): „Die Operation hat nichts mit dem Kampf gegen den IS zu tun, es geht um das Ego von Anonymous; ein verzweifelter Versuch, relevant zu sein."

Gleichzeitig stellten die Anons, die über den Sinn von #OpParis debattierten, klar, dass Anonymous sich schon lange deutlich gegen den IS positioniert: „Anonymous sollte immer gegen den Terror kämpfen", betonte ein Anon mit dem Namen Backlash. Er ist Teil der Anon-Gruppe, deren Tweet über eine Kriegserklärung gegen den IS viral ging.

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Eine der von #OpParis veröffentlichten Listen ist übrigens eine exakte Kopie einer Liste, die bereits im Februar von der Anonymous-Gruppe RedCut veröffentlicht worden war. Dass viele der dort aufgeführten Accounts mittlerweile offline sind, ist klar.

Schrumpfende Netzwerke

Auch könnte das Verschwinden von Twitter-Accounts auf eine neue Taktik der IS-Supporter zurückzuführen sein: Im Abstand weniger Stunden ändern sie ihre Twitter-Namen und entgehen so einer Meldung durch Anons, behalten aber gleichzeitig alle Verbindungen ihres Twitter-Kontos.

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Der IS-Experte J. M. Berger erklärte gegenüber Motherboard, dass die Zahl der Accounts von IS-Kämpfern und -Unterstützern „seit diesem Sommer konstant geblieben ist." Im März konnte Berger in einer ausführlichen Studie zeigen, wie viele Twitter-Accounts der IS überhaupt nutzt: Innerhalb von drei Monaten seien mindestens 46.000 Twitter-Accounts verwendet worden.

Berger betonte auch, dass eine erfolgreiche Löschung von Usern durchaus ein Problem für den IS darstellen kann: „Wenn Accounts von einem Nutzer wiederholt gelöscht werden, dann schrumpft ihr Netzwerk empfindlich."

IRC-Zulauf

Die Anon-Hacker haben derweil nach den Paris-Attentaten enormen Zulauf bekommen. Auf den IRC-Kanälen wie AnonOps tummeln sich zahlreiche Neueinsteiger. Die breite mediale Aufmerksamkeit war also nicht nur gute Werbung für Anonymous, sondern zeigt auch, dass viele Menschen im Kampf gegen den IS etwas unternehmen wollen.

Die bisher sichtbarste Hacking-Aktion im Zuge von #OpParis sind dabei die Abschaltungen von Websites aus dem IS-Netzwerk. Diese wurden allerdings von den technisch versierteren Hackern des Anonymous-Ablegers #GhostSec veranlasst. Der Blick auf eine entsprechende Liste zeigt, dass tatsächlich viele Seiten temporär nicht erreichbar waren bzw. es noch immer nicht sind.

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Zahlreiche Medien meldeten gestern Abend, dass Anonymous bereits begonnen habe, physische Adressen von IS-Mitgliedern zu veröffentlichen. Diese Information basiert allerdings einzig und allein auf einem Artikel des britischen Independent, der nur von den persönlichen Daten einer einzigen Person spricht und dafür einen Post unbekannter Herkunft als Quelle nennt. Ob es sich bei der veröffentlichten Identität tatsächlich um ein IS-Mitglied handelt, und ob auch Identitäten von IS-Rekrutierern öffentlich geleakt wurden, wie mancherorts behauptet wurde, konnte allerdings nicht verifiziert werden.

Anonymous wurde bereits in der Vergangenheit dafür kritisiert, Personen fälschlicherweise als Extremisten identifiziert zu haben. Und auch im aktuellen Kampf um Medienaufmerksamkeit werden von den Hacker fragwürdige Informationen verbreitet. So findet sich auf PasteBin unter anderem folgender Eintrag, der aus dem #OpParis-Umfeld stammt und das Instagram-Profil eines Iraners veröffentlicht, mit der Behauptung, es handele sich um ein "IS-Mitglied".

Fail bei der Instagram-Identifizierung

Als Begründung liefert man ein Bild mit der Unterschrift „fire on paris again soon" und den Hashtag #22november2015. Während schon ein Blick auf die weiteren Bilder des Accounts nahelegt, dass es sich hier nicht um ein IS-Mitglied handelt, benutzt der anonyme Verfasser des PasteBins das Datum tatsächlich zur Panikmache und sucht auf ResidentAdvisor nach Events, die am 22. November in Paris stattfinden.

Bei einem genaueren Blick entpuppt sich die Geschichte von den Hackern als Rettern des Abendlandes also bisher als eher unspektakulär. Tatsächlich organiseren Anon-Hacker nämlich bereits seit Juni 2014 Online-Operationen gegen den IS, die besonders nach Charlie Hebdo noch einmal intensiviert wurden. Für einen jahrelangen Online-Kampf sind die Ergebnisse daher leider eher dürftig.

Wie die Hacker von #OpParis uns erklärten, soll aber in Zukunft nach den Twitter-Accounts noch viel mehr passieren: „Es wird eine zweite Phase geben, über die wir euch leider wenig verraten können."

Wir werden den Artikel entsprechend der laufenden Aktionen von Anonymous-Hackern aktualisieren. Sollten sich neue Erkenntnisse über weitere Aktionen und ihre Auswirkungen ergeben, werden wir an dieser Stelle entsprechende Updates veröffentlichen.

Update: 19.11.: Wir haben die Einschätzungen des IS-Experten über die Wirksamkeit und das Ausmaß der Twitter-Abschaltung mit in den Artikel aufgenommen. Zur besseren Lesbarkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt.