VICE DE - MOTHERBOARDRSS feed for https://www.vice.com/de/topic/motherboardhttps://www.vice.com/de%2Ftopic%2FmotherboarddeSat, 01 May 2021 12:40:41 GMT<![CDATA[Loop Giveaways: Das Riesengeschäft mit echten Followern auf Instagram]]>https://www.vice.com/de/article/88najz/loop-giveaways-das-riesengeschaft-mit-echten-followern-auf-instagramSat, 01 May 2021 12:40:41 GMT5.000 bis 10.000 neue Follower für 450 Euro. "Das wird krachen!!" Es ist der 5. Dezember 2020 und in einer geschlossenen Telegram-Gruppe für Influencerinnen wird mal wieder für ein limitiertes Angebot getrommelt. Bis zu sechs Kaufwillige können sich demnach eine kostenpflichtige Follower-Spritze genehmigen. Nach ein paar Stunden meldet sich die erste Interessentin: "Ich wäre dabei."

"Gerne Liebes", schreibt die Administratorin, dazu ein Herzchen-Emoji. Das gehört zum guten Ton in der Gruppe. Noch am selben Tag heißt es, die sechs Plätze seien ausverkauft. Sechs mal 450 Euro. Und das ist noch eine kleine Summe. Ende April erscheint in der Telegram-Gruppe ein Angebot, das 40.000 bis 70.000 neue Follower bringen könne. Kostenpunkt: offenbar 5.800 Euro. Für die meisten Deutschen entspräche das knapp drei Netto-Gehältern.

Hinter den Angeboten stehen sogenannte "Loop Giveaways". Außerhalb der Influencer-Szene ist das vermutlich ein Fremdwort. Das System dahinter hat der YouTuber Robin Blase jetzt in einem neuen Video auf seinem Kanal RobBubble durchleuchtet. VICE konnte seine Recherche-Ergebnisse bereits vor der Veröffentlichung sichten und durch eigene Recherchen ergänzen.  

Bei einem "Loop Giveaway" verlost ein Instagram-Account Produkte wie MacBooks oder PlayStations. Um mitzumachen, müssen Interessierte nichts weiter tun, als einer Handvoll anderer Instagram-Accounts zu folgen. Dadurch nehmen sie an der Verlosung teil und dürfen auf einen Gewinn hoffen. Der Clou: Die Accounts, die durch das Gewinnspiel einen Schwall neuer Follower bekommen, haben vorher genau dafür gezahlt.

Rapper sollen Reichweite bringen

Moiskid hat einen Stapel Sony- und Apple-Produkte vor sich stehen und imitiert ein Telefongespräch
Teilnahmebedingungen bei einem Gewinnspiel auf dem Account von Mois | Screenshot: Instagram | moiskid 

Für diese Recherche haben wir insgesamt 21 Instagram-Accounts gesichtet, die Loop Giveaways veranstalten, sowie Hunderte Nachrichten in geschlossenen Telegram-Gruppen. Die Veranstalterinnen der Gewinnspiele kommen oft selbst aus der Influencer-Szene – und sie lassen einige Gewinnspiele von bekannten Influencern promoten, damit mehr Menschen daran teilnehmen. Diese Influencer posten dann auf ihrem eigenen Account ein Bild mit dem Hinweis auf das Gewinnspiel. Dafür können sie eine Gage erhalten. 

Jüngst hat der YouTuber und Rapper Mois bei einem Giveaway mitgemacht: Am 11. April erscheint auf seinem Instagram-Account ein Bild mit unter anderem sechs Spielekonsolen, drei AirPods, drei iPads und zwei iPhones. Bildbeschreibung: "Ab und zu muss gegönnt werden". Versprochen wird ein "richtig halales Gewinnspiel". Teilnahmebedingung: ein paar anderen Instagram-Accounts folgen. 

Für Mitte Juni ist offenbar ein Gewinnspiel mit einer großen deutschsprachigen Rapperin geplant, die mehrere Millionen Instagram-Follower hat. Das geht aus einem Angebot in einer der Telegram-Gruppen hervor. Der Preis wird nur auf direkte Nachfrage per Privatnachricht verraten: 5.800 Euro solle es demnach kosten, um durch das Gewinnspiel Follower zu sammeln. Insgesamt würden etwa 25 solcher Plätze verkauft. Zusammengerechnet entspräche das 145.000 Euro. Weder das Management der Rapperin noch das von Mois hat unsere Fragen zu den "Loop Giveaways" beantwortet.

Für Fans könnte bei Gewinnspielen der Eindruck entstehen, das eigene Idol verschenke großzügig teure Gadgets aus eigener Tasche, um der Community etwas zurückzugeben. In Wirklichkeit bekommen manche Influencer aber sogar eine Gage dafür, dass sie das Gewinnspiel bei sich promoten. Das Geld kommt in diesem Fall eigentlich von den kleineren Influencern, die damit neue Follower sammeln wollen. 

Mehr Follower um jeden Preis

Auf einem Split Screen halten sechs Frauen teure Technikprodukte in die Kamera
Bei Giveaways wandern Gadgets, Geld und Follower | Screenshot: Instagram | maedels_gewinnspiele

Ein Mitglied aus einer der Telegram-Gruppen schreibt uns, es gebe heute leider keinen anderen Weg mehr, um relativ schnell zu wachsen. Wer das auch so sieht und es sich leisten kann, investiert in Loop Giveaways.

Verboten ist all das nicht. Das System hinter den Loop Giveaways zeigt, wie erbittert auf sozialen Medien inzwischen um Reichweite gerungen wird, und wie bereitwillig einige Menschen dafür Tausende Euro hinblättern. Follower werden dabei wie Rohstoffe gehandelt – mit dem Ziel, aus der daraus gewonnenen Reichweite zu profitieren.

Im Jahr 2019 haben wir berichtet, wie Hacker unter anderem mithilfe von Bots massenhaft Instagram-Accounts generieren. Deren Likes und Follows werden über Zwischenhändler auf dubiosen Online-Shops vertickt. Im Gegensatz zu dieser virtuellen Applausfabrik haben die Loop Giveaways einen großen Vorteil: Die durch Gewinnspiele gesammelten Followerinnen und Follower sind mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Bots, sondern Menschen. Mit ein bisschen Glück könnten zumindest einige davon zu engagierten Followern werden. Und das ist auf Instagram sehr viel wert.

In den Instagram-Richtlinien heißt es, man solle nicht versuchen, "künstlich" Abonnenten zu sammeln. Trotzdem toleriert es die Plattform, wenn Accounts mithilfe von Gewinnspielen massenhaft Followerinnen sammeln. Entspricht das noch den Richtlinien? Die Pressestelle von Instagram möchte zwar nicht im Wortlaut zitiert werden, bestätigt aber sinngemäß, dass das in Ordnung sei.

"Wir machen keinen Euro Gewinn"

Ein Screenshot zeigt die Instagram-Story des Accounts maedels-Gewinnspiele
Instagram-Gewinnspiele ohne Profit? | Screenshot: Instagram | maedels_gewinnspiele

Möchte man mithilfe eines Gewinnspiels eine Follower-Spritze bekommen, führt der Weg oft zunächst in eine Telegram-Gruppe. In einer von uns beobachteten Gruppe sind mehr als 150 Mitglieder, in einer anderen mehr als 220. Die meisten sind offenbar weiblich. Bei einigen lassen sich mithilfe von Profilfoto oder Namen öffentliche Instagram-Accounts zuordnen. 

Die Themen der Influencerinnen ähneln sich stark, ihre Posts drehen sich um Beauty, Mode, Mutterschaft und Reisen. Viele haben auf Instagram unter 100.000 Follower. Ein paar Tausend neue fallen da durchaus ins Gewicht. 

Nach außen verkaufen Giveaway-Seiten das kostenintensive Geschäft mit den Followern gerne als Akt der Großzügigkeit. "Wie kann man nur so liebenswürdig sein und so eine tolle Gewinnaktion starten?!", lautet eine Frage aus der Community, die der Account "giveback_giveaways" auf dem eigenen Profil als Story angepinnt hat. Antwort: "Das wissen wir sehr zu schätzen und freuen uns, dass es nicht als selbstverständlich angesehen wird." 

Das Business scheint derweil genau durchkalkuliert. Auf dem Markt, so heißt es im Februar in einer Telegram-Gruppe, seien 1.000 neue Follower um die 200 Euro wert. In einer Beispielrechnung wird in der Gruppe zudem aufgeschlüsselt, wie die Preise für die Platzierungen bei einem Gewinnspiel zustande kommen. Demnach würden damit bloß die Gage für den Internet-Promi, Sachpreise, Versand und Bildbearbeitung gedeckt. Gewinn für die Veranstalterin des Gewinnspiels scheint nicht vorgesehen. 

Auch die Seite "maedels_gewinnsiele" betont in einer angepinnten Instagram-Story: "Wir machen damit keinen Euro Gewinn." Warum eigentlich nicht? Wir wollten das – und mehr – von den beiden erwähnten Gewinnspielseiten wissen. Auf unsere Nachrichten mit mehreren Fragen gab es bis zum Redaktionsschluss keine Antwort.

Wenn nicht in Euro, so werden die Veranstalterinnen und Veranstalter der Gewinnspiele doch zumindest in Followern bezahlt. Denn während andere stolze Summen für eine Platzierung ausgeben, bekommen sie dabei Follower für lau.

Ein besonderes Angebot gibt es für Influencerinnen, die lieber diskret auftreten möchten. Eigentlich soll man die Gewinnspiele, in die man sich einkauft, auch auf dem eigenen Account promoten. Für einen Aufpreis kann man sich jedoch von dieser Pflicht befreien lassen. "Ghostplatz" nennt das die Community auf Telegram, Geisterplatzierung. Die eigene Community erfährt in diesem Fall nicht direkt, dass man gerade für Geld Follower bekommen möchte.

Follower-Spritze mit Nebenwirkungen

Allein mit "Loop Giveaways" lässt sich wohl keine erfolgreiche Online-Karriere aufbauen. Um als Influencer nachhaltig Geld zu verdienen, braucht man eine aktive Community, die viele Likes und Kommentare hinterlässt. Sorgfältige Werbekundinnen überprüfen so etwas in den Statistiken. Einige durch "Loop Giveaways" gesammelte Follower sind aber eher Karteileichen, zu viele davon können der Statistik schaden. Zu einem solchen Schluss kommt auch Instagram-Analystin Mona Hellenkemper im Gespräch mit dem Magazin Online Marketing Rockstars.

Sogar die Administratorin einer Telegram-Gruppe für "Loop Giveways" mahnt zur Vorsicht. Sie erklärt in der Gruppe sinngemäß, dass man den neuen Followern auch etwas bieten müsse, damit sie bleiben. Eine direkte Telegram-Nachricht von uns mit weiteren Rückfragen lässt sie unbeantwortet.

Trotz der Risiken scheint das Angebot viele zu verlocken. Im November schreibt eine Nutzerin stolz in die Gruppe, sie habe die 30.000-Abo-Marke geknackt. Zuvor hatte sie sich in der Gruppe für eine Platzierung zum Preis von mehreren Hundert Euro gemeldet. Und das möchte sie offenbar wiederholen. Nur ihren Mann, schreibt sie, den müsse sie noch schonend vorbereiten.

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<![CDATA[Verbotene Brüste: Wir veröffentlichen die Fotos, die Instagram gelöscht hat]]>https://www.vice.com/de/article/xgzxqq/instagram-loescht-fotos-mit-bruesten-wir-veroeffentlichen-sieFri, 06 Nov 2020 07:30:00 GMTInstagram hat eine strenge Kleiderordnung. Menschen müssen ihre Körper ausreichend verhüllen, wenn sie sich auf der größten Fotoplattform der Welt zeigen möchten. Vor allem, wenn sie Brüste haben, denn weibliche Brustwarzen sind auf Instagram laut Richtlinien weitestgehend tabu. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Skulpturen und Gemälde sowie Frauen, die stillen oder ihre Narben nach einer Brustamputation zeigen.

So strikt ist nicht einmal die FSK, die in Deutschland Altersfreigaben für Filme erteilt. Ein führender FSK-Mitarbeiter erklärt auf einer Infoseite, Nacktheit allein sei kein Grund, einen Film nicht auch für jüngere Kinder freizugeben. Sogar katholische Kirchenfenster zeigen die biblische Eva mit entblößten Brüsten. Aber wenn es um Nacktheit geht, sind Instagram und Mutterkonzern Facebook päpstlicher als der Papst.

VICE-Recherchen zeigen nun: Bis vor Kurzem hat Instagram bei Nacktheit eine noch strengere Linie verfolgt als bisher bekannt. In mehreren Fällen wurden selbst solche Inhalte entfernt, die eigentlich erlaubt sein sollten. 

Acht Tattoo-Künstlerinnen und -Künstler hatten sich bei VICE gemeldet, weil Instagram einen oder mehrere ihrer Uploads überraschend entfernt hatte. Die auffällige Gemeinsamkeit der gelöschten Fotos: Sie zeigen Frauen, die ihre Brüste mit den Händen verhüllen.

Instagram verbietet "impliziten" Geschlechtsverkehr

Instagram-Upload von Jen Tonic: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
"Es geht ja gerade darum, die Brustwarzen zu verhüllen" | Foto: JenTonic

Eine der betroffenen Tätowiererinnen ist Jen Tonic. Sie arbeitet in einem Tattoo-Studio in Berlin-Neukölln und präsentiert ihre Arbeit auf Instagram. Dort folgen ihr inzwischen mehr als 300.000 Accounts. Anfang Oktober wurden gleich vier ihrer Uploads von Instagram gelöscht, angeblich wegen "Nacktheit" oder "sexuellen Handlungen". 

In einer Mitteilung an Jen erklärte Instagram, sie habe gegen "Richtlinien zu sexuellen Inhalten" verstoßen. Verboten sind demnach unter anderem "impliziter Geschlechtsvekehr" und die "Stimulierung von Genitalien, After, unbedeckten weiblichen Brüsten und Brustwarzen". Nur – was hat das mit Jens Fotos zu tun? 

"Ich finde es anmaßend, einer Kundin von mir vorzuwerfen, dass sie eine sexuelle Handlung vollzieht, nur weil sie ihre Brüste bedeckt. Das ist völlig daneben", sagt Jen gegenüber VICE. Die Frauen würden einfach ihre Tätowierungen zeigen, und manche seien eben in der Nähe der Brüste. "Es geht ja gerade darum, die Brustwarzen zu verhüllen, weil das auf Instagram nicht erlaubt ist." 

Als VICE die Pressestelle von Instagram mit dem Fall konfrontiert, gesteht die Firma einen Fehler ein. Die Posts seien fälschlicherweise von der Plattform genommen worden und nun wieder online, wie eine Sprecherin mitteilt. "Kürzlich haben wir unsere Regeln in Bezug auf bedeckte Brüste überarbeitet." 

Das Timing ist interessant; der zeitliche Zusammenhang zwischen der Presseanfrage von VICE und dem Update der Instagram-Regeln für "bedeckte Brüste" könnte aber auch reiner Zufall sein oder mit dem prominenten Fall des US-Models Nyome Nicholas-Williams zusammenhängen, die ein ähnliches Problem hatte.

Jen Tonic bestätigt gegenüber VICE, dass zumindest zwei ihrer vier gelöschten Fotos wieder online seien. Die verbliebenen zwei befänden sich aber noch in Überprüfung, wie ein Screenshot von ihr zeigt. Insofern war es offenbar nur teilweise korrekt, dass die Fotos wieder zu sehen sein sollen.

In einem weiteren Teil der E-Mail, den wir nicht direkt zitieren sollen, geht die Sprecherin näher auf die Hintergründe der Löschungen ein. Demnach sei das Zusammendrücken von Brüsten auf Instagram verboten. Mit einem Update der Richtlinien wolle Instagram aber auf Feedback reagieren.

Die neuen Regeln lassen sich sinngemäß so zusammenfassen: Die eigenen Brüste anzufassen ist OK, sie zu kneten ist verboten. So sei es künftig erlaubt, wenn Menschen sich selbst umarmen würden oder die eigenen Brüste hielten. Weiterhin nicht erlaubt sei aber eine Greifbewegung, die eine deutliche Veränderung im Bereich der Brüste ergebe.

Kurzum: Es sollte wohl künftig kein Problem mehr sein, wenn Frauen ihre Brüste mit den Händen verhüllen – nur zu fest drücken sollen sie nicht.

Instagram-Upload von Jen Tonic: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Brüste-Policy auf Instagram: Bloß nicht zu fest zugreifen | Foto: JenTonic 

Schon öfter standen Instagram und Facebook in der Kritik, weil sie vermeintlich sexualisierte Bilder gelöscht haben. So hatte Facebook im Jahr 2016 das weltbekannte Foto der 9-jährigen Phan Thi Kim Phuc im Vietnamkrieg wegen Nacktheit gelöscht – ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte, das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Die Entscheidung wurde rückgängig gemacht. Im Jahr 2017 veröffentlichten Künstlerinnen ein Buch mit weiteren Fotos, die Instagram entfernt habe; demnach sei auch sichtbare Intimbehaarung ein möglicher Grund für Löschungen.

Im engeren Wortsinn betreiben die Plattformen keine Zensur, denn das können eigentlich nur staatliche Akteure. Aber man kann auch anders argumentieren: Die Plattformen kontrollieren die wichtigsten Schauplätze für den öffentlichen Diskurs im Internet, insofern haben sie durchaus eine politische Funktion. Es ist politisch, wenn Instagram weibliche Brustwarzen wegen Anzüglichkeit löscht, aber nicht-weibliche Brustwarzen online lässt

Instagram drohte, das Konto zu löschen

Screenshot aus der Instagram-App: Mitteilung über regelwidrige Uploads
"So eine Meldung ist ein Schock" | Screenshot: JenTonic, Instagram

In den öffentlichen Gemeinschaftsrichtlinien von Instagram steht nichts von jenen "Richtlinien zu sexuellen Inhalten", die Tattoo-Künstlerin Jen Tonic angezeigt wurden. Von "implizitem" Geschlechtsverkehr und der "Stimulierung" von Brustwarzen ist auf dieser Seite keine Rede. Wohl aber in den Gemeinschaftsstandards von Facebook. Auch wenn Facebook und Instagram zusammengehören, lässt sich so für Nutzerinnen und Nutzer nicht unmittelbar und übersichtlich erkennen, an welche Regeln sie sich halten müssen.

Instagram hatte Jen Tonic etwas schroff über ihren angeblichen Regelverstoß informiert: "Dein Konto könnte gelöscht werden", hieß es. Jen sagt: "So eine Meldung ist ein Schock." Instagram sei wichtig für ihren Beruf, um Kundinnen und Kunden zu erreichen. 

Jen schickt uns Screenshots, die zeigen, dass sie gegen die Entfernung der Inhalte widersprochen hat – keine Antwort. Erst die Presseanfrage von VICE hat etwas bewirkt. 

Ihre Reichweite habe nach der Löschaktion gelitten, sagt Jen. Als Beleg zeigt sie eine Bildschirmaufnahme ihrer Account-Statistiken. Demnach erreichen einige ihrer Uploads nach den Löschungen deutlich weniger Menschen als Uploads davor. Ist das Zufall oder steckt dahinter eine zusätzliche Bestrafung? Wir haben die Pressestelle von Instagram danach gefragt und keine klare Antwort erhalten. 

Als Jen ihrer Community von dem Problem erzählte, bekam sie eine Menge Reaktionen von anderen Tattoo-Artists, die Ähnliches erlebt haben. Viele von ihnen haben auch uns geschrieben und sich bereit erklärt, dass wir ihre gelöschten Fotos bei VICE veröffentlichen. 

Die Künstlerinnen und Künstler kommen aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien. Wenn sie sich auf die neuen Richtlinien berufen, sollte es ihnen wohl möglich sein, auch ihre Werke wieder auf Instagram zu zeigen. Bis dahin lassen sie sich zumindest auf VICE betrachten.

Instagram-Upload von Dusty Brasseur: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Gelöschte Tattoo-Kunst von Duza aka Dusty Brasseur aus Frankreich | Foto: DustyDuza
Instagram-Upload von Loz: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung, ihre Brüste sind mit Tape abgeklebt
Auch wenn die Hände über den Brüsten liegen, fand Instagram das offenbar nicht OK, wie Londoner Tattoo-Artist Loz feststellen musste | Foto: Loz Tattooer
Instagram-Upload von Mandalila: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Auch dieses Bild von Mandalila Macko aus Italien wurde gelöscht | Foto: Mandalila
Instagram-Upload von Sueshi: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Schützt ein BH gegen Löschung auf Instagram? Dieses Foto von Sueshi legt nahe: in diesem Fall nicht | Foto: sueshi_official
Instagram-Upload von Melxbe: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Melissa Berks aus Frankfurt am Main durfte diese Arbeit nicht länger auf Instagram zeigen | Foto: melxbe
Instagram-Upload von Dusty Brasseur: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Ein Vogel, ein Schmetterling – und ein gelöschtes Foto von Duza aka Dusty Brasseur | Foto: DustyDuza
Instagram-Upload von Marvin Fitzner: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Von Tattoo-Künstler Marvin Fitzner wurde dieses Motiv gelöscht | Foto: mrvnttt
Instagram-Upload von Caro Walch: Eine Frau zeigt ihre Tätowierung und verdeckt ihre Brüste
Was Tattoo-Fans sehen: Eine Schwalbe von Caro Walch. Was Instagram sah: Verbotene Nacktheit | Foto: carowalchtattoo

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<![CDATA[Fünf Gründe, warum du Telegram sofort löschen solltest]]>https://www.vice.com/de/article/jgqqv8/telegram-datenschutz-warum-es-nicht-besser-als-whatsapp-istTue, 03 Nov 2020 06:45:00 GMTTelegram wird überbewertet. Wer einen weniger aufdringlichen Messenger als WhatsApp sucht, kann viele sichere Alternativen ausprobieren. Der Griff zu Telegram ist aber so schlau wie der Griff zum Fertig-Cheeseburger aus dem Supermarkt.

Weltweit chatten mehr als 400 Millionen Menschen mit Telegram, so steht es auf der Website der Firma. Ein Grund für die Beliebtheit ist sicher auch das Outlaw-Image von Telegram. Der Gründer Pavel Durov hat Russland aus politischen Gründen verlassen, die Firma sitzt nun in Dubai. Mehrfach twitterte Durov darüber, wie Russland vergeblich versuche, Telegram zu blockieren. Dabei nutzte er den kämpferischen Hashtag #digitalresistace, digitaler Widerstand. Nimm das, Putin! 

Auch Werbung lehnt Telegram kategorisch ab. "Gewinn machen wird niemals das Ziel von Telegram sein", steht in den FAQ. Nimm das, Tech-Industrie! 

Bei genauem Hinsehen zeigt sich aber: Ähnlich wie die kommerzielle Konkurrenz ist Telegram kein Musterschüler in Sachen Privatsphäre. Hinzu kommt, dass es auf Telegram vor Nazis und Verschwörungsideologen wimmelt – denn die Firma lässt ihrem Menschenhass auf öffentlichen Kanälen und Gruppen eine Menge Freiraum. Ob auch das zum Outlaw-Image gehört? Hier sind fünf Gründe, warum Telegram doch nicht der Alternativ-Messenger ist, auf den wir immer gewartet haben.

Erstens: Standard-Chats auf Telegram sind nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt

Ein nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselter Chat auf Telegram
Auf Telegram kannst du niemanden daran hindern, dich ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung anzuschreiben | Schnipsel: Pixabay | CC0 | PublicDomainPictures || Smartphone: Pixabay | CC0 | nevoski || Montage: VICE

Wenn man alle Spielereien beiseite lässt, haben Messenger nur einen wichtigen Job: Private Gespräche sollen privat sein. Die beste technologische Lösung dafür heißt Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Sie bewirkt, dass nur Sender und Empfänger eine Nachricht lesen können. Wer Ende-zu-Ende-verschlüsselte Daten abfängt oder auf dem Server des Anbieters durchstöbert, sieht nur Zeichensalat. Selbst WhatsApp nutzt diese sichere Art der Verschlüsselung seit 2016

Telegram aber scheint diesen einen, wichtigen Job nicht so genau zu nehmen. Der Messenger bietet die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nämlich nur an, wenn man sie für jeden Kontakt extra einschaltet. Wer also einfach drauf los chattet, verschickt seine Nachrichten ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.

Das ist nicht nur unpraktisch, das ist fahrlässig. Wenn du Wert auf Privatsphäre legst, kannst du zwar die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für jedes Gespräch einschalten. Aber du kannst nicht verhindern, dass dich irgendein Typ auf Telegram plötzlich ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung anchattet und fragt, ob du noch Pepps hast.

Telegram hat sich für diese unsichere Art zu chatten einen eigenartigen Namen ausgedacht: "cloud chat". Das ist nicht nur wolkig formuliert, das ist ein sprachliches Ablenkungsmanöver. Bloß nicht sagen, dass deine Chats unzureichend verschlüsselt sind. Stattdessen unterstreicht Telegram, dass deine Gespräche in der "Cloud" liegen, also auf Telegram-Servern. Von dort lassen sie sich mit anderen Geräten synchronisieren. Das mag in manchen Fällen ein nettes Feature sein, als Standard-Einstellung ist es aber eher daneben. Die sicheren Chats nennt Telegram "secret chats".

Gruppen und Channels auf Telegram sind übrigens grundsätzlich nicht "secret", also nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Das heißt, wenn du eine Telegram-Gruppe mit deinen besten Freundinnen hast, kommuniziert ihr dort weniger sicher als in einer WhatsApp-Gruppe. Eure Nachrichten, Fotos und Videos liegen dann ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung auf Telegram-Servern. Natürlich versichert Telegram, dass diese Daten sehr gut geschützt werden. Besser wäre es aber, wenn ein Schutz der Daten gar nicht erst nötig wäre, weil sie für Dritte unlesbar verschlüsselt sind.

“Entweder wir oder das Facebook-Monopol"

In den Datenschutzbestimmungen schreibt Telegram auch noch, dass die "cloud chats" durchleuchtet werden dürfen: "Wir können auch automatisierte Algorithmen zur Analyse von Nachrichten in Cloud-Chats verwenden, um Spam und Phishing zu unterbinden". Das bedeutet im Klartext: Telegram darf deine nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselten Gespräche einer digitalen Rasterfahndung unterziehen. So viel zum Hashtag "digitaler Widerstand".

Recherchen von Motherboard aus dem Jahr 2018 konnten zudem belegen, dass deutsche Ermittler des BKA seit Jahren Telegram-Gruppen mit einem Trick ausspionieren konnten. Mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung wäre dieser Trick den Recherchen zufolge nicht möglich. Ende Oktober haben deutsche Ermittler mehrere Telegram-Gruppen hochgenommen, in denen offenbar unter anderem Drogen angeboten wurden.

Telegram-Gründer Durov wird derweil nicht müde, Privatsphäre als hohes Gut anzupreisen. In einem öffentlichen Statement bezeichnet er Privatsphäre als Menschenrecht. Das bekräftigt er auch in Tweets, etwa, als ein indisches Gericht Privatsphäre als Grundrecht stärkte. Fünf von fünf Sternen für dieses Mindset – aber warum ist die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei Telegram nicht Standard? 

In einer öffentlichen Streitschrift dreht Durov 2019 richtig auf und inszeniert die Konkurrenz zwischen Telegram und WhatsApp als Kampf zwischen Gut und Böse. WhatsApp könne "niemals sicher" werden, so der Telegram-Gründer. Durov behauptet, die Mehrheit des Internets werde vom "Facebook/ Instagram/ WhatsApp-Imperium" als "Geisel gehalten". Sein Fazit: "Entweder wir oder das Facebook-Monopol. Es geht entweder um Freiheit und Privatsphäre oder um Gier und Heuchelei." Die Streitschrift ist mindestens überspitzt und einseitig, teilweise übertrieben. Sie endet mit den Zeilen: "Das Zeitalter der Gier und Heuchelei wird enden. Eine Ära der Freiheit und Privatsphäre wird beginnen." 

Aha. Aber warum ist die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei Telegram dann nicht Standard? Das wäre doch mal ein erster Schritt in die Ära der Privatsphäre. Wir haben Telegram diese Frage per E-Mail gestellt und keine Antwort erhalten.

Zweitens: Auch Telegram greift Telefonbuch und Metadaten ab

Ein Smartphone mit geöffnetem Kontaktbuch
Telegram möchte Zugriff auf dein Telefonbuch haben | Schnipsel: Pixabay | CC0 | PublicDomainPictures || Smartphone: Pixabay | CC0 | nevoski || Montage: VICE

Nicht nur WhatsApp möchte auf alle deine Kontakte zugreifen, Telegram auch. Der Messenger schnappt sich die Einträge in deinem Telefonbuch, inklusive der Namen, die du den Nummern zugewiesen hast. Ob "Mama", "Papa", "Blöder Ex" oder "Psychotherapie" – Telegram weiß Bescheid. "Wir speichern aktuelle Kontakte, um dich zu benachrichtigen, sobald sich einer deiner Kontakte bei Telegram registriert", erklärt die Firma in den englischsprachigen Datenschutzbestimmungen.

Klingt nach einem notwendigen Übel, aber das lässt sich auch anders lösen. Der Krypto-Messenger Signal zum Beispiel wandelt erfasste Kontakte in Zeichenwerte um, sogenannte Hashes, die sich nicht zurückrechnen lassen. Auf diesem Weg erfährt Signal dankenswerterweise nicht die Nummer vom blöden Ex. Wir haben Telegram gefragt, warum sie bei erfassten Kontakten nicht auch mit Hashes arbeiten. Eine Antwort gab es nicht.

Ähnlich wie WhatsApp verzichtet Telegram nicht komplett darauf, Metadaten zu sammeln. Telegram darf laut Datenschutzbestimmungen etwa deine IP-Adresse erfassen. Mit IP-Adressen können Nutzerinnen und Nutzer geortet werden. Außerdem lassen sich damit Bewegungsprofile erstellen. Du verbringst die Wochentage in Berlin, die Wochenenden in Hamburg, fährst zwei Mal im Jahr nach Bielefeld? Anhand von IP-Adressen könnte Telegram das theoretisch nachvollziehen. 

Und dann ist da noch diese befremdliche Formulierung in den Datenschutzbestimmungen von Telegram. Dort steht eine Aufzählung, welche Metadaten Telegram – mit einer Speicherdauer von bis zu einem Jahr – sammeln darf: deine IP-Adresse, welches Gerät du nutzt, "etc". Bloß: Was steckt hinter "etc"?

Metadaten sind gerade das Material, das Geheimdienste brauchen, um massenhaft Personen und ihre Kontakte zu durchleuchten. Schon der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden hat gesagt: "We kill people based on metadata". Es ist also sehr relevant, welche Metadaten eine Plattform genau erfassen darf und welche nicht. Wir haben Telegram per E-Mail gefragt, was mit "et cetera" gemeint ist. Blieb bisher unbeantwortet.

Drittens: Telegram duldet Nazis und andere Menschenfeinde

Smartphone mit geöffneter Telegram-App und verpixelten Musiktiteln
Warum ist diese Musik noch immer online? | Schnipsel: Pixabay | CC0 | PublicDomainPictures || Smartphone: Pixabay | CC0 | nevoski || Montage: VICE

Telegram ist zu einer der wichtigsten Plattformen für Rechtsextreme und Verschwörungsideologen geworden. Bei Facebook, Instagram und YouTube werden sie vermehrt rausgeschmissen, bei Telegram radikalisieren sie sich weiter. Im April 2018 empfahl die US-Neonazi-Website Daily Stormer ihren Lesern, zu Telegram zu wechseln

Aktuell vernetzen sich in Deutschland zudem viele Menschen auf Telegram, die hinter der Corona-Pandemie eine Verschwörung wittern. Die Süddeutsche Zeitung hat in einer großen Datenrecherche Hunderte Anti-Corona-Gruppen und -Kanäle auf Telegram ausgewertet. Das Ergebnis: Auf Telegram vermischen sich diese Gruppierungen unter anderem mit Rechtsextremen und Anhängern der antisemitischen Verschwörungsideologie QAnon. Auch prominente Verschwörungs-Influencer wie Attila Hildmann und Xavier Naidoo setzen auf Telegram.

Telegram kann sich seine Fans nicht aussuchen. Aber Telegram hat die Wahl, ob menschenfeindliche und in Deutschland illegale Inhalte online bleiben oder nicht. Die jüngsten Attentate von Rechtsterroristen haben gezeigt, wie rechtsextreme Verschwörungsmythen zu Gewalt führen können. Die mutmaßlichen Attentäter von Christchurch und El Paso haben sich in ihren Pamphleten auf solche Verschwörungsmythen bezogen. Die mutmaßlichen Attentäter von Hanau, Halle und München waren Rechtsradikale.

Daraus scheint Telegram kaum sichtbare Konsequenzen zu ziehen. Im Februar diesen Jahres haben wir bei VICE recherchiert, wie Neonazi-Musik ungehindert auf Telegram kursiert. Die von uns gemeldeten Inhalte hatte Telegram nicht entfernt.

Übersicht: Rechtsextreme Band auf Telegram – Diese Gruppen und Channels verbreiten indizierte Musik
Bilanz unserer VICE-Recherche vom Februar 2020 | Grafik: VICE

Ähnlich enttäuschend ist die Bilanz einer größeren Stichprobe von jugendschutz.net: Die Autoren haben rund 200 Inhalte auf Telegram gemeldet, unter anderem wegen Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Holocaustleugnung und Volksverhetzung – also nach deutschem Recht mutmaßliche Straftaten. Laut jugendschutz.net hat Telegram aber rund 89% der gemeldeten Inhalte online gelassen. Fragen dazu habe Telegram nicht beantwortet.

Dabei hat die Plattform längst bewiesen, dass sie auch in großer Zahl Gruppen und Kanäle löschen kann, wenn sie das möchte: Bei islamistischer Terror-Propaganda dokumentiert die Plattform transparent, wie viele Inhalte sie entfernt.

Die Offenheit für Neonazis passt nicht ins Bild von Telegram als Kämpfer für Freiheitsrechte und Demokratie. Durov twitterte im August 2020, dass Telegram von der Demokratiebewegung in Belarus genutzt werde, Zensurversuchen zum Trotz. Auch bei den Protesten zum Schutz der Demokratie in HongKong spielte Telegram eine wichtige Rolle.

Im Jahr 2017 schreibt Durov in einem Blogeintrag: "Telegram hat nie dem Druck von Behörden nachgegeben, die politische Zensur gefordert haben". Redefreiheit sei einer der Werte, die Telegram verteidige. Nur Gewalt dürfe auf der Plattform nicht verbreitet werden, schreibt Durov. Genauso lautet auch eine der drei Regeln, die Telegram in seinen äußerst knappen Nutzungsbedingungen aufstellt. 

Warum lässt Telegram also Neonazis und Verschwörungsideologen gewähren? Betrachtet die Plattform Rassismus und Antisemitismus etwa als – friedlich? Unsere Frage hierzu hat Telegram nicht beantwortet.

Viertens: Telegram stellt sich häufig tot, wenn Journalisten Fragen haben

Ein Smartphone zeigt die Telegram-App mit dem geöffneten Channel von Pavel Durov
Auf seinem Telegram-Channel schreibt Pavel Durov von Freiheit und digitalem Widerstand | Schnipsel: Pixabay | CC0 | PublicDomainPictures || Smartphone: Pixabay | CC0 | nevoski || Montage: VICE

Das wird dir sicher auch schon aufgefallen sein, wenn du diesen Text bis hierhin gelesen hast. Telegram ist extrem verschlossen, sobald Journalistinnen und Journalisten etwas wissen wollen. Das ist seltsam. Telegram positioniert sich immer wieder als Fan von Demokratie und Redefreiheit. Und Journalismus ist gelebte Demokratie und Redefreiheit. Eigentlich sollten Telegram und Journalisten also voll auf einer Wellenlänge sein. Eigentlich. 

Im Februar 2020 wollten wir erstmals von Telegram wissen: Wieso toleriert Telegram in Deutschland Kanäle mit indizierter Neonazi-Musik? Keine Antwort. Im August haben wir öffentlich auf Twitter noch einmal nachgehakt. Keine Antwort. Nicht einmal inhaltsleere Statements von geschulten Pressesprechern. Einfach Funkstille.

Im September hat sich plötzlich ein Telegram-Sprecher bei uns gemeldet. Auf unsere Frage zur Neonazi-Musik ist er aber nicht eingegangen. Stattdessen beschwerte er sich, dass wir einen falschen Link gesetzt haben in einem Text, der Telegram nur beiläufig erwähnt. Touché! Wir haben den Link korrigiert – und sofort geantwortet, dass es da ja noch unsere unbeantwortete Anfrage von Februar gibt. Ob Telegram jetzt antworten wolle? Funkstille. 

Der Eindruck drängt sich auf, dass Telegram kritische Fragen gezielt ignoriert.

Fünftens: Gruppen und Kanäle sind alle andere als unauffällig

Ein Handy mit einer Telegram-App zeigt eine Gruppe mit dem teils verpixelten Titel
Auch wenn manche auf Telegram einen auf Darknet machen, so dark ist es nicht | Schnipsel: Pixabay | CC0 | PublicDomainPictures || Smartphone: Pixabay | CC0 | nevoski || Montage: VICE

Gruppen und Kanäle auf Telegram sind sehr praktisch, um in kurzer Zeit viele Menschen zu vernetzen und zu mobilisieren. Bei Telegram-Gruppen können bis zu 200.000 Accounts beitreten, Kanäle können unbegrenzt viele Abonnenten haben. Es gibt reichlich kostenlosen Speicherplatz, um Videos und Audio-Dateien zu teilen. Die Nutzerinnen und Nutzer sind untereinander zumindest ansatzweise anonym: Für einen fremden Telegram-Nutzer bist du zunächst nur mit Spitznamen sichtbar, außer aber, er hat deine Telefonnummer gespeichert.

Was viele Aktivistinnen, Schwarzmarkt-Händler und Verschwörungsgläubige auf Telegram wohl nicht so auf dem Schirm haben: Sie befinden sich auf einem Präsentierteller. Und das liegt nicht nur an der fehlenden Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.

Kanäle und Gruppen auf Telegram können mithilfe von Programmierschnittstellen durchleuchtet werden. Mit etwas Programmierkenntnissen lassen sich etwa geteilte Nachrichten und Mitgliederlisten in Kanälen und Gruppen massenhaft auswerten. Es genügt, Gruppen beizutreten oder Kanäle zu abonnieren, um sie nach Querverweisen zu untersuchen. So lässt sich etwa nachvollziehen, welche Accounts in mehreren Gruppen Mitglied sind und von wo welche Nachrichten weitergeleitet werden. 

In einer großen Datenrecherche hat die Süddeutsche Zeitung gezeigt, wie sich diese Einblicke für journalistische Zwecke einsetzen lassen. Andererseits können aber auch weniger freundliche Menschen und autoritäre Regime auf dieselbe Weise versuchen, Telegram-Nutzende zu durchleuchten. 

Bei Facebook zum Beispiel wäre eine ähnlich umfassende Analyse nur mit sehr viel Mühe möglich. Das soziale Netzwerk unternimmt viel, um automatisierte Datenabfragen zu verhindern. Wir haben gefragt, ob auch Telegram etwas tun möchte, damit sich solche Analysen weniger leicht durchführen lassen. Keine Antwort.

Fazit: Telegram ist ein Phänomen – aber kein guter Alltags-Messenger

Um im Alltag bequem und mit möglichst viel Privatsphäre mit den eigenen Kontakten zu schreiben, ist Telegram einfach nicht die beste Wahl. Einen Blick wert sind stattdessen Signal, Threema oder Wire. In jeder Hinsicht perfekt ist übrigens kein Anbieter. Diese detaillierte Tabelle von 12 Apps im Vergleich zeigt, welche Vor- und Nachteile selbst die vorbildlichsten Messenger haben.

Eines muss man Telegram aber lassen: Der Hybrid aus Messenger und sozialem Netzwerk ist ein wahnsinnig spannender Akteur in der Netzkultur. Mal dient Telegram als Plattform für Drogendealer, mal für Verschwörungsideologen, mal für demokratische Widerstandskämpfer.

Über Telegram-Gründer Pavel Durov, der die Plattform offenbar mit seinem Vermögen am Laufen hält, könnte man eine Netflix-Serie drehen: Der einstige Gründer des Facebook-Konkurrenten vKontakte wird häufig als russischer Mark Zuckerberg bezeichnet; seit seiner Flucht aus Russland hat Telegram angeblich in verschiedenen Ländern seinen Hauptsitz gehabt, unter anderem in Berlin.

Es lohnt sich also, zumindest aus der Ferne zu verfolgen, was rund um Telegram passiert, man muss ja nicht gleich seine Familie und Freunde auf die Plattform mitnehmen.

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<![CDATA[Inside xHamster: So reagiert die Politik auf unsere Undercover-Recherche]]>https://www.vice.com/de/article/m7aje4/inside-xhamster-so-reagiert-die-politik-auf-unsere-undercover-rechercheTue, 27 Oct 2020 07:00:33 GMTExtrem strenge Regeln und extreme Freiheit sind im Internet nur wenige Klicks voneinander entfernt. Facebook, Deutschlands meistbesuchte Social-Media-Website, löscht zum Beispiel konsequent Fotos mit weiblichen Brustwarzen. Aber xHamster, Deutschlands meistbesuchte Pornoseite, lässt selbst Fotos von möglicherweise Minderjährigen online – außer sie sehen mit "hoher Wahrscheinlichkeit" aus wie unter 18.

Das und mehr zeigt unsere Undercover-Recherche im Löschteam von xHamster, die wir hier veröffentlicht haben.

xHamster darf solche internen Regeln festlegen. Es gibt dazu keine konkreten gesetzlichen Vorgaben, die unmittelbar gelten. So darf xHamster seine Löscharbeiter auch anweisen, "echtes" und gespieltes Weinen voneinander zu unterscheiden, um Fotos von möglichen Vergewaltigungen zu überprüfen. Auch das geht aus unseren Recherchen hervor. Die Plattform muss keine detaillierte Rechenschaft darüber ablegen, wie gut sie Opfer von sexualisierter Gewalt schützt oder wie viele illegale Uploads sie entfernt.

Hier gibt es alle Texte der Artikelserie Inside xHamster.

Definitiv handeln muss eine Plattform, wenn sie mit Sicherheit von einem Rechtsverstoß erfährt, etwa indem sich das Opfer einer heimlich erstellten Aufnahme persönlich meldet. Das Prinzip heißt "Notice and Takedown". Es ist der Gegenentwurf zur Pflicht, pauschal alles zu prüfen. Auf sozialen Netzwerken sichert dieses Prinzip die Meinungsfreiheit.

Brenzlig wird es im Fall von Pornoplattformen wie xHamster, wo Nutzer anonym und kostenlos Nacktaufnahmen verbreiten können, ohne direkt nachweisen zu müssen, dass die gezeigten Personen einverstanden sind. Die Gefahr ist hoch, dass Nutzer ungehindert Aufnahmen von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt verbreiten – oder Aufnahmen von Ex-Partnerinnen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sogenannte Rachepornos.

Facebook hat sich für dieses Problem eine pauschale Lösung ausgedacht: Die Plattform verbietet "grundsätzlich Bilder mit sexuellen Inhalten, um das Teilen nicht-einvernehmlicher Inhalte sowie von unzulässigen Inhalten in Zusammenhang mit Minderjährigen zu verhindern". So ein Verbot ergibt auf Pornoseiten aber keinen Sinn. Aktuell gibt es für diese Websites keine fundierte Regulierung zum Schutz von Opfern sexualisierter Gewalt.

Justizministerium: Kein "bewusstes Wegschauen"

Wir haben die Ergebnisse unserer xHamster-Recherche mit dem Justizministerium, mit Netzpolitikern und mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung geteilt. Die Reaktionen lassen sich als alarmiert zusammenfassen.

Eine Sprecherin des Justizministeriums schreibt in ihrer Antwort an VICE, es müsse "ausgeschlossen sein, dass Anbieter durch ein 'bewusstes Wegschauen' oder eine laxe Kontrollpraxis einer Verantwortlichkeit entgehen". Sie verweist auf laufende Gesetzesvorhaben, die auch Pornoplattformen betreffen könnten.

In der Theorie klingt das zunächst positiv. Das Justizministerium halte "verpflichtende Anforderungen für Betreiber von Online-Portalen zum effektiven Umgang mit strafbaren Inhalten" für einen wichtigen Baustein beim Kampf gegen strafbare Inhalte im Netz. Die Frage ist nur, wie das in der Praxis aussehen soll.

Strengere Regeln für Pornoplattformen fordert auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Bisher stünden die Chancen, mit Missbrauchsabbildungen ungestraft davon zu kommen, viel zu gut, sagt Rörig gegenüber VICE. "Wir brauchen in Deutschland eine gesetzliche Verpflichtung für Internet-Provider, Missbrauchsabbildungen im Netz melden zu müssen." Als weiteres Ziel nennt Rörig "die Pflicht der Anbieter zur (möglichst automatisierten) Suche nach Missbrauchsinhalten" auf ihren Plattformen.

Wenig Hoffnung machen die Pläne des Justizministeriums zur Reform eines Gesetzes namens NetzDG. Das Gesetz beinhaltet unter anderem eine Meldepflicht, die dabei helfen soll, dass Rechtsverletzungen in sozialen Netzwerken nicht folgenlos bleiben. Betroffene Anbieter müssen regelmäßig einen "deutschsprachigen Bericht über den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte auf ihren Plattformen" veröffentlichen.

Auf Pornoplattformen wie xHamster ist das NetzDG aber nicht anwendbar. Daran wird voraussichtlich auch die geplante Reform nichts ändern, ebensowenig das geplante "Gesetz gegen Hasskriminalität". Das liegt unter anderem daran, dass die Regulierungen nur für Plattformen mit mehr als zwei Millionen registrierten Nutzerinnen und Nutzern in Deutschland gelten sollen.

Ein Großteil der Nutzer von xHamster ist aber nicht registriert, denn um Videos und Fotos auf xHamster zu anzuschauen, braucht man das nicht. Genauso verhält es sich bei Konkurrenz-Websites wie PornHub. Betroffene von sexualisierer Gewalt auf Pornoplattformen können vom NetzDG also keine Hilfe erwarten. Auf unsere konkrete Nachfrage hat xHamster nicht geantwortet, ob es mehr oder weniger als zwei Millionen registrierte Nutzer in Deutschland hat.

"Kontrollpraxis offensichtlich ungenügend"

Etwas besser sind die Aussichten auf EU-Ebene. In der EU wird derzeit an einem "Digital Services Act" gearbeitet. Das Gesetzespaket soll die rechtlichen Verpflichtungen von Plattformen neu definieren. Als Firma mit Sitz in Zypern wäre xHamster davon betroffen. Offenbar legt auch das Justizministerium Hoffnungen in dieses Gesetzespaket. Das Ministerium schreibt, es setze sich "dafür ein, dass der zukünftige europäische Rechtsrahmen effektive Sorgfaltsanforderungen für die Anbieter enthält." Im Umkehrschluss bedeutet das: Der aktuelle deutsche Rechtsrahmen ist da wohl nicht so effektiv.

Auch der Europaabgeordnete und SPD-Politiker Tiemo Wölken spricht den geplanten "Digital Services Act" an, als wir ihm die Ergebnisse unserer Recherche vorlegen. "Die Kontrollpraxis dieser Webseiten ist offensichtlich ungenügend", sagt Wölken mit Blick auf Pornoplattformen. "Oftmals ist fraglich, ob die Nutzungsbedingungen der Plattformen überhaupt ausreichen, um Rechtsverstöße zu vermeiden." Wölken überzeugt es nicht, wenn Nutzungsbedingungen – wie im Fall von xHamster – von Uploadern pauschal verlangen, Einverständniserklärungen zu besitzen. "Dies reicht für mich definitiv nicht aus."

Hast du mal bei Pornhub, xHamster oder einer anderen großen Pornoplattform gearbeitet – oder arbeitest dort noch immer? Hast du schon mal versucht, Inhalte von dort löschen zu lassen? Wir würden uns freuen von dir zu hören. Du erreichst uns verschlüsselt via Signal oder WhatsApp (+49 152 1012 4551) sowie Threema 27DS6P2R, am besten mit einem Gerät, das nicht deinem Arbeitgeber gehört.

Das geplante Gesetzespaket der EU solle Plattformen beim Umgang mit nutzergenerierten Inhalten klare Regeln geben, sagt Wölken. Als Berichterstatter im Rechtsausschuss des EU-Parlaments übernimmt er eine wichtige Rolle bei der Gesetzgebung. Das Europäische Parlament fordere, dass sich Plattformen und Behörden grundsätzlich besser austauschen, so Wölken.

Wie das aber konkret ablaufen könnte – etwa ob xHamster dann gelöschte Fotos der Polizei melden müsste –, steht noch nicht fest. Wölken bezeichnet so eine Meldepflicht zumindest als denkbaren Weg. Wie es mit dem Vorhaben weitergeht, hängt als Nächstes von der Europäischen Kommission ab.

Petition zur Kontrolle von Pornoplattformen gestartet

Zusätzlicher Druck kommt derzeit durch eine neue Petition an das Justizministerium, gestartet von Betroffenen, deren Aufnahmen gegen ihren Willen im Netz kursierten. Die Petition spricht ausdrücklich xHamster und Pornhub an, Deutschlands meistbesuchte Pornoseiten.

Verlangt wird eine "klare rechtliche Grundlage, um Pornoplattformen in die Verantwortung nehmen zu können". Dazu gehört unter anderem die Forderung, Pornoplattformen in das NetzDG einzubeziehen. Zudem sollten Plattformen Inhalte vor dem Upload überprüfen und eine Auskunftspflicht gegenüber Betroffenen haben. Stand 26. Oktober wurden mehr als 52.000 Unterschriften gesammelt.

Was eine Meldepflicht für Pornoplattformen bedeuten würde

In den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien gibt es bereits eine Art Meldepflicht: Es ist eine freiwillige Selbstverpflichtung, an der sich auch Digitalkonzerne wie Google und Facebook beteiligen. Die Konzerne melden Behörden Aufnahmen mit Verdacht auf sexualisierte Gewalt an Kindern und veröffentlichen Berichte über ihre Bemühungen im Kampf gegen diese Aufnahmen.

Mit umfassenden Meldungen bei Behörden ließe sich erstmals Wissen über das konkrete Ausmaß des Problems sammeln. Auch Nutzerinnen und Nutzer können dafür etwas tun. Wenn sie im Alltag auf Nacktaufnahmen von mutmaßlichen Minderjährigen stoßen, können sie die Polizei informieren. Das unterstütze die Polizei auch dabei, die eigentlichen Täterinnen und Täter zu ermitteln, heißt es auf einer Infoseite der Polizeien von Bund und Ländern. Dahinter steht unter anderem der Gedanke, dass betroffene Kinder und Jugendliche eventuell noch immer in Gefahr schweben und ihnen Gewalt angetan werden könnte. Die Polizei rät aber dringend davon ab, solche Inhalte aktiv zu suchen.

Was aber tut xHamster, wenn die eigenen Löscharbeiter übereinstimmend Aufnahmen als "minderjährig" eingestuft haben? Laut Nutzungsbedingungen arbeite die Plattform "enthusiastisch" mit jeglichen Strafverfolgungsbehörden zusammen, die gegen sogenannte Kinderpornografie ermitteln. Aber um welche Behörden in welchen Ländern handelt es sich? Eine Antwort auf diese Fragen hat xHamster zurückgewiesen: "Wir können die Details dieser Zusammenarbeit aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben."

Nach der Löscharbeit ist vor der Löscharbeit

Trotz der aktuell laxen Regeln von xHamster kommen schon jetzt jeden Tag eine Menge Fotos zusammen, die von xHamster entfernt werden. Auch wir haben bei der Recherche als Löscharbeiter Dutzende Bilder zum Löschen markiert, die eindeutig gegen die xHamster-Regeln verstoßen.

Es wäre nachhaltig, wenn xHamster etwas gegen die erneute Verbreitung derselben Fotos tun würde. Betroffene von sogenannten Rachepornos werden geradezu davon verfolgt, dass Täter die Aufnahmen immer und immer wieder hochladen. Dagegen gibt es technische Lösungen. Von verbotenen Bildern lassen sich digitale Fingerabdrücke errechnen, sogenannte Hashes, und in einer digitalen Datenbank speichern. Möchte jemand ein Bild hochladen, dessen Hash bereits in der Datenbank ist, könnte dieser Upload verhindert oder nachträglich entfernt werden.

Diese Technologie kommt bereits bei Facebook, Microsoft, YouTube und Twitter zum Einsatz. Damit soll auch die Verbreitung von Terrorvideos erschwert werden. Die US-amerikanische NGO "National Center for Missing and Exploited Children" (NCMEC) betreibt zudem eine Hash-Datenbank für Aufnahmen sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen. Plattformen können diese Datenbank kostenlos nutzen, auch Facebook und YouTube machen da zum Beispiel mit. Im Februar 2020 teilte xHamster dem US-Magazin Slate mit, nicht mit NCMEC zusammenzuarbeiten, aber dafür "offen" zu sein.

Wir haben gefragt, ob auch xHamster eine solche Technologie einsetzt, damit beispielsweise gelöschte Fotos von Minderjährigen nicht wieder und wieder hochgeladen werden können. xHamster-Sprecher Hawkins hat das weder verneint noch bejaht: "Es gibt interne Mechanismen und ein sich ständig weiterentwickelndes System, um dies zu überprüfen."

Netzpolitiker Tiemo Wölken findet, solche Technologien sollten Menschen nicht ersetzen. "Ich bin der Meinung, dass Algorithmen die Filterung von Inhalten durch qualifizierte Mitarbeiter zwar unterstützen können, warne aber davor, dass sich diese Algorithmen selbstständig machen können." Entscheidungen, Inhalte zu löschen, seien vom Kontext abhängig, den Algorithmen eben nicht erkennen, so Wölken. "Deshalb sollte die finale Entscheidung in jedem Fall von einem Menschen getroffen werden."

"Zweifelhafte Aufnahmen nicht veröffentlichen"

Meldepflichten und Datenbanken haben einen Nachteil: Sie sind keine Hilfe für Betroffene, deren Aufnahmen jetzt neu im Netz kursieren. Die netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Anke Domscheit-Berg, hat für dieses Problem einen Vorschlag – betont jedoch, dass sie noch keine Idee habe, wie sich das konkret in der Praxis umsetzen ließe.

Aktuell lässt xHamster unseren Recherchen zufolge zweifelhafte Fotos von mutmaßlich Minderjährigen oder Betroffenen sexualisierter Gewalt so lange online, bis ein Regelverstoß als sicher gilt. Das könnte Domscheit-Berg zufolge aber genau umgekehrt ablaufen. Wenn ein Foto gemeldet würde, "sollte es eine Pflicht zur Löschung oder alternativ zum Nachweis der Legalität durch die Nutzer innerhalb einer vorgegebenen Frist geben, während der fragliche Inhalt nicht mehr zugänglich ist." Wenn ein solcher Nachweis nicht erbracht werden könne, sei der Inhalt im Zweifelsfall zu löschen.

In eine ähnliche Richtung geht die Einschätzung des Rechtsanwalts Mirko Laudon. Er weiß aus eigener Erfahrung als Strafanwalt, wie schwer es ist, die Volljährigkeit eines Menschen mit bloßem Auge zu bestimmen. "Das ist gerade in den Grenzfällen praktisch niemals sicher zu beurteilen", sagt Laudon. Auch bei einer geringen Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein Kind handele, müsste das Foto oder Video von einer Pornoplattform gelöscht werden. "Im Ergebnis müsste man also sagen, dass man gar keine 'Teen'-Aufnahmen unbekannter Herkunft (sprich: mit ungeklärtem Alter) veröffentlichen dürfte."

Nur wie könnte eine so große Pornoplattform wie xHamster Altersnachweise und Einverständniserklärungen effektiv sammeln und überprüfen? Wie könnten dabei die Daten der Uploader geschützt werden? Schließlich sind viele Darstellerinnen und Darsteller auf den Schutz ihrer Anonymität angewiesen.

Ein praktisches Vorbild für einen wirksamen Schutz gegen die Verbreitung sexualisierter Gewalt auf Pornoplattformen gibt es noch nicht. Anke Domscheit-Berg warnt vor Symbolpolitik. "Das ist keineswegs trivial und ich würde natürlich keine Regelung verabschieden wollen, deren Umsetzung nicht klar oder nicht machbar ist." Deshalb sei es zunächst der wichtigste Schritt, dafür zu sorgen, dass Plattformen sich an bereits geltende rechtliche Vorgaben halten.

Außerdem fordert Domscheit-Berg, mehr Wissen über das Thema zu sammeln. "Wichtig wären Studien, um Formen und Ausmaß dieser missbräuchlichen und strafrechtlich relevanten Nutzungen besser zu verstehen." Die Linksfraktion werde deshalb weiterhin die Bundesregierung auffordern, über digitale Gewalt zu forschen und Daten zu erheben.

Luft nach oben gibt es bei dem Thema gewiss. Im Jahr 2018 stellte die Linksfraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung: "Wie oft wurden Formen digitaler Gewalt nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils in den vergangenen fünf Jahren angezeigt, und wie oft kam es zu Verurteilungen?"

Die ernüchternde Antwort: Die Regierung hat keine Ahnung. Fälle von digitaler Gewalt werden schlicht bei anderen Delikten hinzugerechnet, und niemand kann aktuell beziffern, wie groß das Problem wirklich ist.

Beratung und Unterstützung bei sexualisierter Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, in Deutschland beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.

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<![CDATA["Sicher sein kannst du dir nie": Interview mit einem Porno-Löscharbeiter von xHamster]]>https://www.vice.com/de/article/5dpzbk/inside-xhamster-interview-mit-einem-porno-leoscharbeiterTue, 27 Oct 2020 07:00:17 GMTAuf den ersten Blick wirkt Stevens Leben so aufregend wie ein Teller Spaghetti mit Pesto. Er ist verheiratet, arbeitet in Deutschland als Administrator bei einer Dienstleistungsfirma, werkelt in seiner Freizeit gern an seinem Oldtimer herum oder kocht. So hat er uns seinen Alltag beschrieben. Aber der 52-jährige hat noch ein anderes Hobby: Er überprüft Pornos.

Seit rund einem halben Jahr arbeitet Steven – so möchte er genannt werden, um anonym zu bleiben – als Löscharbeiter bei der meistbesuchten Pornoplattform Deutschlands: xHamster. Als einer von etwa über 100 Freiwilligen entscheidet er, ob veröffentlichte Fotos gegen die Richtlinien von xHamster verstoßen oder nicht. Seine Orientierungshilfe ist dabei bloß ein knappes Regelwerk, bestehend aus rund 2.800 Zeichen und 38 Beispielfotos. Wir haben es hier veröffentlicht.

Steven ist einer von Dutzenden Löscharbeitern, denen wir online während unserer Undercover-Recherche im Löschteam von xHamster begegnet sind. Wir haben ihn mit einem separaten xHamster-Account kontaktiert und uns offen als Journalistinnen zu erkennen gegeben. Durch unsere Recherche wussten wir bereits, wie wenig xHamster unternimmt, um Opfer sexualisierter Gewalt zu schützen. Löscharbeiter sollen etwa durch bloßes Hinsehen entscheiden, ob eine Person schon 18 ist. Selbst potenziell strafbare Inhalte sollen online bleiben, wenn sich Löscharbeiter wie Steven nicht zu 100 Prozent sicher sind, dass ein Regelverstoß vorliegt. Unsere ausführliche Reportage darüber gibt es hier.

Hier gibt es alle Texte unserer Artikelserie Inside xHamster.

Wieso wühlt Steven sich unbezahlt für die Betreiber einer Pornoseite durch Hunderte Nacktfotos? Und wie trifft er die Entscheidung, ob eine Person auf einem Nacktfoto schon volljährig ist? Wir wollten es wissen und haben mit ihm telefoniert – zumindest solange, bis seine Frau vom Friseur kam. Die sollte nämlich nichts von seinem Hobby erfahren.

VICE: Steven, wieso hast du dich als Löscharbeiter für xHamster beworben?
Steven: Ich gucke mir ohnehin gerne Bilder an. Als Reviewer kann ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Ich reviewe fast täglich zwischen 100 und 200 Fotos. Immer, wenn ich mal ein paar Minuten Zeit habe. Ich möchte auf der Plattform keine Inhalte haben, die verboten sind. Dazu gehören Minderjährige, alles, was mit Tieren zu tun hat, und Copyright-Verstöße. Die sind eigentlich das Hauptproblem auf der Seite.

Wie hast du von dem Club erfahren?
Ich bin zufällig in den FAQs über den Club gestolpert. Da ich eh immer auf xHamster bin, dachte ich, dass ich dabei auch mal etwas Produktives leisten könnte. Ich nutze die Plattform seit rund neun Jahren und finde sie klasse, um sich mit anderen Usern auszutauschen oder Inspiration zu bekommen. 
Ich bin eigentlich jeden Tag auf xHamster. Dank Corona sind wir momentan alle im Homeoffice, das ist ganz praktisch. Ich habe meistens das Chatfenster geöffnet und wenn jemand da ist, den ich kenne, unterhalten wir uns ein bisschen. Zum Beispiel über unsere Fantasien. Ich würde aber nicht sagen, dass mein Pornokonsum durch Corona mehr geworden ist.

Wie lief der Bewerbungsprozess ab?
Relativ einfach. In den FAQs steht ein Kontakt, den man anschreiben soll, wenn man Reviewer werden will. Das habe ich gemacht und irgendwann kam eine Antwort. Die einzige Bedingung ist, dass man seit 200 Tagen als User aktiv ist. Belegen, dass ich für diesen Job geeignet bin, musste ich nicht.

Beim Reviewen sollt ihr euch an ein Handbuch von xHamster halten. Wie zufrieden bist du damit?
Das Manual ist relativ knapp gefasst, aber durchaus eine gute Richtlinie. Im Endeffekt kannst du natürlich nicht jeden Einzelfall im Manual ausführen. Deswegen gibt es immer wieder unter den Reviewern Diskussionen zu den einzelnen Punkten. Sehr oft geht es um Copyright-Fragen.

Ein anderes Problem ist, dass du mehrere Fotos auf einmal kategorisieren kannst. Viele Leute gucken da einfach nicht genau hin.

Was ich nicht gut finde, ist, dass es so viele Voyeur-Aufnahmen gibt. Aber die findet die Plattform offenbar gut. Zumindest wollen die Betreiber nicht, dass sie gelöscht werden.

"Es gibt eigentlich keine Kriterien, um zu entscheiden, ob das einvernehmlich war oder nicht."

Wie kommst du darauf, dass xHamster Voyeur-Aufnahmen nicht löschen will?
Im Manual ist aufgeführt, was nicht erlaubt ist. Und Voyeur-Kram wird an dieser Stelle nicht genannt. Gerade Videos findest du dazu jede Menge – ob das jetzt Frauen auf der Toilette oder an irgendwelchen Stränden sind. Ich finde das blöd. Es gibt genügend Männer und Frauen, die sich gerne zeigen, weil sie exhibitionistisch veranlagt sind. Ich denke, dass die meisten Filme, bei denen Frauen auf dem WC gefilmt werden, ohne deren Einverständnis aufgenommen wurden. Wissen tue ich es halt nicht.

Mehr über das Regelwerk und die Löschpraxis auf xHamster haben wir hier aufgeschrieben.

Es gibt aber auch Plattformen, auf denen man noch viel blödere Dinge findet. Zum Beispiel Tierpornografie. Das ist auf xHamster ein absolutes No-Go.

Findest du, dass xHamster Minderjährige ausreichend schützt?
Ich glaube nicht, dass xHamster ein Problem mit Pädophilie hat. Es gibt immer schwarze Schafe. Ich habe aber noch nichts gesehen, wo ich dachte: Das ist offensichtlich ein Kind. Die meisten Grenzfälle gibt es bei Teenagern oder jungen Erwachsenen. Da sind wir Reviewer nicht immer einer Meinung. Das ist einfach schwierig.

Auf xHamster gibt es aber nicht nur Filme und Videos, sondern auch fiktive Sex-Storys in Textform. Ab und zu tauchen da Geschichten mit Minderjährigen auf, die nicht richtig überprüft werden. Dabei geht es nicht explizit um Kinder, aber zum Beispiel um die minderjährige Nachbarstochter. Da wird auch ausdrücklich geschrieben, dass sie 15 Jahre alt ist.

Wir haben xHamster gefragt, ob auf der Plattform solche Texte erlaubt sind, und keine Antwort erhalten.

Wie entscheidest du, ob eine Person auf einem Foto unter 18 ist oder nicht?
Das ist extrem schwierig. Wenn du dir mal die Mädels heutzutage anguckst, wie die mit 14 oder 15 rumlaufen … die könnten locker als 18- oder 19-Jährige durchgehen. Es gibt aber auch ältere Damen, die deutlich jünger aussehen. Im Zweifelsfall klicke ich auf "underage".

Es gibt keine festen Kriterien, die uns für die Entscheidungsfindung an die Hand gelegt werden. Das halte ich auch für schwierig. Im Endeffekt zählt einfach der Eindruck, den du vom Körper, der Aufmachung oder dem Kontext hast.

Ich versuche, diese Aufgabe mit bestem Wissen und Gewissen zu machen. Sicher sein kannst du dir nie. Wenn du früher über die Grenze gefahren bist und ein Grenzbeamter das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmt, hat er dich rausgezogen. Oder er winkt dich halt durch. Im Endeffekt ist das bei uns ähnlich.

Wenn du dir unsicher bist, kannst du ein Foto überspringen, damit es ein anderer bewertet. Schiebst du die Verantwortung damit nicht einfach ab?
Vielleicht kann er das besser. Oder er kennt die Darstellerin.

Hast du manchmal ein schlechtes Gewissen, weil du womöglich Nacktfotos einer Minderjährigen online gelassen hast?
Ich persönlich klicke nicht auf "Public", wenn ich Fotos von Minderjährigen sehe, und habe dementsprechend auch kein schlechtes Gewissen. Es kann aber durchaus sein, dass andere Reviewer eine andere Meinung als ich haben und deswegen Bilder veröffentlicht werden, die ich nicht veröffentlicht hätte.

Hast du das Gefühl, dass du durch deine Arbeit Opfer von sexualisierter Gewalt schützen kannst?
Nein, das wäre illusorisch. Gerade bei SM-Bildern weißt du ja nie genau, ob sie einvernehmlich entstanden sind oder nicht. Und selbst wenn nicht, kannst du die Person im Nachhinein nicht mehr davor schützen.

Auffällig wären natürlich Bilder von Frauen, die in einem Ordner auftauchen, der "Bilder von meiner Ex-Freundin heißt". Sowas geht meiner Ansicht nach nicht. Die schiebe ich dann in den Bereich "andere" und schreibe dazu, dass es sich meiner Meinung nach um Rache-Bilder handelt.

Verschwinden diese Bilder von xHamster, wenn du deine Bedenken geäußert hast?
Die Bilder werden immer von mehreren Leuten gereviewt. Wenn die anderen der gleichen Meinung sind, bestimmt. Ich verfolge das allerdings nicht weiter.

Hast du mal bei Pornhub, xHamster oder einer anderen großen Pornoplattform gearbeitet – oder arbeitest dort noch immer? Hast du schon mal versucht, Inhalte von dort löschen zu lassen? Wir würden uns freuen von dir zu hören. Du erreichst uns verschlüsselt via Signal oder WhatsApp (+49 152 1012 4551) sowie Threema 27DS6P2R, am besten mit einem Gerät, das nicht deinem Arbeitgeber gehört.

Um zu bewerten, ob eine Darstellung Gewalt zeigt, sollt ihr auf "echte Tränen" achten. Woran erkennt man die?
Gar nicht. Gerade beim Spanking kommen Tränen öfter vor – ohne dass es sich dabei um echte Gewalt handelt. Es gibt eigentlich keine Kriterien, um zu entscheiden, ob das einvernehmlich war oder nicht. Anders ist es bei schwerer Gewalt. Laut Manual sind das SM-Praktiken mit Blut, Atemkontrolle oder beteiligten Personen, die unter Drogeneinfluss stehen. Ich denke, das erkennt man dann schon.

Das heißt, andere Aufnahmen von möglicherweise echter Gewalt bleiben online. Belastet dich das?
Nein.

Wie gehst du mit Nackt-Leaks von Prominenten um? Im Handbuch von xHamster steht dazu nichts.
Da sind mir bisher noch keine über den Weg gelaufen. Generell sollten meiner Meinung nach alle Bilder und Videos auf xHamster freiwillig entstanden sein.

Niemand sollte Bilder von der Ex hochladen, die einen verlassen hat, oder Bilder leaken – ob von Promis oder nicht.

Wenn du zu viele Fotos falsch bewertest, fliegst du möglicherweise aus dem Club. Wie wirkt sich das auf deine Arbeit aus?
Das ist mir eigentlich egal. Obwohl ich oft anderer Meinung als die anderen Reviewer bin, habe ich noch nie Probleme bekommen. Ich habe mich auch schon mal verklickt. Bis jetzt hat das niemanden interessiert.

Bist du zufrieden mit der Moderationspraxis von xHamster?
Bei den Sex-Geschichten könnte sie besser sein. Bei Fotos und Videos finde ich sie gut. Da stoße ich nie über Dinge, die besser nicht da sein sollten. Oder zumindest nicht oft.

Weißt du, dass Uploader die schriftliche Erlaubnis von jeder Person haben sollten, die in einem Upload identifizierbar ist? Halten sich xHamster-Nutzer daran?
Ja, das weiß ich. Ob sich die Benutzer dran halten … wohl eher nicht, wenn ich dran denke, wie viel Copyright-Kram wir aussortieren.

Wenn man dir die Macht geben würde, die komplette Löscharbeit von Inhalten auf xHamster neu und besser zu gestalten, was würdest du machen?
Gut wäre, wenn das Handbuch in einem Wiki wäre, so dass man wiederkehrende Fragen da aufnehmen kann. Ich würde es auch nachvollziehbar machen, wer wie gereviewt hat. Es gibt wohl einige Kollegen, die es sich einfach machen und viele Fotos auf einmal als "Copyright" oder "Underage" bewerten. Man sollte jedes Bild einzeln anschauen und dann bewerten.

Beratung und Unterstützung bei sexualisierter Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, in Deutschland beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.

Folge Yannah und Sebastian auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram  und Snapchat.

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<![CDATA[Inside xHamster: Wir veröffentlichen die internen Regeln von Deutschlands meistbesuchter Pornoseite]]>https://www.vice.com/de/article/xgz8xz/inside-xhamster-die-internen-regeln-der-pornoseiteTue, 27 Oct 2020 06:59:57 GMTMan muss sich xHamster als einen sicheren Ort vorstellen – jedenfalls wenn man glaubt, was die meistbesuchte Pornoplattform Deutschlands über sich selbst erzählt.

Niemand darf auf xHamster Dinge hochladen, an denen er keine Rechte besitzt. Inhalte dürfen gegen keine Gesetze verstoßen. Und jede identifizierbare Person in einem Foto oder Video auf xHamster muss ihr Einverständnis für den Upload gegeben haben. So steht es in den Nutzungsbedingungen, denen jeder Besucher der Seite zustimmen muss.

Exklusive VICE-Recherchen im Löscharbeiter-Team von xHamster zeigen, dass dieses Szenario kaum etwas mit der Realität zu tun hat. Die Plattform mit Sitz in Zypern unternimmt äußerst wenig, um die eigenen Regeln durchzusetzen. Zwar gibt es ein Team aus freiwilligen xHamster-Nutzenden, das die Massen neuer Foto-Uploads kontrolliert. Aber die Löscharbeiter erhalten von xHamster nur sehr begrenzte Möglichkeiten, um ein Foto tatsächlich entfernen zu lassen – oder um zu überprüfen, ob ein Uploader ein Foto wirklich hochladen darf.

Hier gibt es alle Texte der Artikelserie Inside xHamster.

Die Arbeitsgrundlage für Löscharbeiter ist ein knappes Handbuch mit rund 2.800 Zeichen. Die knappen Anweisungen bewirken, dass auch fragwürdige Inhalte im Zweifel erst einmal online bleiben, solange sich Löscharbeiter nicht vollständig sicher sind, dass sie gegen die Regeln verstoßen. Bis heute war dieses Handbuch nicht öffentlich verfügbar. Wir veröffentlichen es hier in voller Länge.

xHamster hat keine unserer Fragen zu den Inhalten des Handbuchs beantwortet. xHamster-Sprecher Alex Hawkins wies darauf hin, dass es neben dem freiwilligen Löschteam auch bezahlte Support-Mitarbeiter von xHamster gebe. Wie die Arbeit zwischen den Teams genau aufgeteilt wird und ob sich die Regeln der Support-Mitarbeiter von denen des Löschteams unterscheiden, hat er auf Nachfrage jedoch nicht beantwortet.

Trigger-Warnung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen von sexualisierter Gewalt, die unter Umständen retraumatisierend sein können.

Löscharbeiter entscheiden per Knopfdruck

Der Screenshot zeigt eine Web-Oberfläche mit elf Buttons für Löscharbeiter
Die Knöpfe der Löscharbeiter | Screenshots: xHamster

Der Eintrag "Neues Handbuch für Reviewer" ist laut Zeitstempel ein Jahr alt. Der Eintrag kann aber von xHamster jederzeit überarbeitet werden, ohne dass sich der Zeitstempel aktualisiert. Während unserer Recherche ist das mehrfach passiert. Die Veröffentlichung des Handbuchs kann also nur eine Momentaufnahme sein.

Es gibt einen weiteren Eintrag mit dem Namen "Handbuch für Reviewer", der offenbar veraltet ist. Er trägt einen neun Jahre alten Zeitstempel. Offenbar gibt es darüber hinaus weitere Arbeitsanweisungen, die von Fall zu Fall zwischen xHamster-Support und Löscharbeitern besprochen werden. Einige davon wurden vor sieben Jahren erstmals in einem ergänzenden Handbuch zusammengefasst.

Das "neue Handbuch" beginnt mit einem Screenshot der Knöpfe, die Löscharbeiter beim Überprüfen von Inhalten drücken können.

Wenn ein Foto zur Überprüfung bei den Löscharbeitern landet, ist es bereits auf xHamster öffentlich verfügbar. Sobald Löscharbeiter auf "Public" drücken, gilt das Foto als OK.

Ist sich ein Löscharbeiter nicht sicher, was er tun soll, drückt er auf "Skip" und überlässt die Entscheidung seinen Kolleginnen und Kollegen.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Beispiele von Nacktfotos mit Logos anderer Websites
Alle Screenshots sind im Original unverpixelt | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Bis Anfang Oktober begann das Regelwerk mit dem Thema Copyright. Als Copyright-Verstoß galten demnach allein Uploads, die Webadressen oder Logos anderer Websites zeigen. Nicht OK waren zudem Aufnahmen, auf denen Logos und Webadressen per Bildbearbeitung kaschiert wurden.

Im Handbuch unerwähnt blieben Copyright-Verstöße durch Uploads aus Filmen und Serien sowie Verstöße durch jede andere Art von Veröffentlichung ohne Nutzungsrechte. Denn eigentlich kann niemand einfach so das Nacktbild einer fremden Person veröffentlichen, wenn er nicht deren Einverständnis hat.

Spätestens am 7. Oktober wurden aber selbst diese rudimentären Regeln komplett gestrichen. Eine xHamster-Administratorin teilte den Löscharbeitern mit: "Ab jetzt werden wir alle Copyright-geschützten Fotos online lassen." Auf unsere Nachfrage kommentierte xHamster diese Änderungen nicht.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Nacktfotos mit URLs zu anderen Websites
Rot markiert hat xHamster hier jeweils die URL zu einer anderen Website | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Die Löscharbeiter sollten laut Handbuch fortan nur noch dann Uploads mit dem Logo anderer Websites löschen, wenn sie als Spam zu erkennen sind, indem alle Fotos einer Galerie dasselbe Logo tragen.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Nacktfotos mit Logos anderer Websites
Rot markiert hat xHamster jeweils das Logo einer anderen Website | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Männer werden aussortiert

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Fotos mit teilweise nackten Männern
Wie sehen Männer aus? | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Auf xHamster werden Aufnahmen, die nur Männer zeigen, streng von Aufnahmen getrennt, die mindestens eine Frau zeigen. Löscharbeiter helfen beim Sortieren.

Die Beispielfotos sind an dieser Stelle des Handbuchs außergewöhnlich ausführlich. Selbst der Fall "Bekleideter Mann" wird durch ein eigenes Foto illustriert – falls sich Löscharbeiter spontan nichts darunter vorstellen können.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Nacktfotos, die xHamster in die Kategorie
Der Bereich “Shemale” | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Neben dem gesonderten Bereich für Aufnahmen mit Männern gibt es auf xHamster auch einen Bereich namens "Shemale". xHamster verzichtet an dieser Stelle auf eine kritische Diskussion von nicht-binären Identitäten. Löscharbeiter sollen Aufnahmen in diese Kategorie schieben, wenn die gezeigten Personen einen Penis und Brüste haben.

Als minderjährig gilt, wer minderjährig aussieht

Der Screenshot zeigt eine kindlich und eine erwachsen wirkende Puppe
Die rechte Puppe gilt offenbar als erwachsen | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Das Thema Minderjährige handelt xHamster mit zwei Beispielfotos und vier Zeilen Text ab. Nicht erlaubt sind demnach Bilder von Personen, die dem Anschein nach "mit hoher Wahrscheinlichkeit unter 18" sind. Wie genau man das feststellen soll, bleibt zunächst den Löscharbeitern überlassen.

Das Thema ist auch juristisch relevant. Nach dem Strafgesetzbuch drohen für die "Verbreitung jugendpornografischer Schriften" eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Von xHamster gab es zu diesem Thema – wie zu den anderen Aspekten des Handbuchs – keinen Kommentar.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Fotos mit Hunden
Der schwarze Balken vor den Augen des Hundes ist auch im Original vorhanden | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Unter dem Stichwort "Zoo" fasst xHamster verbotene Darstellungen von Tieren zusammen. Auch dieses Thema ist juristisch relevant. Für die "Verbreitung tierpornografischer Schriften" drohen in Deutschland ebenso Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder Geldstrafen. Erlaubt sind Tierfotos auf xHamster, wenn sie nicht sexualisiert sind.

Hast du mal bei Pornhub, xHamster oder einer anderen großen Pornoplattform gearbeitet – oder arbeitest dort noch immer? Hast du schon mal versucht, Inhalte von dort löschen zu lassen? Wir würden uns freuen von dir zu hören. Du erreichst uns verschlüsselt via Signal oder WhatsApp (+49 152 1012 4551) sowie Threema 27DS6P2R, am besten mit einem Gerät, das nicht deinem Arbeitgeber gehört.

Das Beispielfoto unten rechts zeigt übrigens eine Szene aus der US-Comedyserie Wilfred mit Elijah Wood. Eigentlich müsste die Verbreitung dieses Fotos auf xHamster ein Copyright-Verstoß sein. Aber das wird auf der Plattform offenbar anders gehandhabt. Wir haben xHamster auf den Widerspruch hingewiesen; der Sprecher kommentierte es nicht.

Bei Kot und Regelblut ist xHamster streng

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Fotos, die bei xHamster unter die Kategorien
Unverpixelt im Original | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Kot kann xHamster offenbar gar nicht leiden: Solche Aufnahmen sollen gelöscht werden. Das Thema ist der Plattform so wichtig, dass Löscharbeiter dafür sogar einen eigenen Button haben: "Shitting". In derselben Kategorie verortet xHamster zudem Regelblut und Erbrechen. Dabei ist all das nicht einmal illegal.

Keinen gesonderten Button haben Löscharbeiter übrigens für Dinge, die durchaus illegal sind, etwa Vergewaltigung und Voyeurismus, also unerlaubte Nacktaufnahmen mit versteckter Kamera. Voyeurismus wird im Regelwerk sogar überhaupt nicht erwähnt. Dabei sind heimliche Aufnahmen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich, etwa aus der Dusche oder von der Toilette, nach 201a StGb strafbar.

Sexualisierte Gewalt fällt unter "Sonstiges"

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Fotos, die auf xHamster nicht erlaubte Darstellungen von Gewalt und Drogen abbilden
Die Kategorie für "fragwürdige Dinge" | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Sexualisierte Gewalt findet im xHamster-Handbuch erst unter dem Stichwort "Other", Weiteres, Erwähnung. Das Handbuch ist in dieser Hinsicht veraltet, denn inzwischen gibt es für "Violence" durchaus einen separaten Button für Löscharbeiter.

Bei der Frage, was man genau unter "Violence" verstehen darf, ist das Handbuch aber zurückhaltend. Ausdrücklich erwähnt werden "Blut", "echtes Weinen" und "echtes Erhängen". Auf den Beispielfotos sind dagegen lediglich blutende Personen abgebildet. Für andere Problemfälle müssen Löscharbeiter eine schriftliche Begründung mitliefern. Eine Meldung in der Kategorie "Other" können Löscharbeiter ohne eine Begründung nicht abschicken.

xHamster verbietet zudem die Darstellung von Drogen und Drogenkonsum. Fotos mit Drogen sind uns während unserer Zeit als Löscharbeiter jedoch kaum begegnet.

Screenshot aus dem Handbuch: Telefonnummern, Fotos von Ausweisen etc. sind ebenfalls nicht erlaubt
HIerfür gibt es keine Beispielfotos | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Während unserer Recherche wurden dem Handbuch außerdem weitere Dinge hinzugefügt, die fortan als verboten gelten, etwa Ausweisdokumente oder Links zur Dropbox-Ordnern. Ob diese neue Regel auch rückwirkend für bereits bestehende Uploads angewandt werde, hat xHamster nicht beantwortet.

Die Regeln widersprechen sich selbst

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Fotos, die bei xHamster aus verschiedenen Gründen OK sind
Die Beispiele offenbaren Widersprüche | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Gegen Ende des Handbuchs gibt es noch ein paar abschließende Bemerkungen. Demnach sind auch Scans von Pornomagazinen erlaubt – eigentlich ein Copyright-Verstoß.

Screenshots von Chatverläufen erlaubt xHamster ebenfalls. Zumindest nach deutschem Recht ist ein solcher Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte weniger ratsam. Denn wer einen privaten Chatverlauf ohne Einverständnis des Gesprächspartners veröffentlicht, riskiert Unterlassungs- und Schadensersatzforderungen.

Besonders eigenartig ist das Beispiel-Foto unten links. Es steht auf den ersten Blick im direkten Widerspruch mit den xHamster-Regeln zu Minderjährigen. Die Figur sieht kindlich aus, ist aber offenbar auf xHamster nicht verboten. Das symbolisiert der grüne, nach oben gereckte Daumen. Ist die gezeichnete Figur etwa nicht "mit hoher Wahrscheinlichkeit unter 18"? Oder sind Mangas eine Ausnahme – obwohl Puppen laut Handbuch keine Ausnahme darstellen?

Auch das hat xHamster auf unsere Nachfrage nicht kommentiert. Das Beispiel zeigt, wie schwer man sich auf Kriterien verlassen kann, die letztlich rein subjektiv sind.

Im Zweifel sollen Aufnahmen online bleiben

Der Screenshot zeigt schriftliche Bemerkungen aus dem Handbuch für Löscharbeiter
"100% sure" | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Das Handbuch endet mit einer Warnung. "Entferne keine Inhalte, wenn du nicht zu 100 Prozent sicher bist, dass es illegal ist, wenn sie hier sind". Damit setzt xHamster eine klare Priorität: Im Zweifel bleiben Inhalte erst einmal online und damit für potenziell alle Öffentlichkeit sichtbar. Für mutmaßlich illegale Inhalte bedeutet das, sie können bis auf Weiteres betrachtet und verbreitet werden, auch wenn bereits erste Zweifel oder ethische Bedenken bestehen. Zumindest nennt das Handbuch die Möglichkeit, Problemfälle zur Diskussion zu stellen.

Wir haben xHamster gefragt: "Inwieweit halten Sie das für ausreichend, um Opfer von Vergewaltigung, sexueller Gewalt und Filmmaterial, das ohne Zustimmung erstellt oder veröffentlicht wurde, zu schützen?" Keine Antwort.

Ein Beispiel-Foto für "echtes Weinen"

Das ergänzende Handbuch werden wir hier nicht vollständig wiedergeben. Mehrere Beispielfotos doppeln sich mit dem "Neuen Handbuch". Andere Stellen sind für die Öffentlichkeit weniger relevant – etwa, dass es nicht gegen die Regeln von xHamster verstoße, sich Objekte in die Eichel zu schieben.

Wir haben xHamster gefragt, ob das Handbuch noch gültig sei. Der Sprecher Hawkins erklärte, dass es für die Nachwelt noch online gelassen werde und dass Löscharbeiter inzwischen auf das neue Handbuch verwiesen würden. Ein klares Nein ist das nicht. Die Kommentarsektion unter dem angeblich veralteten Handbuch zeigt, dass Löscharbeiter es noch immer für ihre aktuelle Arbeit zurate ziehen.

Von besonderem öffentlichem Interesse sind die Bemerkungen zum Thema Minderjährige und sexualisierte Gewalt.

Der Screenshot zeigt schriftliche Bemerkungen aus dem Handbuch für Löscharbeiter
Piercings, Tätowierungen, Dehnungsstreifen | Screenshot: xHamster, "SM_65's Guide to Reviewing"

An dieser Stelle werden zumindest ein paar Kriterien genannt, anhand derer Löscharbeiter Minderjährige und Erwachsene unterscheiden sollen: "Piercings, Tätowierungen, die generelle Körperfülle, Dehnungsstreifen, etc."

Eine in irgendeiner Weise fundierte Entscheidung über das Alter einer abgebildeten Person ist damit weiterhin nicht möglich. Besser wäre es, wenn Löscharbeiter vom Uploader einen schriftlichen Nachweis über das Alter und den Konsens einer Darstellerin einfordern könnten.

Der von uns verpixelte Screenshot zeigt Nacktfotos, die auf xHamster erlaubte und nicht erlaubte Gewalt illustrieren
Pistolen als Indikator für Gewalt | Screenshot: xHamster, "SM_65's Guide to Reviewing"

Das ergänzende Handbuch enthält außerdem einen Hinweis, was xHamster-Löscharbeiter unter "Vergewaltigung" verstehen sollen. In insgesamt vier Beispiel-Fotos werden Frauen gezeigt, die unter vorgehaltener Pistole offenbar zum Sex gezwungen werden. Weitere Kriterien außer einer Pistole erwähnt das Handbuch aber nicht.

Als zulässige Gewalt gilt laut ergänzendem Handbuch das Foto eines Hinterns, der offenbar durch Schläge gerötet ist. Blut ist dagegen nicht erlaubt, ebenso wie Bilder mit NS-Bezug. Besonders bizarr ist das Foto einer Frau mit von Tränen überströmten Gesicht, das als Illustration für "echtes" Weinen dienen soll. Ist Weinen mit weniger Tränen etwa nicht mehr als "echt" zu werten? xHamster hat uns diese Frage nicht beantwortet.

Trotz einzelner Ergänzungen ist das Regelwerk von xHamster äußerst knapp und lückenhaft. Löscharbeiter können damit Minderjährige und andere Opfer von sexualisierter und digitaler Gewalt nur unzureichend schützen. Im Zweifel bleibt ein Foto zunächst online und muss zur Diskussion gestellt werden. Doch wie reagiert xHamster, wenn Löscharbeiter sich mit ethischen Bedenken zu Wort melden? Wie läuft die Löscharbeit in der Realität ab? Unsere ausführliche Reportage zu diesem Thema gibt es hier.

Beratung und Unterstützung bei sexualisierter Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, in Deutschland beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.

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<![CDATA[Inside xHamster: Undercover im Löschteam der meistbesuchten Pornoseite Deutschlands ]]>https://www.vice.com/de/article/akdzdp/inside-xhamster-undercover-im-loeschteam-der-pornoseiteTue, 27 Oct 2020 06:59:35 GMTEs ist der 5. September, und auf der meistbesuchten Pornoseite Deutschlands wird darüber gestritten, woran man eine minderjährige Person erkennt. Für die internationale Crew aus freiwilligen Löscharbeitern ist das wichtig. Es ist nämlich ihr Job, frisch hochgeladene Fotos auf der Pornoseite zu überprüfen, und Nacktfotos von Menschen unter 18 sind verboten.

Ein Löscharbeiter schreibt, Minderjährige hätten "keine Intimbehaarung und einen unschuldigen Blick". Sein Kollege widerspricht vehement. Es sei weit verbreitet, sich zu rasieren. "Ein unschuldiger Blick ist nirgendwo im Handbuch erwähnt und sollte nicht in Betracht gezogen werden."

Mitten in der Diskussion steckt auch Holger, ein fiktiver xHamster-Nutzer, den wir heimlich ins Team der Löscharbeiter geschleust haben. Mit seiner Hilfe wollen wir unmittelbar beobachten, wie zuverlässig die Plattform mutmaßlich illegale Fotos löscht. Als Löscharbeiter möchte Holger nämlich alles richtig machen, nach bestem Wissen und Gewissen.

Er wird schnell an Grenzen stoßen.

Frisch eingeschleust findet sich Holger in einem Team aus offenbar mehr als 100 unbezahlten, freiwilligen Löscharbeitern wieder. Von nun an soll er kontrollieren, welche Fotos die Besucherinnen und Besucher der Seite täglich sehen dürfen und welche nicht. Das hat Auswirkungen auf Millionen Menschen weltweit, denn xHamster ist ein Internet-Gigant. Die Plattform steht im Oktober auf Platz 11 der meistbesuchten Websites in Deutschland, noch vor Bild, Spiegel und PayPal. Im weltweiten Ranking belegt xHamster im Oktober immerhin Platz 22, noch vor eBay.

Auf xHamster veröffentlichen Nutzerinnen und Nutzer Fotos, Videos und erotische Kurzgeschichten. Eine Auswahl an Porno-Genres auf der Startseite gibt einen Eindruck, was auf der Plattform beliebt ist – zum Beispiel "Amateure", "BDSM" und "Handjob". Jeder kann auf xHamster anonym einen Account anlegen und hochladen, was er möchte.

All die neuen Inhalte bedeuten Arbeit für das freiwillige Löschteam. Ausgestattet mit einem Handbuch über erlaubte und verbotene Bilder klicken sich die Löscharbeiter täglich durch Tausende neue Foto-Uploads. Videos überprüfen die Löscharbeiter inzwischen nicht mehr. Warum das so ist und wie genau xHamster stattdessen Videos überprüft, hat die Firma auf unsere Anfrage nicht beantwortet.

Hier gibt es alle Texte der Artikelserie Inside xHamster.

Ihre Arbeit verrichten die Löscharbeiter anonym mit ihren privaten xHamster-Accounts. Nicht einmal xHamster weiß, wie sie alle wirklich heißen. Für unsere Recherche ist das ein Vorteil: Keiner schöpft Verdacht, dass hinter dem Account von Holger eigentlich VICE-Journalisten stecken.

Mehrere Wochen lang sichten wir als Löscharbeiter für xHamster mutmaßlich legale und illegale Inhalte, studieren die internen Regeln der Pornoplattform und sprechen mit anderen Löscharbeitern. Unsere Recherche zeigt: xHamster fordert seine Löscharbeiter ausdrücklich auf, selbst solche Inhalte durchzuwinken, an deren Rechtmäßigkeit sie erhebliche Zweifel haben, sofern sie sich nicht zu 100 Prozent sicher sind, dass sie gegen die Regeln von xHamster verstoßen. Diese Regeln bieten aber keinen umfassenden Schutz vor sexualisierter und digitaler Gewalt auf der Plattform.

Aufnahmen von mutmaßlich Minderjährigen, die dem Gesetz gegen Verbreitung von Jugendpornografie zufolge strafbar sein könnten, werden von den Löscharbeitern so nur mangelhaft aussortiert. Durchgewunken werden auch Aufnahmen, die dem Anschein nach von Spannern gegen den Willen der gezeigten Personen verbreitet werden. Das Interesse der xHamster-Besucher an diesen Inhalten ist offenbar groß: Die Genres "Teen" und "Voyeur" werden auf der Startseite von xHamster präsentiert.

Unsere Recherche zeigt auch, wie wenig xHamster offenbar investiert, um Opfer vor sexualisierter und digitaler Gewalt zu schützen. Die Löscharbeiter erhalten kein Geld und keine persönliche Schulung. Die inhaltliche Betreuung der Crew durch eine xHamster-Administratorin beschränkt sich, so haben wir es in unserer Recherche erlebt, vor allem auf knappe Textnachrichten. Teils reagierte die Administratorin mehrere Tage nicht auf geschilderte Probleme. Holger scheiterte mehrmals beim Versuch, klare Regeln zu erfragen.

Auf unsere 67 detaillierten Fragen per E-Mail hat xHamster mit knappen, allgemeinen Statements reagiert. Probleme im Regelwerk der Löscharbeiter wurden nicht kommentiert. Auch nicht, als wir noch einmal nachhakten, und der Firma weitere 24 Stunden Zeit für eine ausführlichere Antwort anboten.

"Wir können aus einer Reihe von Gründen (Sicherheit, technische Gründe) nicht auf Einzelheiten unserer internen Überprüfung eingehen", schreibt uns Alex Hawkins, Vice President von xHamster, auf Englisch. Als Grund für die Verschwiegenheit nennt Hawkins, man wolle "potenziellen Tätern keine Einblicke geben, wie sie die Systeme von xHamster umgehen könnten". Hawkins schreibt weiter: "Seien Sie versichert, dass Kontrollen und Überprüfungen existieren."

An der "Existenz" von Kontrollen lässt die Recherche keine Zweifel – wohl aber an ihrer Wirksamkeit.

Trigger-Warnung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen von sexualisierter Gewalt, die unter Umständen retraumatisierend sein können.

In den eigenen, englischsprachigen Nutzungsbedingungen zeichnet xHamster ein ideales Bild von Online-Pornografie. Demnach verpflichten sich Uploader, "das schriftliche Einverständnis, die Freigabe und/ oder die Erlaubnis jeder einzelnen identifizierbaren Person" zu besitzen. Verboten sind laut Nutzungsbedingungen neben Copyright-Verstößen alle Uploads, die "gesetzeswidrig, schädlich, bedrohlich, missbräuchlich, belästigend (….) oder anderweitig anstößig" sind. Außerdem betont xHamster in fetten Großbuchstaben: "Wir haben eine Null-Toleranz-Policy gegenüber pornografischem Material mit Minderjährigen".

Würden sich alle an diese Regeln halten, dann wäre xHamster eine Plattform für sexuelle Freiheit und selbstbestimmten Austausch unter Gleichgesinnten. Nutzerinnen und Nutzer würden nur Aufnahmen von sich selbst oder von Menschen hochladen, deren Einverständnis sie haben. Auch xHamster-Sprecher Hawkins betont, xHamster habe "nie die Absicht gehabt, Menschen zu erlauben, jemanden bloßzustellen oder zu demütigen". Deshalb fordere die Plattform Menschen dazu auf, zusammen daran zu arbeiten, dass xHamster ein "sicherer Ort" sei.

Unsere Recherche im Löschteam zeigt aber: Die Realität sieht komplett anders aus. Die Löscharbeiter sollen nach Augenschein entscheiden, ob eine Person unter 18 sein könnte oder nicht. Bilder von mutmaßlich Minderjährigen werden deshalb nur dann verlässlich von den Löscharbeitern entsprechend markiert, wenn sie eindeutig kindlich aussehen. Sollten Löscharbeiter den Verdacht haben, es könnten illegale Voyeur-Aufnahmen vorliegen, dann haben sie nicht mal die Option, nach schriftlichen Einverständniserklärungen zu verlangen.

Bevor Holger fleißig erste Fotos bewertet, hat er aber vor allem Fragen. Wie soll er bitte beurteilen, ob zum Beispiel eine nackte Frau am Strand bereits 18 Jahre alt ist? Er beschließt deshalb, erst einmal die Kollegen zu beobachten.

Bis heute ließ sich xHamster nur von außen betrachten. Vergangene Recherchen zeigten etwa, wie lax die Pornoplattform damit umgeht, wenn Zuschauer Videos mit Verdacht auf sexualisierte Gewalt melden. Im Sommer 2019 wurden auf xHamster Aufnahmen von versteckten Kameras verbreitet, die Frauen auf Musikfestivals beim Duschen und auf der Toilette zeigten. xHamster ließ den Account von einem der Uploader VICE-Recherchen zufolge noch tagelang online. Auch verbotene Aufnahmen aus einer deutschen Sauna konnten ungehindert auf xHamster kursieren.

So haben wir uns ins Löschteam von xHamster geschleust

Screenshot vom
Zentrale Plattform für Löscharbeiter: das nur für "Freunde" sichtbare Profil des "RClub" | Screenshot: xHamster

Wenn es um interne Abläufe geht, gibt sich xHamster geheimnisvoll. Im Dezember 2019 haben wir erstmals gefragt, wie viele Menschen bei xHamster hochgeladene Inhalte überprüfen. "Wir können die genaue Anzahl nicht bekannt geben", antwortete eine Sprecherin. Videos würden auf xHamster erst veröffentlicht, nachdem sie genehmigt und geprüft worden seien. Die Arbeit werde teils vom Support-Team des Unternehmens erledigt, teils vom sogenannten "Reviewers Club". Ein "Club" zum Überprüfen von Nacktaufnahmen?

Wie wir heute wissen, ist damit nichts anderes gemeint als jene Gruppe, die freiwillig für xHamster Löscharbeiten erledigt. Inzwischen ist dieser Club nicht mehr für Videos zuständig, sondern nur noch für Fotos. Wenn die Löscharbeiter des "Reviewers Club" ein Foto überprüfen, ist es bereits online. Gelöscht wird also nach der Veröffentlichung, nicht davor.

Die Pressesprecherin erklärte uns im Dezember 2019, dass sich jeder xHamster-Nutzer für den Club bewerben könne. Eine E-Mail genüge. Also haben wir Holger erfunden, einen 30-jährigen Berliner, der sich auf seinem Profil als heteroflexibel und zuverlässig bezeichnet – und der gerne einen Teil seiner Freizeit im "Reviewers Club" verbringen würde.

Wie sich herausstellte, brauchte Holger aber vor allem eine andere Eigenschaft, um Löscharbeiter für xHamster zu werden: Geduld. Denn erst ab 200 Tagen auf der Plattform können sich Nutzer für den Club bewerben. Monate später kassierten wir erneut eine Abfuhr. Diesmal hieß es: Holger müsse "mindestens ein wenig eigenen Content" hochladen.

Also weihten wir eine Sexarbeiterin in unsere Recherche ein. Sie erklärte sich bereit, in die Rolle von Holgers Frau zu schlüpfen und einige Nacktaufnahmen für den Upload auf xHamster beizusteuern. Doch selbst das war nicht genug.

Wochenlang wurde Holger von der zuständigen Administratorin immer wieder hingehalten. Zuerst sollte er neben den Videos noch ein paar Fotos hochladen. Das tat er gewissenhaft – aber ohne Erfolg.

Admin: "Kannst du noch mehr hochladen?"
Holger: "Klar, wie viel brauchen wir denn?"
Keine Antwort.

Ob all das noch zum Bewerbungsverfahren gehörte? Wenn ja, dann ließen sich für Holger keine Kriterien erkennen. Er hakte freundlich nach, zwei Tage später, elf Tage später. Ob er etwas falsch gemacht habe? Keine Reaktion.

Fast hatte er schon aufgegeben, als Holger im Sommer 2020 plötzlich die Freischaltung für den "Reviewers Club" erhielt. Seitdem ziert ein goldener Sheriffstern sein Profil auf der Plattform, darauf prangt der Schriftzug: "xHamster Reviewer". Holger musste sich für diese Position nie identifizieren und auch kein persönliches Vorstellungsgespräch führen. Er musste nicht beweisen, dass er sich als Person dafür eignet, sensible Inhalte zu überprüfen und folgenschwere Entscheidungen zum Schutz von Opfern sexualisierter Gewalt zu treffen.

Allein durch die Nacktaufnahmen einer fremden Frau und durch beharrliches Nachhaken ist Holger zum Löscharbeiter auf einer der größten Pornoplattformen der Welt geworden. xHamster überlässt die sensible und verantwortungsvolle Aufgabe der Löscharbeit fremden Leuten, über deren Motive und Eignung der Firma kaum etwas bekannt ist.

Inside xHamster: Der Arbeitsplatz der Löscharbeiter

Screenshot der Sheriffsterne für die Reviewer des Monats, Platz 1 bis 3
Sheriffsterne für die "Reviewer des Monats" | Screenshot: xHamster

Der "Reviewers Club" erinnert mit seinem eingestaubten Design an das alte MySpace. Holger soll zuerst die Moderationsregeln lesen, ein "Manual" mit rund 2.800 Zeichen und 38 Beispielfotos. Hier haben wir das interne Regelwerk von xHamster veröffentlicht.

Die zentrale Plattform für den Austausch unter den Löscharbeitern ist nicht etwa ein eigens programmiertes Forum, sondern die profane Pinnwand eines xHamster-Accounts namens "RClub". Sichtbar ist die Pinnwand nur für Freunde, deshalb muss auch Holger den "RClub" als xHamster-Freund hinzufügen.

Auf der Pinnwand veröffentlichen Holgers neue Kollegen ihre aktuellen Fragen, posten Links zu problematischen Bildergalerien und bekritteln die Regeln aus dem Handbuch. Mehr als 1.145 Seiten lang ist die Pinnwand bereits, die ältesten Einträge sind neun Jahre alt. Übersichtlich ist das nicht. Die Löscharbeiter von xHamster müssen auf moderne Team-Software mit thematisch aufgeteilten Channels verzichten.

Das Handbuch mit den Moderationsregeln ist nur für Mitglieder des "Reviewers Club" sichtbar. Die aktuelle Version, die sich Holger einprägen soll, ist laut Zeitstempel ein Jahr alt. Eine ältere Version der Regeln mit weniger Beispielfotos erschien vor neun Jahren.

Die Freundesliste des "RClub" zählt Anfang Oktober rund 130 Accounts. Durch diese Liste kann sich Holger ein erstes Bild seiner neuen Kolleginnen und Kollegen verschaffen. Einige sind offenbar xHamster-Mitarbeiter, die meisten freiwillige Löscharbeiter. Sie haben Nicknames wie "DirtyPervert", "Upskirt" und "Cumslut". Es gibt aber auch Namen wie "Nick" oder "David". Ein Löscharbeiter hat als Profilbild einen ejakulierenden Penis, ein anderer eine Vulva in Nahaufnahme.

Es ist zunächst nichts Ungewöhnliches, wenn Online-Plattformen auch auf die Mitarbeit von Freiwilligen setzen. Das tut auch YouTube für die Moderation unerlaubter Videos. Die Crew heißt dort nicht "Reviewers Club", sondern "Trusted Flagger".

Die Löscharbeiter von xHamster verbringen die meiste Zeit damit, sich durch nie enden wollende Reihen aus Nacktbildern zu klicken. Die meisten von ihnen zeigen Frauen. Selten sind nur Männer zu sehen.

Holger lernt schnell, dass es unter den Löscharbeitern Rangunterschiede gibt. Die fleißigsten werden mit außergewöhnlichen Sheriffsternen gewürdigt, die auf ihrem xHamster-Profil prangen. Die drei aktivsten Arbeiter des Monats erhalten einen Sheriffstern in Gold, Silber und Bronze. Eine besondere Rarität ist ein rot verzierter Sheriffstern für eine Million überprüfte Inhalte. Aber davon ist Holger noch weit entfernt.

Elf Knöpfe entscheiden über erlaubte und verbotene Fotos

Screenshot der Konsole, über die die Löscharbeiter Fotos bewerten. In der Mitte ist ein von uns verpixeltes Foto zu sehen
Die Web-Oberfläche für Löscharbeiter – unverpixelt im Original | Screenshot: xHamster

Mit nur zwei Mausklicks gelangt Holger nach dem Login auf xHamster zu einer Web-Oberfläche, um neue Uploads zu überprüfen. Jedes Foto erscheint vor schwarzem Hintergrund, wie bei einer Dia-Show. Löscharbeiter müssen dieses Foto nun genau begutachten und einen von elf verschiedenen Buttons drücken.

Sieben dieser Buttons stehen für "Löschen", etwa wegen Copyright-Verstößen oder der Abbildung von Minderjährigen. Gelöscht werden soll ein Foto auch, wenn Tiere oder Kot sichtbar sind. Zwei weitere Buttons verschieben ein Foto in andere Kategorien mit den Titeln "Shemale" und "Male". Mit einem Klick auf den grünen Button "Public" erklären Löscharbeiter ein Foto für OK. Wer nicht weiter weiß, soll "Skip" drücken, damit ein Kollege die Prüfung übernimmt.

Hast du mal bei Pornhub, xHamster oder einer anderen großen Pornoplattform gearbeitet – oder arbeitest dort noch immer? Hast du schon mal versucht, Inhalte von dort löschen zu lassen? Wir würden uns freuen, von dir zu hören. Du erreichst uns verschlüsselt via Signal oder WhatsApp (+49 152 1012 4551) sowie Threema 27DS6P2R, am besten mit einem Gerät, das nicht deinem Arbeitgeber gehört.

Ein Counter dokumentiert, wie viele Fotos Holger bereits überprüft hat. Gelöscht wird ein Foto erst, wenn mehrere Löscharbeiter darüber ihr Urteil gefällt haben. Das funktioniert so: Holger sieht zum Beispiel das Foto eines Mädchens in Kleidern. Aber auch die nicht-sexualisierte Darstellung von Menschen unter 18 ist auf xHamster grundsätzlich nicht erlaubt. Holger klickt also auf "Underage". Doch erst, sobald auch andere seiner Kollegen das Foto überprüft und auf "Underage" geklickt haben, wird es von xHamster entfernt.

Kommen Holgers Kollegen mehrheitlich zu einem anderen Urteil, dann bleibt das Foto online und in Holgers persönlicher Statistik wird ein Fehler verzeichnet. Solche Fehler sollte er möglichst vermeiden. Wer mehr als 15 Prozent der Fotos falsch einordne, so heißt es jedenfalls im älteren der beiden Handbücher, verliere dauerhaft den Status als Löscharbeiter. Ob das weiterhin gilt oder ob Fehler bei der Löscharbeit heute andere Konsequenzen haben, hat xHamster nicht beantwortet.

Ebenso nicht verraten hat uns xHamster, wie viele Löscharbeiter ein übereinstimmendes Urteil fällen müssen, bevor ein Foto gelöscht wird. xHamster-Sprecher Hawkins zufolge würden Meldungen von Löscharbeitern außerdem nochmals intern überprüft. Offen bleibt, nach welchen Kriterien diese angebliche Überprüfung ablaufen soll.

All das wäre noch ein ausgeklügeltes System – gäbe es da nicht das problematische Regelwerk von xHamster.

Der erste Tag als Löscharbeiter: Ist das noch ein Kind?

Screenshot eines Teils des Handbuchs für Löscharbeiter, zu sehen ist eine Spielzeugpuppe, die ein Kind darstellen soll, und eine Puppe, die eine erwachsene Frau darstellen soll. Das Kind ist
Aus dem Handbuch für Löscharbeiter | Screenshot: xHamster, "New reviewers manual"

Nichts stellt Holger häufiger vor ethische Probleme als Fotos von jungen Frauen, die minderjährig sein können. Schmaler Körperbau, jugendliche Gesichtszüge: Wie soll man mit bloßem Auge unterscheiden, ob eine Person 16, 18 oder 23 ist? Als Löscharbeiter erhält Holger keine weiteren Informationen zu Bild und Uploader. Er kann sich allenfalls weitere Uploads aus derselben Galerie anzeigen lassen. Um das Alter einer gezeigten Person zu bestimmen, ist das keine große Hilfe.

Auch das Handbuch für Löscharbeiter liefert kaum Hinweise. In gebrochenem Englisch steht dort: "Das legale Alter einer Person auf dem Bild ist fragwürdig, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit unter 18. Schaue nach Details, die dir helfen, zu erkennen, ob es das Foto einer Minderjährigen ist oder nicht."

Für Löscharbeiter drängt sich damit vor allem eine Frage auf: Was tun, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht etwa "hoch", sondern nur mittel ist? Offenbar sollen Löscharbeiter das Foto in einem solchen Fall online lassen. Das ist ein Anreiz, nicht bei jedem Anfangsverdacht zu handeln und weniger stark ausgeprägte Bedenken zu unterdrücken. Aber Aufnahmen von Minderjährigen werden nicht weniger illegal, wenn die Mädchen darauf schon erwachsen aussehen.

Wir haben xHamster per E-Mail gefragt: "Inwieweit betrachten Sie das als angemessen, um die Opfer von Kinder- und Jugendpornografie zu schützen?" – Keine Antwort.

In den öffentlichen Nutzungsbedingungen klingt xHamster deutlich strenger. Dort steht, selbst gewöhnliche Nutzer der Seite sollten einwilligen, jegliche "fragwürdigen" Aufnahmen von Minderjährigen per E-Mail an xHamster zu melden, damit sie unmittelbar überprüft würden. "Wir tolerieren keinen, der diese Art von Material anbietet."

"Mann, es ist unmöglich, Minderjährige zu reviewen"

Holger fragt seine Kollegen im "Reviewers Club" nach Kriterien für die Entscheidung – und stößt eine Diskussion an. Ein Kollege, der offenbar schon länger dabei ist, zeigt sich von der Frage genervt. "Wir haben die Schnauze verdammt voll davon", schreibt er. "Das Handbuch sagt dir, was nicht erlaubt ist. Und wenn es nicht im Handbuch erwähnt ist, solltest du annehmen, es ist OK."

Ganz so einfach ist es aber nicht. Es gibt noch ein sieben Jahre altes, ergänzendes Handbuch mit ein paar knappen Erläuterungen. Zumindest einige Löscharbeiter beziehen sich in ihren Diskussionen darauf. Darin heißt es: "Schau nach Piercings, Tätowierungen, der generellen Fülle des Körpers, Dehnungsstreifen und so weiter."

Weitere Löscharbeiter pflichten Holger bei. "Mann, es ist unmöglich, Minderjährige zu reviewen", schreibt einer. Ein anderer schreibt: "Glaub mir, auch wir 'Experten' haben das gleiche Problem." Die Entscheidung müsse man nach Bauchgefühl treffen. "Wahre Minderjährigkeit liegt im Auge des Betrachters."

Wir wenden uns an die xHamster-Administratorin, die Holger für den "Reviewers Club" freigeschaltet hat. Sie steht den freiwilligen Löscharbeitern als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Wie die meisten Gespräche im "Reviewers Club" wurde auch dieses auf Englisch geführt und für diesen Artikel übersetzt.

Holger: "Sorry, dass ich nochmal frage, aber ich weiß nicht, wie ich mit dem Thema Minderjährige umgehen soll, wenn die Person auf dem Bild unter 18 sein könnte, vielleicht aber auch nicht. Soll ich aus dem Bauch heraus entscheiden?”
Admin: "Hi. Du kannst skippen, das ist besser, als einen Fehler zu machen."
Holger: "Danke! :) Aber wenn ich skippe, heißt das, dass niemand überprüfen wird, ob die Person tatsächlich minderjährig ist?"
Admin: "Wenn du skippst, wird es jemand anderes reviewen =)"

Wenn ein Kollege bereits Bedenken zu einem Foto geäußert hat, erscheint auf der Web-Oberfläche die Warnung: "Achtung: Dieser Inhalt wurde von einem anderen Reviewer als 'Underage' markiert, bitte überprüfe ihn sorgfältig!" In einem solchen Fall sollen Löscharbeiter den Anfangsverdacht ihres Kollegen bestätigen oder zurückweisen. Dafür können sie aber nichts weiter tun, als das Bild noch einmal zu betrachten. Es gibt keine vorgesehene Möglichkeit, den Uploader eines Bildes zu konfrontieren und weitere Informationen einzufordern.

Dieser Arbeitsablauf scheint im Widerspruch zu öffentlichen Äußerungen von Alex Hawkins zu stehen. Über den Umgang von xHamster mit hochgeladenen Videos sagte er in einem Artikel des US-Magazins Slate: "Wenn überhaupt, sind wir übervorsichtig." Und weiter: "Wenn wir nicht in der Lage sind, das Alter einer Person in einem Amateur-Video zu überprüfen, oder wenn wir etwas Verdächtiges wahrnehmen, erscheint der Inhalt nicht auf der Website."

Auch wenn sich diese Äußerungen von Hawkins auf Videos beziehen, werfen sie Fragen für die Überprüfung von Fotos auf. Sollen auch Löscharbeiter "übervorsichtig" sein, wenn es um Fotos geht – oder sollen sie Aufnahmen von mutmaßlich Minderjährigen nur löschen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie unter 18 sind, "hoch" ist? Wie genau läuft die erwähnte Überprüfung von xHamster ab? Löscharbeiter können nichts weiter tun, als genau hinzusehen – werden von xHamster weitergehende Versuche unternommen?

Wir haben auch diese Fragen xHamster per E-Mail gestellt und keine Antwort erhalten. Stattdessen schrieb xHamster-Sprecher Hawkins: Wenn etwas gegen Nutzungsbedingungen verstoße, werde es entfernt. Das bezahlte Support-Team von xHamster sei den ganzen Tag verfügbar. Als problematisch markierte, fragwürdige Inhalte würden nicht auf der Plattform hochgeladen werden. Hawkins lässt aber offen, wie genau das funktionieren soll.

xHamster sei zudem darauf angewiesen, dass Nutzer "alles melden, was sie als beleidigend empfinden könnten". Dass das nicht ausreicht, scheint xHamster aber bewusst zu sein – schließlich lässt die Firma zusätzlich Holger und die anderen Löscharbeiter die Plattform durchkämmen.

Tausende Fotos täglich: So tickt das Löschteam von xHamster

Screenshot einer Tabelle, in der die fleißigsten xHamster-Löscharbeiter stehen
Die fleißigsten xHamster-Löscharbeiter aller Zeiten | Screenshot: xHamster

Die Löscharbeiter von xHamster arbeiten nicht nur für schicke Sheriffsterne, sie wetteifern auch um eine möglichst gute Platzierung auf der Bestenliste, die für die Kolleginnen und Kollegen sichtbar ist. Gewürdigt werden dort die fleißigsten Löscharbeiter des Tages, der Woche, des Monats und aller Zeiten.

Der Spitzenreiter der Statistik hat bereits rund 20 Millionen Fotos gesichtet, das Ergebnis jahrelanger Arbeit. In einer Woche im Oktober haben die drei fleißigsten Reviewer der letzten sieben Tage zwischen 19.600 und 32.000 Aufnahmen überprüft.

32.000 Fotos in einer Woche – bei einer 40-Stunden-Woche entspräche das rund 13 Bildern pro Minute. Solche Werte lassen sich kaum erreichen, wenn jedes Fotos wirklich im Detail begutachtet wird.

Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Super-Löscharbeiter sich möglichst viele Fotos einer Galerie auf einmal anzeigen lassen. Sichtbar sind die Fotos dann verkleinert in Kacheloptik. Mit der Funktion "Alle markieren" lassen sie sich gesammelt bewerten. Auf diese Weise können xHamster-Löscharbeiter rund 50 Bilder mit nur einem Klick in dieselbe Kategorie schieben.

Screenshot der Lösch-Konsole mit vielen kleinen von uns verpixelten Fotos, die alle mit einem Haken versehen sind
So können Löscharbeiter mehrere Bilder auf einmal zuordnen | Screenshot: xHamster

Dabei besteht immer die Möglichkeit, ein Foto zu übersehen, das aus der Reihe fällt. Doch hinter jedem Upload könnte ein Gewaltopfer stecken: ein Mensch, der lieber nicht öffentlich im Internet als Wichsvorlage sichtbar sein möchte oder vergewaltigt wurde.

"Ich bin süchtig nach Pornos und Sex und ich wollte etwas Neues erleben."

Manche Kolleginnen und Kollegen von Holger sind sich ihrer Verantwortung offenbar bewusst. Einer von ihnen ist Niklas, der wie die meisten Löscharbeiter eigentlich anders heißt. Um unseren Undercover-Löscharbeiter Holger nicht zu enttarnen, schreiben wir ihn mit einem separaten xHamster-Account an, und geben uns offen als Journalistin zu erkennen.

Niklas sagt, er sei 19 Jahre alt, Single, Handwerker aus Bayern. Ihm sei es wichtig, Fotos von Minderjährigen auszusortieren. Zum einen, "weil das hier kein Ort sein sollte, um solche Bilder zu verbreiten", zum anderen, weil "es ja sowieso verboten ist" und er "auch die anderen Mitglieder hier davor schützen" wolle. Aber wie trifft er solche Entscheidungen? "Die Regeln sind nicht gerade sehr eindeutig", schreibt er. Manchmal sei es schon schwer zu entscheiden, ob ein Bild gegen die Richtlinien verstößt oder nicht.

Andere Kollegen von Holger haben bei der Löscharbeit wohl eher ihre persönlichen Bedürfnisse im Blick. Einer von ihnen stellt sich uns als Hausmeister aus London vor; nennen wir ihn Bryan. Er sei erst seit einigen Wochen Teil des "Reviewers Club". xHamster sei seine Lieblingspornoseite, er habe habe hier in den letzten Jahren tonnenweise Zeit verbracht. Seine Motivation? "Ich bin süchtig nach Pornos und Sex und ich wollte etwas Neues erleben."

Das persönliche Erlebnis steht auch für einen Löscharbeiter im Mittelpunkt, den wir Luke nennen. Auf seinem Profil gibt er sich als 20-Jähriger aus Singapur aus. Auf die Frage, wieso er für xHamster Löscharbeit macht, schreibt Luke auf Englisch: "Na ja, ich dachte, das würde mir Privilegien verschaffen." Er erhoffe sich beispielsweise, auf diese Art Zugang zu den Profilen und Videos anderer Nutzer zu bekommen. Geht es ihm auch darum, Aufnahmen zu sehen, die aufgrund der Richtlinien nie auf xHamster landen würden? "Klar, wieso nicht", schreibt er.

Unter Lukes Videos befinden sich Titel wie "Hot teen shower 4" oder "Changing room voyeur" – passwortgeschützt. In seinem Profil schreibt er, dass er Voyeur-Aufnahmen liebe und man sich melden solle, wenn man "tauschen" möchte. Außerdem fragt er, ob jemand die Frau auf seinem Profilbild kenne und wo er mehr von ihr finden könne. Ein Mann, dem das Einverständnis von Frauen offenbar egal ist, darf also für xHamster entscheiden, welche Bilder online bleiben dürfen und welche nicht.

Ganz so abwegig ist Lukes Haltung zur Löscharbeit wohl nicht: Es gibt einen leicht zu übersehenden Button für Löscharbeiter, der nicht im Handbuch erwähnt wird. Es ist ein kleines, graues Herz. Ein Klick darauf fügt das aktuell angezeigte Foto den persönlichen Favoriten des Löscharbeiters hinzu. Der Button wirft die Frage auf, was aus Sicht von xHamster bei der Löscharbeit im Vordergrund steht. Sollen Löscharbeiter Regelverstöße erkennen oder nach persönlicher, sexueller Befriedigung suchen? xHamster hat uns diese Frage nicht beantwortet.

Löscharbeiter sollen "echtes" und gespieltes Weinen unterscheiden

Für unseren fiktiven Freiwilligen, Holger, ist die Löscharbeit vor allem aufwühlend. Ein Satz aus dem Handbuch versetzt ihn in eine besonders schwierige Lage. "Lösche keinen Content, wenn du nicht zu 100 Prozent sicher bist, dass er hier illegal ist." Diese Super-Regel drängt Löscharbeiter immer wieder dazu, leichte Bedenken beiseite zu wischen – denn dieser Regel zufolge zählt nur absolute Sicherheit. Holger soll dann "Skip" drücken oder die Kollegen fragen, während der verdächtige Inhalt weiter öffentlich verbreitet wird. Bei sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen ist das besonders problematisch.

Holger bekam etwa das Foto einer Frau mit einem Strick um den Hals zu sehen, der ihr offenbar den Atem abschnürte. Je nach Kontext kann das ein einvernehmlich inszenierter Fetisch sein oder die Aufnahme einer Erhängung. Das lässt sich anhand eines Fotos kaum mit Sicherheit beurteilen.

Gewalt bespricht das Handbuch erst unter dem Stichwort "Other", Weiteres. Verboten sind demnach: "Blut, Gewalt, Vergewaltigung, extremes BDSM, echtes Weinen, echtes Erhängen." Die Beispielfotos zeigen blutende Brüste, eine blutende Vulva und einen blutigen Hintern. Im ergänzenden Handbuch gibt es noch mehr Beispiel-Fotos für "Vergewaltigung": sie zeigen Frauen, die mit der Pistole bedroht werden.

Pistolen, Blut und Tränen – als ob sich sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen darauf reduzieren ließen. Wie soll man bloß auf einem Foto "echtes" und inszeniertes Erhängen unterscheiden? Wie "echtes" und gespieltes Weinen? xHamster verlangt seinen Löscharbeitern mit diesem Regelwerk Entscheidungen ab, die kein Mensch fundiert treffen kann. Wer das Problem nicht ständig auf andere abwälzen möchte, muss die unmöglichen Urteile selbst fällen.

Wir haben xHamster gefragt: Inwiefern ist die Unterscheidung zwischen "echtem" und gespieltem Weinen ein fundierter Schutz für Opfer sexualisierter Gewalt? Keine Antwort.

Mit einem Klick auf den Button "Other" können Löscharbeiter zumindest eine schriftliche Begründung abgeben, warum sie ein Foto für verboten halten. Doch wenn Löscharbeiter laut Handbuch nur bei 100-prozentiger Sicherheit eingreifen sollen, werden mögliche Täter in Schutz genommen und mögliche Opfer vernachlässigt. Das Regelwerk gibt ihnen kaum Handlungsspielraum, wenn ihnen Aufnahmen seltsam vorkommen.

In einem Fall haben wir den Button "Other" selbst genutzt. Bei der Löscharbeit mit Holgers Account stießen wir auf eine Fotogalerie mit dem englischen Titel "Ex-Freundin, die mich betrogen hat, und ihre Mutter". Die 45 Bilder zeigten die mutmaßliche "Ex-Freundin" mal alleine und nackt, mal offenbar im privaten Umfeld mit ihrer Mutter. Das Handbuch bietet für eine solche Situation keine Anweisungen.

Trotzdem schrieb Holger als Begründung: "Sehr offensichtlicher Fall von Racheporno, bitte löschen", und drückte Enter. Kurz nach dieser Meldung waren zumindest ein Großteil der Fotos nicht mehr verfügbar. Allerdings war die Galerie laut Zeitstempel bereits neun Stunden online und hatte schon mehr als 10.000 Views.

"Fundstücke aus dem Internet": Was Löscharbeiter durchwinken sollen

Beim Thema Nutzungsrechte erweisen sich die xHamster-Regeln als Totalausfall. Zahlreiche Fotogalerien auf xHamster sind offenkundig aus dem Internet zusammenkopiert. Holger muss sich durch wild zusammengewürfelte Nacktfoto-Sammlungen mit zig verschiedenen Darstellerinnen klicken. Trotzdem gibt ihm das Regelwerk keine Handhabe, solche Galerien wegen fehlender Nutzungsrechte zu löschen oder Dokumente einzufordern, die dem Uploader die Veröffentlichung erlauben.

Konkret nannte das xHamster-Handbuch bis Anfang Oktober nur wenige Fälle, in denen ein Upload wegen Copyright-Verstößen gelöscht werden muss, etwa, wenn auf dem Bild eine URL oder ein Logo für eine andere Website zu erkennen ist. Verlässlich gelöscht wurde auf diese Weise wohl vor allem Werbung für Konkurrenz-Websites.

Keine ausdrücklichen Regeln bot das Handbuch für Screenshots aus Filmen und Serien oder für Bilder von Prominenten aus bekannten Nacktfoto-Leaks. Vor dem Gesetz hat jede Person ein Recht am eigenen Bild, und Fremde dürfen das Bild nicht einfach so veröffentlichen.

In der Welt der Löscharbeiter von xHamster gelten solche Regeln offenbar nicht. Das haben wohl auch einige Löscharbeiter verinnerlicht. Einer schreibt auf seinem öffentlichen Profil: "Meine Fotogalerien bestehen aus eigenen Werken und Fundstücken aus dem Internet. Wenn du die Rechte an einem dieser Bilder oder Videos hast, lass es mich wissen und ich lösche sie."

Wir haben xHamster gefragt, inwiefern dieses Verhalten für Löscharbeiter angemessen ist. xHamster-Sprecher Alex Hawkins antwortete, Löscharbeiter müssten wie alle anderen Nutzer den Nutzungsbedingungen folgen. "Wer dagegen verstößt, wird entsprechend behandelt."

Es gehört zur Netzkultur, auch ohne Nutzungsrechte im Internet Memes zu verbreiten, etwa von Kermit, dem Frosch. Aber sobald reale Personen auf einem Bild zu sehen sind, ist die Lage anders. Im schlimmsten Fall verbreiten Nutzer, ohne es wissen zu können, die Fotos von Menschen, die niemals öffentlich zur Schau gestellt werden wollten und dadurch zutiefst verletzt werden.

Mit einer Änderung des Handbuchs in der Woche um den 7. Oktober ging xHamster sogar einen Schritt weiter. Eine Administratorin teilte den Löscharbeitern mit, dass Copyright-Verstöße künftig generell online bleiben würden, das Handbuch werde entsprechend angepasst. Tatsächlich sind die Passagen zum Copyright inzwischen aus dem Handbuch verschwunden. Warum das passiert ist, hat uns xHamster nicht beantwortet.

Das macht xHamster zu einem Ort für massenhafte Verletzungen von Nutzungsrechten. Im Gespräch mit dem US-Magazin Slate stellte xHamster-Manager Alex Hawkins das im Februar etwas anders dar. Er bezieht sich in diesem Fall aber auf Videos, nicht auf Fotos. "Kriminelle wissen, dass sie uns nicht benutzen dürfen, weil wir sehr aggressiv in unserer Kontrolle der Inhalte sind", wird Hawkins von Slate zitiert.

Die Gesetze von xHamster: Voyeurismus OK, Regelblutungen verboten

Screenshot eines Kommentars aus dem xHamster-Forum, dort steht:
Diskussion unter Löscharbeitern | Screenshot: xHamster

Wer ein Foto nicht sicher einordnen kann, soll die anderen Löscharbeiter fragen, so steht es im Handbuch. Davon macht Holger häufig Gebrauch. Auf xHamster kursieren zum Beispiel heimlich erstellte Aufnahmen von Frauen. Dass es sich dabei in vielen Fällen um reale Szenen handelt, zeigen vergangene Recherchen über Frauen, die definitiv gegen ihren Willen fotografiert wurden: etwa in der Sauna, in der Dusche oder auf der Toilette. Solche Aufnahmen sind in Deutschland nach § 201a StGb strafbar. Aber die Löscharbeiter werden nicht ausdrücklich angewiesen, etwas gegen möglicherweise rechtswidrige Aufnahmen dieser Art zu tun. Im Handbuch wird dieses Thema schlicht nicht erwähnt.

Bereits in der Vergangenheit hat sich xHamster zu dem Thema gegenüber VICE geäußert. "Wir können nicht feststellen, ob etwas Fiktion, Fetisch oder Exhibitionismus ist", schrieb uns Sprecher Hawkins. Aus diesem Grund würden manche Aufnahmen online bleiben, auch wenn sie einen anderen Eindruck erwecken.

xHamster hat Recht damit, dass zumindest theoretisch jede Situation nachgestellt sein könnte. Mit bloßem Auge kann auf einer Aufnahme niemand zwischen Illusion und Wirklichkeit unterscheiden. Porno-Produzenten könnten gezielt Aufnahmen inszenieren, die bloß so scheinen wie sexualisiere Gewalt oder heimliche Spannerfotos. Aber das ist reine Theorie. Viele Aufnahmen sind real, wie die bereits recherchierten Fälle belegen. Die Plattform verschließt sich vor der Realität, wenn sie strittiges Material im Zweifel online lässt. Wir wollten von xHamster wissen, ob Voyeurismus auf der Plattform erlaubt ist und warum das Handbuch Fälle von Voyeurismus nicht erwähnt – keine Antwort.

Holger stellt das Problem unter seinen Löscharbeiter-Kollegen zur Diskussion. Die Reaktionen sind hitzig. "Das geht den meisten hier auf den Sack!", schreibt ein Kollege. "Darüber wurde auch schon gesprochen. Versteckte Kamera, Voyeur, Upskirt, alles OK, außer es gibt einen anderen Regelverstoß." Dem pflichtet ein anderer Löscharbeiter bei: "Mir gefällt es auch nicht, und in den USA ist es ein Verbrechen, aber ein xHamster-Admin hat gesagt, es ist Voyeurismus und OK."

Erneut wenden wir uns an die xHamster-Administratorin.

Holger: "Habe ich es richtig verstanden, dass nicht-konsensuelle Aufnahmen wie Voyeurismus keine Verletzung der xHamster-Regeln sind und ich auf 'Publish' drücken soll?"
Admin: "Hi, hast du irgendeinen Beweis, dass der Content ohne Einverständnis veröffentlicht wurde?" 
Holger: "Hi :) Nein, aber ich habe auch keinen Beweis für das Einverständnis :("
Keine Reaktion.

Drei Tage später fragt Holger, ob man den Uploader bitten könne, Dokumente über das Einverständnis der gezeigten Personen vorzulegen. 
Keine Reaktion.

Vier weitere Tage später wiederholt Holger seine Frage. Endlich antwortet die Administratorin – aber sie geht inhaltlich nicht auf die Frage ein.

Sie erklärt, dass man Nutzer kontaktieren könne, wenn eine Urheberrechtsbeschwerde vorliege. So eine Beschwerde stellen Rechteinhaber, wenn Fremde ihr Bildmaterial ohne Erlaubnis verwenden. Mit dem Alltag als Löscharbeiter hat das aber nichts zu tun. Holger ist kein Rechteinhaber und kann so eine Beschwerde nicht stellen. Für ohne Konsens veröffentlichte Aufnahmen bedeutet das: In aller Regel wird demnach nur die abgebildete Person selbst bewirken können, dass xHamster den Uploader kontaktiert – wenn es schon zu spät ist und das Material kursiert.

Wir haben xHamster gefragt: Inwiefern ist das angemessen, um Opfer von bildbasierter, sexualisierter Gewalt – sogenannten Rachepornos – zu schützen? Keine Antwort. Stattdessen schilderte xHamster-Sprecher Hawkins erneut, dass sich Betroffene selbstständig bei xHamster melden können. Immerhin: Hawkins bestätigt, dass Uploader nach Dokumenten gefragt werden könnten. Wie oft das passiere? Keine Antwort.

Während xHamster selbst bei möglicherweise strafbaren Formen von Voyeurismus ein Auge zudrückt, ist die Plattform bei einem anderen Thema besonders streng: Regelblut. Dabei sind Fotos von Regelblut definitiv nicht illegal. Die Bemerkung im Handbuch steht etwas versteckt unter dem Stichwort "Shitting". Dort heißt es lakonisch: "Perioden und Kotze sind auch verboten." Offenbar ist es auf xHamster besonders leicht, Fotos zu verbieten, wenn sie sich mutmaßlich weniger gut zur Selbstbefriedigung eignen. Rückfragen zu diesem Thema ließ die Plattform unbeantwortet.

"Hört ihr uns, Admins????"

Wir sind nicht die einzigen, die die Betreuung durch xHamster als unzureichend erleben. Auch die Löscharbeits-Kollegen beschweren sich mehrfach auf der Pinnwand des "RClub". Besonders emotional ist die Diskussion dazu am 23. September. "Ich habe mehrmals nach einem brandneuen, aktualisierten und erschöpfenden Handbuch gefragt", schreibt ein Löscharbeiter. "Das hat bei den Löscharbeitern kein Interesse geweckt und natürlich hat kein Admin darauf reagiert."

Zumindest dieses Mal reagieren die Löscharbeiter darauf. Einer schreibt: "Ich könnte es machen, aber ich bin unbezahlt und werde nicht wertgeschätzt." Ein dritter: "HÖRT IHR UNS, ADMINS???? ODER… möchtet ihr lieber eure Gehaltschecks sammeln? Bewegt eure faulen Ärsche und tut etwas!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!"

Die zuständige xHamster-Administratorin schreibt am 23. September: "Wir sind bereit, eure Ideen und Verbesserungsvorschläge in Betracht zu ziehen, bitte schreibt mir eure Ideen." Wurde Holger an diesem Tag etwa Zeuge eines Löscharbeiter-Aufstands? Schwer zu sagen. Was aus den versprochenen neuen Regeln wurde, war bis zum Zeitpunkt unserer Veröffentlichung unklar.

Wir haben xHamster-Sprecher Hawkins auf die Probleme der Löscharbeiter angesprochen. Unter anderem wollten wir erfahren, ob es xHamster als ausreichend betrachtet, dass die Löscharbeiter zeitweise nur durch eine Administratorin betreut wurden, die auf manche Fragen mehrere Tage lang nicht reagierte. So haben wir es während unserer Recherche beobachtet. Hawkins schrieb, falls Löscharbeiter "mit dem Grad der Unterstützung durch den Support nicht zufrieden sein sollten, wären wir natürlich sehr daran interessiert, alles darüber zu erfahren und zu sehen, wie unser Service verbessert werden kann."

Nicht nur die Löscharbeiter von xHamster sehen Handlungsbedarf, wie die Pornoplattform besser mit fragwürdigen Uploads umgehen sollte. Das Thema ist auch in der Politik angekommen. Wir haben die Ergebnisse unserer Recherche unter anderem dem Justizministerium, Netzpolitikern und dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vorgelegt. Derzeit gibt es noch keine klare Regulierung, die Betroffene von sexualisierter Gewalt auf Pornoplattformen wirksam schützen kann – aber es gibt Ideen. Die politischen Reaktionen haben wir hier veröffentlicht.

Während die Politik nach Lösungen sucht, werden Plattformen wie xHamster weiterhin massenhaft mit fragwürdigen Fotos überflutet. Am 30. September meldet sich ein Löscharbeiter zu Wort, der eine Fotogalerie von monströser Größe entdeckt hat. Sie beinhaltet mehr als 250.000 Bilder. Der Titel der Galerie: "18 Only Girls", also: Mädchen, die alle achtzehn sind. Kann man glauben, muss man aber nicht. Um jedes Foto dieser Galerie aber auch nur zehn Sekunden lang zu überprüfen, bräuchte Holger, wenn er alleine wäre, rund 29 Tage – ohne Schlaf.

Beratung und Unterstützung bei sexualisierte Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, in Deutschland beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, Tel. 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.

Folge Yannah und Sebastian auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram  und Snapchat.

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<![CDATA[Inside xHamster: Die VICE-Recherche im Überblick ]]>https://www.vice.com/de/article/m7aja4/inside-xhamster-vice-recherche-im-ueberblick-pornoseiteTue, 27 Oct 2020 06:58:57 GMTEs geht um eine der meistbesuchten Websites der Welt und um Zehntausende neue Uploads pro Woche: Auf der Pornoplattform xHamster sollen schlecht geschulte Löscharbeiter Fotos von Vergewaltigungen und Minderjährigen aussortieren. Aber das lückenhafte Regelwerk der Plattform schützt Opfer von sexualisierter Gewalt nur mangelhaft.

Ein Anfangsverdacht reicht nicht aus, um eine Aufnahme zu löschen. Verdächtige Fotos sollen die Löscharbeiter nur entfernen, wenn sie sich zu 100 Prozent sicher sind, dass sie gegen die Regeln von xHamster verstoßen. Bewerten können sie die Fotos aber nur nach Augenschein.

Das hat drastische Folgen für den Kampf gegen strafbare Jugendpornografie. Die Löscharbeiter von xHamster müssen aus dem Bauch heraus entscheiden, ob eine fremde Person schon volljährig ist oder nicht. Entfernen sollen sie ein verdächtiges Foto nur, wenn sie die Wahrscheinlichkeit, dass die abgebildete Person unter 18 ist, subjektiv als "hoch" einstufen. Minderjährige können also nur geschützt werden, wenn sie kindlich genug aussehen.

Hier gibt es alle Texte der Artikelserie Inside xHamster.

Dem internen Regelwerk von xHamster zufolge sollen Löscharbeiter zudem bewerten, ob die gezeigte Gewalt auf einem Foto echt ist oder nicht. Nur "echtes" Weinen und "echtes" Erhängen sind Gründe zum Löschen. Wenn das Leid von möglichen Vergewaltigungsopfern auf einem Foto nicht glaubhaft genug erscheint, bleibt es folglich online.

Für Löscharbeiter gibt es keine vorgesehene Möglichkeit, Dokumente anzufordern, um das Einverständnis der Personen in einem Foto zu überprüfen. Dabei müssen Uploader solche Dokumente laut Nutzungsbedingungen von xHamster eigentlich besitzen.

Potenziell strafbare Aufnahmen von Vergewaltigungen und Minderjährigen lassen sich auf diese Weise nicht fundiert überprüfen. xHamster riskiert damit, solche Aufnahmen für Millionen Augen weltweit öffentlich zugänglich zu machen.

Das und mehr haben wir erfahren, als wir wochenlang selbst undercover als Löscharbeiter für xHamster gearbeitet haben. Es handelt sich um ein Team aus offenbar mehr als 100 Freiwilligen, die anonym und ohne Bezahlung über sensible Inhalte entscheiden. Neben dem Team aus Freiwilligen gibt es noch ein Support-Team aus bezahlten xHamster-Mitarbeitern, über dessen Arbeit die Plattform wenig verrät. Die ausführliche Reportage dazu veröffentlichen wir hier.

Eine besondere Rolle haben mutmaßlich heimliche Aufnahmen von Frauen in der Sauna oder in der Umkleide. Auch wenn solche Spanner-Fotos in Deutschland strafbar sind, werden sie im internen Handbuch für Löscharbeiter nicht explizit erwähnt. Entsprechend haben sie keine unmittelbare Anweisung, etwas dagegen zu unternehmen. Im Gegenteil: Mehrere Löscharbeiter äußerten während der Recherche, dass diese Aufnahmen auf der Plattform offenbar erlaubt seien. Das interne Regelwerk von xHamster veröffentlichen wir hier. Es besteht im Kern aus lediglich rund 2.800 Zeichen und 38 Beispielfotos.

xHamster hat auf unseren Katalog aus 67 Fragen nur mit knappen Statements reagiert. Unsere Fragen zum Regelwerk der Löscharbeiter wurden inhaltlich nicht beantwortet – wie ein Sprecher mitteilte aus "technischen Gründen" und aus Gründen der "Sicherheit". Wir sollten "versichert" sein, dass "Kontrollen existieren". Wenn etwas gegen die Nutzungsbedingungen verstoße, werde es entfernt.

Zu den freiwilligen Löscharbeitern auf xHamster gehören offenbar auch Menschen aus Deutschland. Im Interview berichtet einer von ihnen von seinen ethischen Bedenken.

Da es aktuell keine Meldepflichten für Rechtsverstöße auf Pornoplattformen gibt, kann die Öffentlichkeit das Ausmaß sexualisierter und digitaler Gewalt im Netz nur erahnen. Die VICE-Recherche bietet erstmals Einblicke in den Maschinenraum einer der größten Pornoplattformen der Welt.

Das Justizministerium teilt vor dem Hintergrund der Recherche mit, Anbieter dürften sich nicht durch "bewusstes Wegschauen" einer Verantwortlichkeit entziehen. Ein derzeit geplantes Gesetzespaket auf EU-Ebene, der "Digital Services Act", könnte Pornoplattformen wie xHamster strenger in die Pflicht nehmen. Die Reaktionen aus der Politik veröffentlichen wir hier.

Die Entwicklungen zur Recherche werden wir unter dem Hashtag #InsidexHamster sammeln. Wir werden auch weiter zu sexualisierter und digitaler Gewalt auf Pornoplattformen recherchieren. Für vertrauliche Hinweise und Dokumente sind wir Ende-zu-Ende verschlüsselt erreichbar unter Signal und WhatsApp (+49 152 1012 4551) sowie Threema: 27DS6P2R.

Beratung und Unterstützung bei sexualisierter Gewalt finden Betroffene, Angehörige, Fachkräfte und alle Menschen, die sich Sorgen um ein Kind machen, in Deutschland beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch, 0800 22 55 530 (kostenfrei und anonym) und auf dem Hilfeportal www.hilfeportal-missbrauch.de. Hilfe bieten auch die bundesweiten Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen. Betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten.

Folge Yannah und Sebastian auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram  und Snapchat.

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<![CDATA[Die Applausfabrik: So funktioniert die Industrie hinter gekauften Likes und Followern]]>https://www.vice.com/de/article/59nvqd/instagram-die-applausfabrik-geld-verdienen-mit-gekauften-likes-und-followernWed, 20 Nov 2019 11:34:05 GMTÜber ein Jahr lang hatte Vreni Frost für mehr Fame bezahlt. 100 Euro im Monat. Heimlich. Sie hatte Geld für eine Firma ausgegeben, die ihre Reichweite auf Instagram mit Followerinnen, Likes und Kommentaren pushte. Ihre Themen: Mode und Reisen. Aber Influencerinnen dieser Art gibt es viele. Irgendwie musste sie sich ja von der Masse abheben. Es gilt als offenes Geheimnis: Wer als Social-Media-Persönlichkeit überleben will, hilft ein bisschen nach. So lassen sich Werbedeals in bares Geld verwandeln.

Doch dann fand Frost in ihrer Follower-Liste angebliche Veganer, die reihenweise Bilder von brutzelnden Steaks likten. Unter Fotos standen blutleere Kommentare wie "Awesome sexy I like a lot". Und es folgten ihr massenweise Accounts, die sich nicht mal die Mühe machen, ein Profilbild einzustellen. Vreni Frost hatte das alles irgendwann satt.

Was sie bekam, schadete ihr also letztlich mehr, als es half: Zwar wurden ihr haufenweise mysteriöse Fans geliefert, aber die interessierten sich nicht für ihre Inhalte. Austausch? Null. Schließlich entschloss sich die Bloggerin zu einem großen Schritt, mit dem sie in Deutschland zur Pionierin wurde: mit alldem aufzuhören und in Interviews öffentlich zu machen, wie verbreitet der Schmu in ihrer Branche ist.

"Ich bin schockiert, wie viele noch einen Bot benutzen", postet sie inzwischen. "Ich entfolge jedem, bei dem ich das sehe. Maaan, Leute. Das bringt doch nichts."

Das sehen aber nicht alle so. Längst gibt es ein globales Netzwerk aus Menschen, die soziale Medien im großen Stil manipulieren und damit Geld verdienen.

Wie die Applausfabrik aufgebaut ist

Die Menschen in diesem Netzwerk produzieren, was soziale Medien eigentlich mit Leben erfüllen soll: Likes, Followerinnen und Kommentare, die Währung der Influencerinnen und Influencer. Hinter dem Handel steckt die automatisierte und massenhafte Beeinflussung der größten Plattformen der Welt. Es ist ein unübersichtliches und in Teilen anonymes Geschäft. Wir haben deshalb einen eigenen Begriff erfunden, mit dessen Hilfe wir das Netzwerk erstmals vollständig erklären können: die Applausfabrik.

Likes, Follower, Kommentare und Views sind nichts anderes als millionenfach verteilter digitaler Applaus. Mit gekauften Likes und Followern täuschen berühmte und weniger berühmte Menschen, kleine und große Firmen vor, beliebter zu sein, als sie es sind. Einige Influencer und Influencerinnen versuchen, sich mit manipulierter Reichweite Werbedeals zu ergaunern. Politik und Medien wiederum lassen sich mit künstlich aufgebauschten Zahlen in die Irre führen.


Auch bei VICE: Totalüberwachung für 150 Euro


Wer gelikt und gefolgt wird, wird geliebt. Und wer Likes und Follower herstellt, verdient Geld. So einfach ist es am Ende. Instagram blendet Likes zwar seit Kurzem testweise aus, am Mechanismus ändert das aber wenig: Die Likes existieren weiterhin, etwa in den internen Statistiken, die Influencerinnen ihren potenziellen Werbepartnern vorlegen. Also wie funktioniert der Markt genau und wie finden sich die Akteure?

Das findet auch der Medienforscher Patrick Vonderau von der Uni Halle-Wittenberg spannend. Die Manipulation sozialer Medien technisch nachzuvollziehen, das ist das Fachgebiet der Kriminologin Masarah Paquet-Clouston, die über Cybercrime in Montréal forscht. Im Zuge unserer Recherche bei VICE haben wir zusammengefunden und festgestellt, dass wir das gleiche Gebiet von verschiedenen Seiten beackern – und dass es bislang noch keine halbwegs verständliche Darstellung dieses Geschäfts gibt.

Also haben wir eine erstellt. Und so ist sie aufgebaut:

Illustration: Applausfabrik
Die Applausfabrik | Bild: Russlan

Produziert werden die Likes und Followerinnen im Keller der Applausfabrik von anonymen Tricksern, die immer neue Wege finden, die Regeln der Plattformen auszuhebeln. Social-Media-Konzerne wie Facebook versuchen, das zu stoppen, aber das ist nicht so einfach. Nach eigenen Angaben entfernen Facebook und Instagram täglich Millionen Accounts.

Im Erdgeschoss bieten meist anonyme Zwischenhändler – sogenannte Panelbetreiber – die Ware in großen Paketen im Netz an und handeln den falschen Applaus auch untereinander. Sie sind auch die Quelle, bei der sich manche Social-Media-Agenturen bedienen, die im 1. Stock auf Kundenfang gehen. Außerdem bieten sie "Qualitätsfollower" aus sogenannten Austauschnetzwerken an, die deutlich teurer sind.

Influencer und andere Like-Käuferinnen verorten wir im 2. Stockwerk, wo sich Menschen auf der Suche nach Werbedeals Reichweite erkaufen.

Darüber stehen im 3. Stock nur noch große Modehäuser, Sportartikelfirmen und andere Marken, an denen wiederum Menschen wie Vreni Frost Geld verdienen, indem sie deren Produkte bewerben.

Das Untergeschoss: Der dunkle Keller der Account-Trickser

Illustration: Der Keller der Applausfabrik
Die Menschen in der Fabrik arbeiten auf dem Rücken der großen Social-Media-Plattformen | Bild: Russlan

Fangen wir unten an, im Keller, dem Maschinenraum der Applausfabrik. Hier entsteht der falsche Applaus. Woher kommen also all die Likes und Follower, die man im Internet in großen und kleinen Paketen kaufen kann? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten – denn in diesem Keller ist es dunkel. Wer die Likes produziert, Accounts erstellt und massenhaft mit Software steuert und bespielt, verschleiert vorsichtshalber seine Identität.

Wir fragen zunächst dort nach, wo es am logischsten scheint: bei einer Website, auf der man Likes und Followerinnen kaufen kann. Doch der Betreiber sagt, er habe keine Ahnung, woher seine Ware eigentlich kommt: "Ich würde so gerne wissen, wer die Quelle ist." Er kaufe seine Follower bei anderen Zwischenhändlern, die offenbar selbst nicht mehr wüssten als er. Tatsächlich ist für viele Menschen in der Applausfabrik der Ursprung ihrer eigenen Produkte ein Rätsel. Wer ist der Hauptversorger? Auch in Hacking-Foren kursiert diese Frage.

Nach mehreren Monaten Recherche gehen wir davon aus, dass es keine Hauptversorgung gibt. Stattdessen gibt es Menschen, die sich auf jeden noch so kleinen Fertigungsschritt spezialisiert haben – Produktion, Entwicklung, Verkauf, Kundenberatung, und sie alle arbeiten im Verborgenen.

Und trotzdem sind wir auf einen großen Motor für Social-Media-Schwindel gestoßen. Denn wer täglich Hunderttausende Likes und Follower produziert, muss extrem viele Instagram-Accounts auf einmal erstellen und steuern. Aber Instagram schöpft bereits Verdacht, wenn von einer einzigen IP-Adresse plötzlich mehrere Accounts auf die Plattform möchten.

Deutlich unauffälliger ist es, den Traffic durch gehackte Geräte auf der ganzen Welt zu tunneln, die einem gar nicht gehören. Man nennt eine solche Umleitung Proxy. Genau das haben IT-Sicherheitsforschende aus Kanada beobachtet.

Kühlschränke und Fernseher helfen heimlich bei der Produktion von Fake-Accounts

Masarah Paquet-Clouston gehört zu dem kanadischen Forscherinnenteam. Sie hat ein riesiges, weltweites Netzwerk aus infizierten Routern, "smarten" Kühlschränken, Fernsehern und anderen vernetzten Geräten entdeckt, das sie Linux/Moose taufte. Solche Botnets sind ein beliebtes Werkzeug von Cyberkriminellen. Wie viele Geräte darin versklavt sind, weiß niemand.

Das Verrückte daran: Die Besitzer bekommen meist gar nicht mit, dass der eigene Router im Wohnzimmer einem Botnet einverleibt wurde und heimlich Fake-Accounts auf Instagram erstellt. Das funktioniert so: Die Router sind oft schlecht abgesichert – zum Beispiel gibt es Geräte, die serienweise mit dem selben Standardpasswort ausgeliefert werden. Man kann solche ungeschützten Geräte mit speziellen Suchmaschinen wie Shodan.io im Internet finden, das Passwort erraten – und über offene Ports heimlich eine Malware einschleusen, um sie zu versklaven.

Wer auch immer das Botnet Linux/Moose zentral steuert, hat jetzt Tausende Router auf der ganzen Welt an der Angel. Über diese Router und ihre lokalen Adressen wird der Datenverkehr geleitet, zum Beispiel beim Erstellen von Fake-Accounts – und plötzlich sieht es für Instagram so aus, als würden 5.000 taufrische Accounts nicht mehr im Block von einem einzigen Keller-Rechner aus registriert werden, sondern mal aus Chile, mal aus China oder Flensburg kommen.

VICE wird auch in Zukunft über die Manipulation sozialer Medien berichten. Wenn du Informationen dazu hast, kannst du Theresa und Sebastian per E-Mail erreichen oder verschlüsselt via Signal schreiben +49 152 1012 4551.

Aber was macht so ein Botnet, wofür wurde es geschaffen? Um Linux/Moose zu erkunden, stellen Paquet-Clouston und ihr Kollege im Jahr 2016 dem Botnet eine Falle. Sie schleusen eigene schlecht abgesicherte Router in das Netz ein und schneiden über Monate den Datenverkehr mit. Die beiden stellen fest: Das Botnet produziert Tag und Nacht Likes und Follower auf Instagram. Außerdem registriert es ständig neue Accounts – wie am Fließband. So ist Paquet-Clouston Zeugin der Like- und Follwer-Produktion geworden. Sie hat nicht nur in den Motor gespäht, sondern auch dem Fließband der Applausfabrik beim Rattern zugeschaut.

Bleibt eine Frage: Wer kontrolliert das Botnet? Wer steckt dahinter? Die Forschenden können es nicht beantworten. Eins ist aber klar: Ein Botnet allein kann den weltweiten Handel nicht stemmen. Im Keller der Applausfabrik muss es noch mehr Maschinen und Maschinisten geben.


Auf YouTube berichtet der Kanal 'Simplicissimus' exklusiv über unsere Recherche


Zu Besuch bei Valar Solutions: Der Baumarkt für den dunklen Bastelkeller

Wer einen Instagram-Account hat, postet Fotos und teilt Herzchen mit mehr oder weniger guten Freunden. Vom Technikdschungel, der sich dahinter verbirgt, haben die meisten Nutzerinnen und Nutzer keine Ahnung. Wie ein Autofahrer, der zwar weiß, dass sein Wagen nur Diesel verträgt, aber beim kleinsten Husten des Motors in die Werkstatt muss.

Akteure wie jemand, die oder der sich im Netz "Valar" nennt, profitieren genau davon. Valar muss sich nicht einmal besonders gut verstecken, weil es kaum Menschen gibt, die ernsthaft nach ihm suchen. Und wenn man ihn doch findet, dann kommt man nicht weit: Natürlich haben Valars Online-Auftritte kein Impressum, sein Pseudonym stammt aus Herr der Ringe. Selbst, ob es sich um eine oder mehrere Personen handelt, wird nicht ganz klar.

Was Valar auf seiner Website "Valar Solutions" anbietet, sind die Werkzeuge, mit denen sich soziale Medien manipulieren lassen. Auch Proxys sind darunter, also jene Technologie, die auch dem Botnet Linux/Moose dabei hilft, die eigenen Spuren zu verwischen.

Hunderte Fake-Accounts auf Lager, ein Dollar das Stück

Wer sich auf Valars Website verirrt und etwas bestellen will, wird auf einen dubiosen Discord-Server verwiesen. Er heißt "Valar Solutions" und ist eine Mischung aus einem Marktplatz für hochspezialisierte Social-Media-Tools und einem Forum für Nerds, die die glatten Oberflächen von Instagram und anderen Plattformen mit allen Mitteln knacken wollen, um damit Geld zu machen. Dort hat sich um Valar eine bunte Truppe an anonymen, vernetzten Account-Tricksern aus dem Keller geschart.

Die Begriffe, die sich die Leute in Valars Discord-Channel an den Kopf werfen, klingen erstmal unverständlich: "Aunty Aged Auto Refill, 5-10/operation with 5-10min break. 30/hour 160-200/day 5800/month", schreibt einer. "Sounds awesome!", findet ein anderer.

Tatsächlich muss man sich den Discord-Server wie einen unterirdischen Baumarkt vorstellen, in dem sich Trickser ihre Werkzeuge zum Social-Media-Betrug im Keller zusammenstellen können. Proxys sind dabei nur eines von vielen. Fragt man Valar per E-Mail, woher die Proxys kommen, wiegelt er ab: "Meine Proxys kommen von Anbietern, ich weiß nichts über Botnets", heißt es in der Antwort.

Ob es Valar selbst war? Ob Valar überhaupt eine Person ist – oder eine Gruppe? Der Keller ist zu dunkel, um das herauszufinden.

Angebote aus dem Keller der Applausfabrk
Angebote für Instagram-Accounts. Die Preise zeigen: Je älter ein Account, desto teurer | Screenshot

Aber bei Valar Solutions liegen noch andere praktische Dinge im Regal:

  • Fertigpakete für Fake-Accounts für Instagram, ein Dollar das Stück, registriert und verifiziert und mit einem weiblichen Profilbild. Je länger ein Account schon existiert, desto teurer ist er. "Warmed up" oder "Aunty Aged"-Accounts haben eine geringere Chance, von Instagram als Fakes entdeckt zu werden.
  • Automatisierungs-Tools, die Instagram-Namen für neue Accounts liefern, Tausende auf einmal mit einem bestimmten Link versehen und Hunderte Fotos hochladen.
  • Angebote für Wegwerf-Handynummern, Wegwerf-E-Mail-Accounts – alles, was noch nützlich ist, um massenhaft erstellte Fake-Accounts mit Leben zu füllen, ohne aufzufliegen.

Dass die Werkzeuge auf einem Discord-Channel diskutiert werden, hat einen einfachen Grund: Social-Media-Manipulation kann lukrativ sein, doch schon nach kurzer Zeit funktionieren die Tricks nicht mehr, weil Instagrams Technik-Team dagegen arbeitet – und die Trickser müssen umrüsten. Der Austausch unter den Keller-Tricksern über die perfekten Einstellungen und Code-Schnipsel ist deshalb ein wichtiger Arbeitsschritt in diesem Stockwerk.

Aus dem Keller in den ersten Stock: Wie aus komplizierten Tools ein Like-Paket wird

Screenshot aus einem Discord-Server
2,50 US-Dollar für 1.000 Likes: Einblick in den Discord-Server für Fake-Accounts | Screenshot

Am 31. August, einem Nachmittag im Sommer, bricht auf dem Discord-Server Jubel aus. "!! Good news everyone", schreibt Valar. "Wir haben unseren eigenen, direkten Service für Instagram-Likes gelauncht". Für umgerechnet 2,25 Euro bietet Valar jetzt 1.000 "höllisch schnelle" Instagram-Likes an. Wie er das schaffen konnte? Valar hat sich mit all den Tools einen Schwarm an echt wirkenden Instagram-Accounts zusammengebaut, deren geballte Kraft er nun auf andere Profile loslassen kann. Sein Schwarm ist ausgestattet mit echt wirkenden Profilfotos, Nutzernamen, Kurzbios. Außerdem: Proxys, um den Traffic der Accounts zu tunneln. Alles gelenkt von einer Software, mit der sich der Schwarm aus Hunderten Accounts steuern lässt, ohne von Instagram erwischt zu werden.

Diesen Schwarm lässt Valar nun für sich arbeiten. Er produziert so viele Followerinnen, Likes und Kommentare, wie Valar will. Sein aktuelles Produkt – 1.000 Fake-Likes – kann er nun gegen Geld als Paket in das erste Stockwerk der Applausfabrik weiterverkaufen.

Vieles spricht dafür, dass auch die Community um Valar höchstens für einen kleinen Bruchteil im weltweiten Like-Handels verantwortlich sein kann. Auf dem Discord-Server diskutieren die Nutzerinnen und Nutzer nämlich auch zig andere Methoden, um mit Instagram-Tricks Geld zu verdienen. Wenn Valar in diesem Stockwerk der Applausfabrik aber nur ein Teamleiter ist – wer sind dann die Chefs? Wie viele Account-Trickser tummeln sich hier noch?

Das Erdgeschoss: Auf dem Marktplatz der Zwischenhändler

Illustration: Erdgeschoss der Applausfabrik
Im Erdgeschoss geht die Ware durch viele Hände | Bild: Russlan

In große Pakete geschnürt gelangen die von Valar und Kollegen produzierten Waren – Likes, Kommentare und Followerinnen – aus dem Keller ins Erdgeschoss der Applausfabrik. Hierhin dringt schon mehr Licht: Es ist ein belebter Großhandel mit Hunderten Zwischenhändlern, die die Pakete weiterverkaufen. Die Preise hier sind günstig: 1.000 Instagram-Follower gibt's ab 1,50 Euro. Die Hauptkunden sind aber noch keine Influencer, sondern kleinere Kaufleute, die mit den Waren ihre Websites bestücken. Den Account-Tricksern gefällt das: Wenn ihre Ware durch viele Hände geht, können sie leichter im Verborgenen bleiben.

Einer der Zwischenhändler nennt sich Amrit. Wir treffen ihn in einer Chat-Gruppe der Messenger-App Telegram. Amrit wirbt hier für Likes und Follower auf Instagram. Über viele Wochen hinweg beantwortet er eifrig unsere Fragen im privaten Chat. Er sei 14 Jahre alt, schreibt er auf Englisch, geboren in Indien, dann mit den Eltern nach Dubai gezogen. Mehrfach bitten wir ihn um ein Videogespräch, um seine Geschichte zu verifizieren. Mehrfach findet Amrit Ausreden: Er habe zu viel für die Schule zu tun; seine Eltern sollten nicht hören, dass er telefoniere. Seinen richtigen Namen möchte er nicht verraten.

Das Erdgeschoss der Applausfabrik ist wie ein Markt, auf dem alle Verkäufer Kapuzen tragen. Viele Zwischenhändlerinnen benehmen sich wie Amrit: Sie sind freundlich und gesprächig, solange es nicht um Klarnamen, Fotos oder Kontaktdaten geht. Schließlich arbeiten sie in einer rechtlichen Grauzone.

"In der Schule hält man mich für ein weird kid", schreibt Amrit. Andere würden ihre Freizeit mit Videospielen verbringen, er aber wolle Geld verdienen. "Ich weiß nicht, warum wir Geschichtsunterricht haben. Wir sollten etwas über die Zukunft lernen", schreibt Amrit. "Sie sollten Kindern lieber beibringen, wie man mit Geld umgeht. Je früher man das lernt, desto schneller kommt die Gesellschaft voran."

Der Markt der Zwischenhändler ist offen im Netz zu finden, aber nur, wenn man den passenden Suchbegriff kennt: SMM Panel. Das Kürzel "SMM" steht für Social Media Marketing, "Panels" sind die Verkaufsstände der Zwischenhändler, also Online-Shops für Likes und Follower. Gezahlt wird per Kreditkarte, PayPal oder Kryptowährung. Was Amrit selbst über Geld erzählt, ist abenteuerlich. Er nennt mehrere Summen, die er mit seinen Geschäften verdienen will. Zunächst spricht er von 200 Dollar am Tag, Wochen später sollen es nur noch 400 Dollar im Monat sein. Für vier Dollar könne er uns 1.000 Instagram-Follower besorgen, schreibt Amrit, einkaufen wolle er sie für 50 Cent.

Collage mit zig Follower-Shops
Eine simple Google-Suche spült Hunderte Online-Shops für Likes und Follower hervor | Screenshots

In der Öffentlichkeit sind Panels kaum bekannt – trotzdem liefert die Google-Suche für die Anfrage "SMM Panel" mehr als 300.000 Ergebnisse. Viele dieser Panels haben kein Impressum.

Man muss aber nicht bis nach Dubai fliegen, um Zwischenhändler zu finden. Es gibt sie auch in Deutschland. Einen Teenager, der Johannes genannt werde möchte, zum Beispiel. Monatelang hat er seinen Online-Shop aus dem Kinderzimmer heraus gepflegt. Nach der Schule kümmerte er sich fleißig um seine Bestellungen, begeistert davon, aus dem Nichts eigenes Geld zu verdienen.

Wie viel wissen Johannes und Amrit über die anderen Stockwerke der Applausfabrik? Offenbar wenig. "Ich bin nur ein Zwischenhändler", diesen Satz haben wir bei der Recherche immer wieder gehört. Johannes und Amrit haben nach eigenen Angaben keine Ahnung, was genau im Keller passiert. Und genau das ist offenbar gewollt.

Patrick Vonderau, Medienforscher an der Universität Halle-Wittenberg, hat sich die Zwischenhändler-Szene genau angeschaut, zusammen mit seinem Kollegen Johan Lindquist von der Uni Stockholm. Ihre Entdeckung: Ein Anbieter namens PerfectPanel.com bietet für 50 Dollar im Monat Zugang zu einer Shop-Software. Mit dieser Software verticken viele Zwischenhändler ihre Ware. Das Angebot ist beliebt: Offenbar nutzen mehr als tausend Follower-Shops die Software von PerfectPanel – zumindest teilen Mitte November mindestens 1.554 Websites dieselbe IP-Adresse.

Der Handel hat sich weltweit ausgebreitet. Es gibt Follower-Shops in mindestens 12 Sprachen, unter anderem Englisch, Türkisch, Koreanisch, Russisch und Arabisch. In einigen Shops lässt sich zudem auswählen, aus welchen Ländern die Likes und Follower kommen sollen. Ein Shop bietet zum Beispiel Instagram-Follower aus Iran und Russland; ein anderer bietet YouTube-Abonnenten aus den USA.

Wir haben ausgewertet, wie das Netzwerk der Follower-Shops in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Dafür haben wir uns angeschaut, an welchem Datum die zahlreichen Domains registriert wurden, die heute eine IP-Adresse mit PerfectPanel teilen. Das Ergebnis: Die Anzahl der Shops ist explodiert, der Handel ist ein Riesengeschäft.

Domains im Perfect-Panel-Universum nach Gründungsjahren
Mitte November teilen 1.554 Domains eine IP-Adresse mit PerfectPanel, bei mehr als 80 Prozent davon konnten wir feststellen, wann sie registriert wurden | Screenshot: Google Spreadsheet

Im Jahr 2017 ging es so richtig los, damals wurden insgesamt 128 Domains registriert, die heute mit PerfectPanel in Verbindung stehen. Seitdem geht es rasant bergauf, zwischen Januar und Mitte November 2019 sind es schon mehr als viermal so viele neue Domains. Hinzu kommt: PerfectPanel ist nicht der einzige Anbieter dieser Art. Ein Konkurrent namens Indusrabbit hat zum Beispiel ähnliche Angebote, bezahlt wird in Indischen Rupien. Im Erdgeschoss der Applausfabrik wird es immer enger, und das Angebot ist so bunt wie auf einem Rummel.

Ein typischer Shop aus dem Perfect-Panel-Universum hat vollgepackte Regale: Bunte Emojis versprechen Fame auf allen großen Online-Plattformen. 1.000 Instagram-Follower sind schon für 1,43 Dollar zu haben, für Fans mit 30-Tage-Garantie muss man ein paar Dollar mehr hinlegen. Hinzu kommen 1.000 Instagram-Likes und 1.000 zufällig generierte Instagram-Kommentare, jeweils für rund einen Dollar. Und natürlich YouTube-Views, Twitter-Likes, Facebook-Fans, Spotify-Plays, TikTok-Views und vieles mehr.

Produktpalette im Follower-Shop
Kleiner Ausschnitt aus der Produktpalette eines Follower-Shops: Follower, Subscriber, Likes, Views, Mentions | Screenshot

Das Verrückte: Mit ein paar Klicks kann jeder selbst einen eigenen Follower-Shop eröffnen. Nur – woher bekommt man die Ware? Ganz einfach: Von einem anderen Zwischenhändler. Johannes könnte seine Follower zum Beispiel bei Amrit beziehen, und Amrit wiederum von einem anderen Händler. Die Shop-Software von PerfectPanel ist darauf spezialisiert: Bestellungen unter Zwischenhändlern werden automatisch abgewickelt, und zwar per Programmierschnittstelle. Das Ergebnis ist ein gigantisches Geflecht aus Händlern. Jeder kauft bei jedem – und keiner weiß genau, welcher Händler die Ware direkt aus dem Keller bezieht und welcher sie nur weiterverkauft.

Auch der Like-Shop von Valar, dem Account-Trickser aus dem Keller der Applausfabrik, teilt eine IP-Adresse mit PerfectPanel. Kundinnen und Kunden seines Like-Shops können also nicht wissen, ob Valar die Likes selbst produziert oder selbst nur ein Zwischenhändler ist. Außer natürlich, sie haben, so wie wir, die Gespräche auf Valars Discord-Server verfolgt. Steckt dahinter Kalkül, um die Lieferanten unsichtbar zu machen? Wir haben PerfectPanel.com gefragt – eine Antwort erhalten haben wir bisher nicht.

Handeln die Händler in der Applausfabrik kriminell?

Es mag absurd klingen, aber in Deutschland gibt es kein Gesetz, das das Produzieren, Verkaufen und Kaufen von Likes und Followern verbietet. Das meiste, was die Zwischenhändler in der Applausfabrik treiben, ist also legal. Rechtsanwalt Tim Hoesmann, spezialisiert auf Medien-, Urheber- und Wirtschaftsrecht, sagt: "Auf den ersten Blick ist insoweit kein Verbot erkennbar."

In einigen Fällen kann es juristisch trotzdem brenzlig werden – etwa wenn eine Firma Follower kauft, um beliebter zu wirken als die Konkurrenz, wie Hoesmann erklärt. Über einen solchen Fall hat im Jahr 2015 das Landgericht Stuttgart entschieden.

Die USA sind da etwas weiter. Facebook hat 2019 einen Follower-Verkäufer aus Neuseeland verklagt und beruft sich dabei auf den "Computer Fraud and Abuse Act". Der Anklageschrift zufolge betrage der Schaden für Facebook rund 9,4 Millionen Dollar. Wenn Facebook vor Gericht Erfolg hat, könnten viele ähnliche Klagen folgen.

Rechtlich schwierig ist der Handel aber an anderen Stellen: Sind die Proxys der Account-Trickser gehackte Geräte? Versteuern die Betreiber der Panels, also der anonymen Like-Shops, ihre Einnahmen? Haben die Account-Trickser überhaupt Nutzungsrechte für die Bilder ihrer Fake-Accounts? Viele mögliche Gründe, warum Amrit, Valar und die anderen sich lieber bedeckt halten. Anders als die Handel treibenden Menschen im ersten Stockwerk der Applausfabrik: Sie zeigen ihr Gesicht.

Das 1. Stockwerk: Aufgeräumte Kioske für gewöhnliche Kundschaft

Illustration: 1. OG der Applausfabrik
Im ersten Stockwerk warten persönlicher Kundenservice und hohe Preise | Bild: Russlan

Im ersten Stockwerk der Applausfabrik soll nichts an die anrüchigen Etagen darunter erinnern: Helles Licht strahlt durch die Regale, Händler präsentieren sich als kundenorientiert und seriös. Statt dubioser Spitznamen wie "Valar" gibt es stets ein Impressum mit Postadresse. Doch hier glänzt nicht nur der Auftritt, sondern auch der Preis: 1.000 Follower kosten plötzlich um 16 Euro – eine Steigerung auf das Zehnfache.

Wenn das Erdgeschoss ein wilder Basar für Großhändler war, dann haben sich hier im ersten Stockwerk aufgeräumte Kioske für gewöhnliche Kunden angesiedelt. Hier shoppen Influencer und alle, die es werden wollen. Die Kioske sind leicht zu finden, man muss nur "Follower kaufen" googeln. Die Verkäufer zeigen sich auf ihren Websites gerne mit Foto und freundlich lächelnden Service-Teams. Sie stellen sich als Medienagenturen mit Qualitätsfollowern da, ihre Angebote lauten zum Beispiel: 2.500 internationale Follower für rund 40 Euro.

Wir haben mit einem Mann gesprochen, der einen solchen Kiosk betreibt. Nennen wir ihn Manfred. Er heißt eigentlich anders, doch nach unserem Interview wollte er seinen Namen und den seiner Firma doch nicht mehr in unserem Artikel lesen. Dabei war er im Gespräch stolz auf seine Firma – das Geschäft scheint so gut zu laufen, dass er mehrere Mitarbeiter beschäftigen kann. "Ich bin gerne bereit, anonym zitiert zu werden", schreibt er.

Was "echt" ist und was nicht, lässt sich in der Applausfabrik oft nicht eindeutig beantworten. Wir wollen von deshalb von Manfred wissen: Ab wann genau ist ein Follower "fake"? Wenn er von einem Bot erstellt und gesteuert wurde? Oder ist es auch schon "fake", wenn eine reale Person für eine Gegenleistung einem Account folgt – ohne sich dafür zu interessieren?

"Für mich persönlich ist ein echter Fan jemand, der aus Affinität einen Inhalt likt und nicht aufgrund einer Gegenleistung", sagt Manfred. Doch woher nimmt er seine Fans?

"Tauschnetzwerke", sagt er.

Das sind Apps und Websites, mit denen private Nutzer oder die Social-Media-Manager von Firmen-Accounts per Klick digitalen Applaus in Form von Likes und Followern an andere angemeldete Mitglieder verteilen. Der Vorteil: Als Gegenleistung vergeben Tauschnetzwerke virtuelle Coins, die sich wiederum gegen Likes und Follower fürs eigene Profil eintauschen lassen. Eine Hand wäscht die andere.

"In Deutschland ist es deutlich schwieriger, Likes von Profilen zu bekommen, hinter denen sich auch echte Personen verbergen"

Bei einigen Tauschnetzwerken müssen Nutzer selbst tippen und wischen, bei anderen erledigt das eine Software automatisch im Hintergrund. In diesem Fall erlauben Nutzer der Tauschapp, ihren Account selbstständig zu steuern. Der Account wird dadurch teilweise zum Bot. Wirklich echte Fans verkauft Manfred also nicht.

Manfred zufolge kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tauschnetzwerke aus der ganzen Welt und verstehen oft nicht, wofür sie den digitalen Daumen heben. "Häufig sind Social Media-Nutzer aus Brasilien vertreten in solchen Tauschapps", sagt er. "Da ist es leicht, Likes und Follower zu generieren."

Doch: Was bringen einem aufstrebenden Instagram-Star aus Deutschland Followerinnen aus Brasilien, die seine Inhalte nicht einmal verstehen – und wie peinlich ist es, wenn der eigene Account wahllos fremdsprachige Inhalte likt?

"In Deutschland ist es deutlich schwieriger, Likes von Profilen zu bekommen, hinter denen sich auch echte Personen verbergen", schreibt Manfred. Für einen Preis von 50 Euro könne er noch problemlos bis zu 1.000 vernünftige Follower besorgen, danach werde es kritisch.

1.000 Follower: Um eine Influencer-Karriere vorzutäuschen, reicht das nicht. Firmen, die ähnlich arbeiten wie die von Manfred, bieten hingegen mehrere Zehntausend Follower an. Und das zu deutlich niedrigeren Preisen.

Wie machen die das? Manfred meint, bei solchen Mengen handele es sich um unseriöse Anbieter. "1.000 Follower für 5 Dollar? Dafür bekommt man höchstwahrscheinlich nur Follower, die nach kurzer Zeit wieder wegfallen, via Bots generiert", meint Manfred. Innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden könne Instagram dem Fake auf die Schliche kommen und die Follower löschen. Er spricht hier eindeutig von den untersten Stockwerken der Applausfabrik.

Manfreds Firma greife also nie auf unseriöse Quellen für Follower zurück – die Konkurrenz dagegen schon? Der Unternehmer bejaht das. Überprüfen lässt sich das nicht.

Was gekaufte Follower wirklich bringen, wissen am besten ihre Käufer: Sie bilden das 2. Stockwerk der Applausfabrik.

Das 2. Stockwerk: Die scheinbar unbeschwerte Welt der Influencer

Illustration: 2. OG der Applausfabrik
Geschickt eingesetzt lassen sich gekaufte Likes und Follower wieder zu Geld machen | Bild: Russlan

Für Nele Hillebrand waren die gekauften Follower nutzlos. Die Bloggerin berichtet auf Faminino.de über selbstgemachte Fingerfarbe und hormonfreies Verhüten. "Im November 2016 bin ich Mama geworden und seitdem steht mein Leben Kopf", schreibt sie auf ihrem Blog. Heute hat sie rund 10.000 Follower auf Instagram. Früher war das anders.

Als ihr Baby gerade ein paar Monate alt war, hatte sie nur um die 1.000 Follower. "Viele Leserinnen und Leser haben mir gesagt, dass sie meinen Blog nicht ernst nehmen", sagt Nele. Der Grund: zu wenige Instagram-Fans. Dabei rede doch jeder in der Blogger- und Instagram-Szene davon, dass man Follower und Followerinnen auch kaufen kann. "Es war eine Ego-Frage", sagt Nele. Also googelte sie "Follower kaufen", fand einen Shop und bestellte 100 Follower für zehn Euro. "In dem Moment hatte ich riesige Angst. Ich dachte, oh Gott, gleich kommt Instagram und sperrt mein Konto."

Mehr als zwei Drittel der gekauften Follower seien ihr wieder entfolgt. Sie seien aus anderen Ländern gekommen, hätten sich nicht für ihre Inhalte interessiert. Nele brachten sie keinen Fame – sie brachten ihr gar nichts. Für andere Influencer zahlen sich gekaufte Follower aber aus. Denn es kommt darauf an, wie man sie einsetzt, wie uns mehrere Personen aus dem Influencer-Marketing berichten.

Timo beobachtet seit zwei Jahren, wie die größten Influencer-Accounts Deutschlands wachsen. Er möchte seinen richtigen Namen nicht in diesem Artikel lesen. Instagram sehe es nicht gerne, wenn Analysten wie er massenhaft Daten von der Plattform schürfen. Timo fürchtet, Instagram könne seine Arbeit behindern, wenn er an die Öffentlichkeit geht.

Menschen würden heute vorsichtiger schummeln als noch vor ein paar Jahren, sagt Timo. Längst würden sie nicht mehr 5.000 Follower auf einmal kaufen. Viel zu auffällig. Wer sich nicht erwischen lassen will, kaufe tröpfchenweise Follower, zum Beispiel 50 pro Stunde. Hinzu kommen Kommentare, Likes, Impressions. Dauer-Doping in kleinen Dosen. Aber es gibt Ausnahmen.

"Häufig sehe ich, dass Firmen und Influencer mit einem neuen Account in den ersten Tagen 10.000 oder 20.000 Follower kaufen", sagt Timo. Außerdem falle ihm oft auf, dass Influencer gezielt Likes für einen gesponserten Post kaufen. Gesponsert bedeutet, dass Influencer zum Beispiel für eine Gegenleistung ein Duschgel in die Kamera halten. "Dann kannst du dem Kunden zeigen: 'Hey, ich hab 30.000 Likes, es kam super an.'" Die Influencerinnen und Influencer erhoffen sich davon weitere, bessere Werbedeals. Sie investieren also in gekaufte Likes und Follower, um aus ihnen so noch mehr Geld zu ziehen.

Aber es gibt Schummel-Detektoren für Manipulation auf Instagram. Einer davon ist das Tool HypeAuditor aus Russland. Damit können Firmen gegen Gebühr die Accounts von Influencern checken, zum Beispiel auf verdächtige Sprünge in der Followerzahl. Die Analysten schätzen, dass es bei jedem vierten Instagram-Account in Deutschland auffälliges Wachstum gebe. So steht es in einer 2019 veröffentlichen Datenauswertung. "Viele Leute wollen berühmt werden, aber es kann halt nicht jeder ein Influencer sein", sagt HypeAuditor-Chef Alex Frolov. "Irgendwann probieren Nutzer also zwielichtige Angebote aus."

Janine Lamp de Magalhães arbeitet in einer Hamburger PR-Agentur und benutzt solche Schummel-Detektoren beruflich. De Magalhães hilft Firmen dabei, den passenden Influencer für ihre Werbekampagnen zu finden. "Es kam schon vor, dass ich einem Kunden dringend von der Kooperation mit einem Influencer abgeraten habe", sagt sie. Der Influencer habe innerhalb eines Tages Tausende Follower hinzugewonnen.

Im Jahr 2018 wertet die New York Times Akten aus dem Prozess gegen eine Firma namens Devumi aus. Die US-Firma hat unter anderem Follower und Likes für Twitter angeboten. Offenbar wurden bei einigen der Accounts aber Bilder und Namen von realen Personen verwendet. Der Vorwurf lautete deshalb Identitätsdiebstahl, wie mehrere Medien den zuständigen Staatsanwalt zitieren. Aus den Akten geht hervor, wer auf der Kundenliste steht: der New York Times zufolge TV-Promis, Profisportlerinnen, Comedians, Models. Auch ein Berater des ecuadorianischen Präsidenten Lenín Moreno soll demnach dort für Moreno eingekauft haben.

Falscher Fame für Präsidenten: Wir sind in der Applausfabrik ganz oben angekommen, dort, wo das ganz große Geld wartet.

Das 3. Stockwerk: Die großen Marken – und das große Geld

Illustration: 3. OG der Applausfabrik
Der digitale Applaus zieht Marken an, die mit Werbedeals locken | Bild: Russlan

Aldi, Dr. Oetker, Nivea, Otto. Allein in Deutschland geben Firmen Millionen für Influencer-Kampagnen aus. Im Jahr 2018 hat der Bundesverband für digitale Wirtschaft 100 Firmen befragt: Sie investieren bis zu 250.000 Euro jährlich in Influencer. Und natürlich will sich jeder Influencer möglichst viel davon sichern.

"Viele fragen aktiv an, ob sie mit uns zusammenarbeiten dürfen", sagt Nina Furch vom Otto-Konzern. Rund 20 solcher Anfragen gebe es monatlich, Otto überprüfe die Influencer mit Analyse-Tools. "Wir schließen 30 bis 40 Prozent der Anfragen aufgrund der Qualität der Follower aus", sagt Furch. Auch Aldi Süd nutzt nach eigenen Angaben so ein Tool; Nivea lässt die Auswahl von einer Agentur erledigen; Dr. Oetker teilt mit: "Wenn uns im Vorfeld einer Kooperation etwas komisch vorkommt, sprechen wir dies an und sehen im Zweifel von einer Zusammenarbeit ab."

Ob die Firmen auf tricksende Influencer reinfallen? Das geben sie nicht gerne offen zu, jedenfalls wenn man ihnen eine Presseanfrage stellt. Gesprächiger sind sie beim gemütlichen Buffet am Westhafen Berlin, wenn über dem Hafenbecken die Sonne untergeht: Hier traf sich die Branche im Sommer 2019 auf einer Konferenz für Influencer-Marketing, der Inreach. Wer die Konferenz besuchte, durfte lernen, dass Influencer keine bezahlten Werbefiguren sind, die uns Produkte aufschwatzen, sondern authentische "Markenbotschafter", die ihre Community "überzeugen". Beim Buffet am Hafenbecken erzählte uns schließlich ein Marketing Manager eines großen, deutschen Auto-Konzerns nach dem zweiten Sekt: "Wir sind bei einer Kampagne schon mal ganz schön auf die Fresse geflogen."

Seine Firma hatte einem Influencer ein Auto geliehen, berichtet er. Der Influencer sollte es auf Instagram präsentieren. Kaum war das Auto da, habe der Influencer Tausende Follower verloren und die Firma eine Menge Geld verschwendet. Der Mitarbeiter möchte anonym bleiben – warum eigentlich? Er grinst: "War meine Kampagne."

Warum Instagram die Applausfabrik nicht lahmlegen kann

Illustration: Detail aus dem Keller der Applausfabrik
Plattformen wie Instagram versuchen, die Bots aus dem Verkehr zu ziehen | Bild: Russlan

Alex Frolov vom Anti-Schummel-Tool HypeAuditor vermutet, dass Instagram lange Zeit nichts dagegen hatte, wenn Bots und Fake-Accounts die Nutzerzahlen nach oben treiben. Immerhin locken großen Zahlen auch Investoren an. Facebook und Instagram, die eine gemeinsame Pressestelle haben, verneinen das auf Anfrage von VICE: Betrügerische Aktivitäten seien für alle schlecht, man habe ein großes Interesse, das zu verhindern. Was tun die Plattformen also dagegen?

"Wir haben ein Team, das rund um die Uhr arbeitet", erklärt eine Sprecherin per E-Mail. Täglich würden Millionen Accounts auf Facebook und Instagram entfernt. Wie viele Mitarbeiterinnen daran sitzen, möchte die Sprecherin aber nicht verraten.

Sie zählt außerdem eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen auf, die Instagram und Facebook gegen Manipulation anwenden: Maschinelles Lernen, ein automatisches Anti-Spam-System, Hinweise aus der Community. Aber immer noch werden massenhaft Likes und Follower in Hunderten Online-Shops angeboten. Der Account-Trickser Valar schreibt uns in einer E-Mail: "Es wird täglich schwerer. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben. Wer bleibt, bekommt mehr Profit." Ein anderer Zwischenhändler sagt uns, er werde demnächst auf TikTok setzen. Das Angebot in der Applausfabrik kann sich also ändern – aber die Fließbänder werden nicht stillstehen.

Mitarbeit: Anna Biselli, Patrick Vonderau, Masarah Paquet-Clouston

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<![CDATA[Das steckt wirklich hinter den ausgeblendeten Likes auf Instagram]]>https://www.vice.com/de/article/ywa7vg/likes-auf-instagram-ausgeblendet-das-steckt-dahinterFri, 15 Nov 2019 11:40:34 GMTInstagram hat sich verändert: Für viele Menschen sind seit Donnerstag testweise keine Likes mehr sichtbar. Der kleine Counter mit der Anzahl vergebener Likes ist aus dem Newsfeed verschwunden. Nachrichtenmedien titeln: Instagram schaffe die Likes ab. Aber das stimmt nicht. Die Likes sind immer noch da. Ebenso wie die Psychotricks der Online-Plattform. Sie haben sich nur verändert.

Likes sind die weltweite Währung für digitalen Fame. Viele Menschen können davon nicht genug kriegen. Für ein Like auf Instagram oder einen Daumen nach oben auf YouTube opfern viele ihre Freizeit – und manchmal auch ihre Gesundheit. Ja, soziale Medien können krank machen und eine Verhaltenssucht auslösen, das sagen inzwischen auch Forschende. Gefährdet ist aber nur ein kleiner Prozentanteil der Nutzerinnen – die überwiegende Mehrheit der Menschen kann mit der Verführungskraft von Likes genauso gut umgehen wie mit der Verführungskraft von Limonade.

Instagram jedenfalls inszeniert sich jetzt als Heldin fürs digitale Wohlbefinden. "Wir wollen, dass Instagram ein Ort ist, an dem sich Menschen wohlfühlen", schreibt die Firma in einer Pressemitteilung. Ich halte das nicht für eine Lüge.

Seit dem Skandal um missbrauchte Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica hat die Instagram-Mutter Facebook eine Image-Krise. In der Familie der Tech-Konzerne ist Facebook wie der nervige Cousin, der immer das Geschirr fallen lässt. Alle paar Wochen werden neue Datenschutz-Pannen und strukturelle Privatsphäre-Verletzungen bekannt. Mehrfach schon wurde ein sichtlich bedrückter Mark Zuckerberg öffentlich vom US-Kongress gegrillt. Ich glaube, dass viele Menschen bei Facebook wirklich ein Interesse daran haben, Dinge besser zu machen und positiv aufzufallen. Die mentale Gesundheit auf Instagram stärken zu wollen, das ist etwas Gutes.

Der Datenschatz wächst weiter

Die Sache mit dem "Wohlfühlen" halte ich aber nur für eine Seite der Medaille. Der Konzern würde niemals ein neues Feature einführen, das finanziellen Schaden anrichtet. Das Geschäftsmodell ist und bleibt der Verkauf von optimierten Werbeplätzen mithilfe gigantischer Datenmengen, und diese Daten möchte der Konzern weiterhin aus uns herauskitzeln. Die Likes sind ja nicht einmal wirklich verschwunden: Instagram erfährt natürlich weiterhin, welche Beiträge wir liken. Und wer Instagram ohne Login am Desktop nutzt, kann alle Likes immer noch betrachten. Auch die eigenen Likes bleiben für jeden weiterhin sichtbar. Influencer können Werbepartnern immer noch Reichweiten-Statistiken vorlegen, um ihren Wert am Werbemarkt auszuhandeln. Und es gibt weiterhin Updates und Push-Notifications in der App, die unser Bedürfnis nach Online-Fame kitzeln.

Hirnforscher beschreiben, wie dieser Zuspruch auf sozialen Medien unser Belohnungszentrum stimuliert. Besonders verführerisch ist es, wenn das gute Gefühl immer wieder eintritt. Das heißt, 100 Likes innerhalb einer Sekunde sind zum Beispiel weniger stimulierend als 100 Likes, die sich großzügig über den Tag verteilen. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass wir nie wissen, wann genau die nächste Belohnung kommt. Deshalb öffnen wir häufig die App, um zu schauen, ob es vielleicht schon neue Likes, Follower und Kommentare gibt. Für soziale Medien wie Instagram ist das Gold wert. Es bindet die Nutzer an die Plattform und sichert den kontinuierlichen Strom an werberelevanten Daten. An diesem System hat sich nichts geändert, und daran wird sich wohl auch nie etwas ändern.

Von außen betrachtet sieht Instagrams Like-Experiment vielleicht mutig aus. Aber ein Daten-Konzern wäre kein Daten-Konzern, wenn er das Risiko nicht längst bis ins Detail durchgerechnet hätte. Facebook und Instagram kennen nicht nur unsere Likes. Sie dürfen jede Maus- und Wischbewegung auf der Plattform erfassen und analysieren, unser soziales Netzwerk an Kontakten, und vieles mehr. Dieser Datenschatz wird multipliziert mit der Anzahl von Milliarden Nutzerinnen, mit den Stunden, die wir täglich auf den Plattformen verbringen – und mit den Erkenntnissen, die entstehen, wenn weitere Datensätze damit verknüpft werden. Kurzum: Der Facebook-Konzern besitzt einen der größten Datenschätze der Menschheitsgeschichte. Diesen Datenschatz kann auch kein Meinungsforschungsinstitut toppen, das mit steinzeitlichen Mitteln wie Telefonbefragungen sein Wissen zusammenkratzt.

Der Dauer-Psychotest namens Social Media

Jedes neue Feature auf Facebook oder Instagram wird dadurch automatisch zum breit angelegten Verhaltenstest: Innerhalb kurzer Zeit kann der Konzern sehen, wie ganze Bevölkerungen ihr Verhalten an neue Bedingungen anpassen. In der Pressemitteilung schreibt Instagram, der Test mit den ausgeblendeten Likes in Australien, Brasilien, Kanada, Irland, Italien und Neuseeland sei "positiv" gewesen. Was im Detail hinter "positiv" steckt, wird Instagram wohl nie verraten. Auf jeden Fall bedeutet "positiv", dass Nutzer nicht massenhaft ausgeflippt sind und ihren Account gelöscht haben.


Auch auf VICE: Wenn sich junge Frauen operieren lassen, um wie ihr Instagram-Selfie auszusehen


Wahrscheinlich bedeutet "positiv" aber auch, dass der Datenstrom, den Nutzerinnen auf Instagram generieren, weiterhin wertvoll für den Konzern ist. Vielleicht geben Nutzende nach der Änderung sogar mehr von sich preis, weil sich der Wettbewerb um Likes weniger heftig anfühlt. Falls das eigene Foto mal nur zwei müde Likes abbekommt, ist es nicht mehr peinlich. Gut möglich, dass Instagram dadurch sogar mehr Geld damit verdient als vorher. Das Ausblenden der Likes könnte ein neues Kapitel im weltweiten Dauer-Psychotest namens Social Media sein – und zum Vorbild für andere Plattformen werden.

Ein fieser Geheimplan ist all das natürlich nicht. Dass Firmen gerne Geld verdienen, sollte niemanden überraschen. Aber manchmal bedeutet es auch, dass offensive Wohlfühl-Aktionen von Konzernen nur ein Teil der Wahrheit sind.

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