„Es sah aus wie das Ende der Welt“: meine Türkei, der Putschversuch und ich
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Politik

„Es sah aus wie das Ende der Welt“: meine Türkei, der Putschversuch und ich

Ich habe den gescheiterten Putschversuch in Istanbul miterlebt und versuche seither, aus der zunehmend autoritären Regierung und der Angst der Menschen schlau zu werden.

Während meiner Kindheit in Istanbul haben mir meine Mutter und Großmutter von mehreren Putschversuchen erzählt. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mal selbst einen miterleben würde.

Meine Mutter kann sich noch erinnern, wie sie eines Tages von zu Hause Richtung Schule losgegangen ist und gesehen hat, wie ein Panzer mit einer Gruppe von Soldaten die Straße blockierte, als sie gerade um die Ecke bog. Einer der Offiziere wies sie freundlich darauf hin, dass es einen Putschversuch gegeben hatte und bat sie, wieder nach Hause zu gehen. Als sie zu Hause ankam, konnte ihr meine Großmutter gar nicht glauben, bis sie das Radio anmachte und es mit ihren eigenen Ohren hörte. Dabei hat sie selbst bereits zwei Putschversuche erlebt—einen 1960 und einen 1971.

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Ich habe von dem jetzigen Putschversuch über zehntausende Nachrichten und Anrufe sowie durch Millionen von Tweets, Facebook-Statusnachrichten, tausende Instagram-Posts und Periscope-Meldungen erfahren. Ich war 36 Stunden vorher in Istanbul gelandet und war gerade dabei, mich wieder an die Stadt zu gewöhnen, in der ich groß geworden bin und die ich immer so geliebt habe.

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Seit fünf Jahren lebe ich in New York. Seitdem hat die regierende AKP Istanbul in eine betonierte Megametropole verwandelt, in der religiöse Phrasen und aufgewärmte Mythologien widerhallen. In meiner Abwesenheit wurde der ehemalige Premierminister Recep Tayyip Erdoğan zum ersten direkt gewählten Präsident der Türkei. Seine Machtposition verdankt er in erster Linie der religiösen, konservativen Basis des Landes. Der zunehmende Einfluss seiner Unterstützer wird in den kleinen Dingen direkt sichtbar, zum Beispiel, dass die Gesellschaft plötzlich nicht mehr so tolerant gegenüber persönlichen Freiheiten ist. Weniger offensichtlich war dagegen Erdoğans laufende Zensur von Journalisten, der Aufbau eines zunehmend autoritären Systems und die vermehrte staatlich gestützte Polizeigewalt, zu der es in den letzten Jahren immer wieder kam.

Das hatte ich aber alles nicht im Kopf, als ich in den Abendstunden des 15. Juli meinen ersten Tag in Istanbul ausklingen ließ. Als mein Handy gegen 11 Uhr abends plötzlich von Nachrichten überschwemmt wurde, saß ich gerade mit meinem Freund Ali am Bosporus. Es war ein wirklich schöner Abend und ich versuchte mich gerade daran zu erinnern, warum ich die Stadt damals eigentlich verlassen hatte. Durch die Welle an Nachrichten und Anrufen habe ich erfahren, dass Panzer und Soldaten die beiden Brücken blockiert hatten, die den europäischen und den asiatischen Teil der Stadt miteinander verbinden. Der aufgeregteste Anruf kam natürlich von meiner Mutter, die mittlerweile in einer anderen Stadt wohnt. Sie stand gerade in der Schlange vor der Tankstelle.

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Ali und ich sahen uns ungläubig an. Als wir uns umsahen, bemerkten wird, dass Leute aufgeregt herumrannten. Wenn ich mich später an diese Nacht zurückerinnern werde, werde ich mich immer an die besorgten Gesichter der Menschen im kalten, fahlen Licht ihrer Handybildschirm erinnern, die alle so schnell liefen, wie sie nur konnten. Wir rannten zu Alis Motorrad. Währenddessen hörten wir die anderen Passanten am Telefon—manche flüsternd—und sahen Leute, die versuchten, die Geschehnisse in Echtzeit über Twitter und Facebook zu posten.

Wir fuhren den Bosporus hoch, an den felsigen Hängen von Arnavutköy entlang, vorbei an den letzten noch vorhandenen wunderschönen osmanischen Holzhäusern aus dem 18. Jahrhundert. Wir passierten mehrere Straßenabsperrungen von nichtuniformierten Polizisten in schusssicheren Westen, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren. Die Zweite Bosporus-Brücke leuchtete aus Solidarität mit den Franzosen wegen der Terroranschläge in Nizza, die am Abend zuvor stattgefunden hatten, in den Farben Rot, Weiß und Blau.

Bis auf ein paar überlaufene Bakkals—Nachbarschaftsläden, denen Brot, Wasser, Nudeln und Zucker schon auszugehen drohten—waren die Straßen zu diesem Zeitpunkt schon wie leer gefegt. Es sah aus wie das Ende der Welt. In den darauffolgenden vier Stunde dachte ich keinen Moment daran, nach meine Twitter-Nachrichten zu checken, bis der erste Schock einem noch viel schlimmeren Gefühl wich: Einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft meines Heimatlandes.

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Meine Tante saß zu Hause aufmerksam vor dem Fernseher. In der einen Hand hielt sie ihr Handy und in der anderen ihr iPad. Sie schaltetet immer wieder zwischen zwei Kanälen hin und her, um die Live-Berichterstattung zum Putschversuch zu verfolgen und tippte währenddessen auf den beiden Geräten in ihren Händen herum. Ein Nachrichtensprecher meldete sich über den staatlichen Fernsehsender TRT zu Wort und verlas ein ausführliches, sorgfältig formuliertes Statement des Militärs. Darin erklärten sie die Gründe für ihr Eingreifen. Obwohl es kaum jemand zugeben würde—jetzt weniger denn je, weil es infolge des Putschversuches noch leichter geworden ist, als Unterstützer des Putsches gebrandmarkt zu werden—, schienen die Gründe angesichts der Politik der regierenden AKP nicht ganz so weit hergeholt. Sie sprachen unter anderem davon, dass der Präsident und der Staat zu autoritär geworden waren, dass Korruption Gang und Gebe geworden und das Rechtssystem vorsätzlich unwirksam gemacht worden sei.

Später habe ich erfahren, dass derselbe Text schon bei den letzten drei Putschversuchen immer und immer wieder vorgelesen und nur hier und da den Umständen entsprechend angepasst worden war. Ich ging in die Küche und machte mir mit zitternden Händen einen Gin Fizz.

Es war schon kurz nach Mitternacht und auf der Straße herrschte Totenstille. Präsident Erdoğan meldete sich über die türkische Zweigstelle der CNN via FaceTime zu Wort. Er sah aschfahl aus vor dem verschwommenen weißen Vorhang im Hintergrund. Er lehnte den Putschversuch ab und rief die Leute dazu auf, auf die Straße zu gehen und die Demokratie zu verteidigen.

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„Das ist wie in einem schlechten Science-Fiction-Film", stellte Ali fest. Ich nickte nur zustimmend. Da waren wir: Kampfjets flogen tief über die Häuser, Regierungsgebäude und Fernsehkanäle wurden von gesichtslosen Rebellen übernommen, die sich live im Fernsehen zu Wort meldeten und der Präsident, der sich an einem geheimen Ort aufhielt, sprach in den Händen einer Nachrichtenmoderatorin per Videoanruf zu den Leuten. Es fühlte sich irgendwie falsch an, einfach hilflos zuzusehen, aber ich konnte auch nicht wegsehen.

Meine Freunde in Nisantasi, der westlichsten Gegend in Istanbul, schrieben mir und meinten, dass sie Schüsse gehört hatten. Anscheinend waren einige Männer dem Aufruf Erdoğans gefolgt und raus auf die Straße gegangen, um die Panzer und Fußsoldaten anzugreifen. Das Land, das ich da im Fernsehen sah, sah nicht aus wie meine Heimat. Ich war genauso verunsichert wie damals, während den Demonstrationen im Gezi-Park, als Zivilisten verprügelt, mit Tränengas beworfen oder von der Polizei festgenommen und Frauen wie ich an den Haaren auf den Bürgersteig gezogen wurden. Obwohl ich gegen den Putsch war, wusste ich, dass ich neben diesem Mob aus Männern auf der Straße nicht willkommen gewesen wäre.

In der undurchdringbaren Dunkelheit schufen Feuer, Schüsse, Bomben und Anonymität eine Atmosphäre der Angst. Als Erdoğan am nächsten Morgen gegen 7 Uhr auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul landete, der nur zwei Wochen zuvor vom IS angegriffen wurde, und verkündete, dass die Putschisten „einen hohen Preis für ihren Verrat an der Türkei" bezahlen würden, hatten alle Angst—und haben sie immer noch.

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Was mir jetzt nach dem gescheiterten Putschversuch am meisten Angst macht, ist, wie still und vorsichtig Leute wie ich geworden sind. Aus Angst vor der bevorstehenden Hexenjagd, haben meine Freunde nach und nach alle ihre Social-Media-Profile privat gemacht—einfach nur, weil sie sich im Verlauf ihres Lebens mal Erdoğan widersprochen haben. Es ist immer schwieriger geworden, seine Meinung zu sagen. Selbst dann, wenn man zwar gegen den Putschversuch, aber kein Erdogan-Anhänger ist. Wer es doch tut, läuft Gefahr, des Hochverrats beschuldigt zu werden—sowohl von Seiten der jungen AKP-Anhänger als auch von der mittlerweile unkontrollierbar großen Gruppe bekannter Online-Trolle der Partei.

In den letzten Wochen hat Erdoğan die Gülen-Anhänger in der türkischen Armee für die Durchführung des Putschversuches verantwortlich gemacht hat. Nun verkündet die Regierung, dass die Demokratie gesiegt hat: Der 15. Juli, der Tag des Putschversuchs, wurde zum „Tag der Demokratie" ernannt und wird noch immer mit zahlreichen Kundgebungen gefeiert. An öffentlichen Plätzen hängen nun Fahnen mit dem Gesicht von Erdoğan direkt neben dem von Atatürk, dem Gründungsvater der Türkei. Viele von diesen Plätzen haben neue Namen bekommen, irgendwas mit „Demokratie", „Märtyrer" und „Sieg".

Nur eine Woche nach dem „Sieg der Demokratie" hat Erdoğan den Ausnahmezustand ausgerufen, der die Regierung bevollmächtigt, Ausgangsperren zu verhängen, Versammlungen zu verbieten und Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss durchzuführen. Die Regierung hat nun auch die Vollmacht darüber, Zeitungen, Magazine oder irgendwelche anderen Medien über Nacht zu verbieten. Der Ausnahmezustand ist bis heute noch in Kraft, obwohl der Putschversuch schon Wochen her ist.

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Im vergangenen Monat wurden mehr als 60.000 Regierungsmitarbeiter entlassen, festgenommen und unter Beobachtung gestellt. Laut Amnesty International gibt es Beweise dafür, dass Gefangene gefoltert und vergewaltigt wurden und die Untersuchungen noch immer nicht von unabhängigen Stellen überwacht werden. Viele Menschen wissen nicht, wo ihre Angehörigen abgeblieben sind oder unter welchen Bedingungen sie festgehalten werden. Während ich diesen Artikel geschrieben habe, wurden dutzende Medienkanäle in der Türkei geschlossen und zahlreiche Journalisten verschiedener Stellen sind nach wie vor im Gefängnis. Seit letzter Woche steht auch die berühmte Autorin, Kolumnistin und Menschenrechtsaktivistin Asli Erdoğan auf dieser langen Liste von Namen.

Unterm Strich scheint die Vereitelung des Putschversuchs, von der ich selbst Zeuge geworden bin, nur der Anfang eines neuen Kapitels in der Geschichte der Türkei unter Erdoğan zu sein—einer, von der die Regierung früher nur hätte träumen können. Ich dagegen werde mich auf die Suche nach einer Türkei machen müssen, die mich auch nur im Entferntesten an das Land erinnert, in dem ich groß geworden bin.