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Hoax-Bilder werden nach den Pariser Anschlägen tausendfach geteilt

Der Fall des kanadischen Sikh, der auf Twitter als islamistischer Paris-Attentäter mit Bombengürtel um die Hüfte verfolgt wurde, zeigt erneut, wie schnell sich haltlose Gerüchte verselbstständigen können.

Titelfoto: Grasswire hat den Hoax zwar schnell entlarvt, doch da kursierte das Bild des Terroristen mit Bombengürtel bereits auf Twitter und war sogar von etablierten Medien unhinterfragt übernommen worden.. Bild: Twitter, Vereenda Jubbal / Grasswire 

Was hat ein feministischer Sikh aus Kanada, der hauptberuflich über Computerspiele schreibt, mit der Verantwortung für die schrecklichen Anschlägen in Paris zu tun? Ihr habt es schon erraten: Gar nichts. Und doch fand sich Veerender Jubbal plötzlich durch ein gestohlenes, verfälschtes Bild öffentlich als Terrorist in den Pariser Anschlägen an den Pranger gestellt.

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Aktuelle Informationen über die Hintergründe und Entwicklungen in Paris findet ihr bei VICE News

Es ist nicht der einzige Fall von viralen, inakkuraten Bildern, die sich nach der Anschlagsserie verbreiteten, die die Welt am Wochenenende in Atem hielt: Fotos eines Brandes im Flüchtlingsdorf „Jungle" in Calais wurden von manchen arabischen Kommentatoren als Racheaktion französischer Bürger kommentiert und geteilt, während Ermittler klar einen Unfall als Grund für das Feuer identifizierten. Ein Auftrittsbild, das die Band Eagles of Death Metal angeblich kurz vor den verheerenden Schüssen auf der Bühne des Pariser Bataclans zeigen sollte, entpuppte sich wiederum schnell als Bild von einem älteren Auftritt in Dublin.

Am wohl dramatischsten zeigt jedoch der Fall des Sikh Veerender Jubbal, wie schnell sich haltlose Gerüchte nach Tragödien verselbstständigen können. Unter anderem verbreitet über den Twitter-Account @abutalut8, der mittlerweile suspendiert wurde und in einem früheren Tweet auch dem IS für die Anschläge dankte, verbreitete sich das Foto vom stolz einen Koran präsentierenden „Attentäter" mit Sprengstoffweste rasend schnell. Schuld daran ist eine toxische Mischung aus Bösartigkeit, Gedankenlosigkeit und redaktionellem Versagen.

Bösartigkeit, weil Vereenda ein ausgesprochener Kritiker der GamerGate-Bewegung ist, die mit Troll- und Mobbingtaktiken Menschen zu ihrer eigenen Überzeugung zwingen oder zum Schweigen bringen will. Online liefert er sich immer wieder heftige Debatten mit den Männerrechtlern und Trollen, die meinen, sich gegen einen feministischen Angriff auf die Gaming-Branche wehren zu müssen. Dafür wird er seit über einem Jahr auf Twitter beleidigt und belästigt; gern auch mit Bildern der New Yorker Anschläge vom 11. September zugespammt. Dementsprechend wurde die Attacke auch von den Anti-Feministen rund um #GamerGate hässlich und hämisch gefeiert und durch Verbreitung des Bildes befeuert. (Von wem das Foto allerdings ursprünglich gephotoshopped und hochgeladen wurde, lässt sich nicht nachvollziehen.)

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Die Verbreitung falscher Bilder ist aber auch schlicht gefährlich und gedankenlos, weil wir in dieser hypersensitiven Zeit nach den Anschlägen zusammenhalten müssen und auf eine verlässliche Faktenlage zur Aufklärung angewiesen sind. Natürlich ist die Darstellung des unschuldigen Jubbal als Terroist nicht nur Rufmord, sondern könnte sogar sein Leben gefährden.

Und schließlich wirft der Fall des kanadischen Sikh auch ein Schlaglicht auf redaktionelles Versagen angesichts der aktuellen Nachrichtenlange: Eine große spanische Tageszeitung übernahm den Vorwurf nicht nur ungeprüft, sondern verbreitete ihn auch noch auf der Titelseite. Jubbal erwägt laut eigener Aussage, die Zeitung zu verklagen.

And the "major Spanish newspaper" @Veeren_Jubbal is referring to would be La Razón on its print front page: pic.twitter.com/PfJfRkou2r
— Matthew Bennett (@matthewbennett) November 15, 2015

Auch der spanische Nachrichtensender Antena 3 griff den vermeintlichen Scoop ungeprüft auf:

Spanish TV channel Antena 3 also used a doctored image of @Veeren_Jubbal as "a supposed Bataclan terrorist". pic.twitter.com/Ay9LUghoZ8
— Matthew Bennett (@matthewbennett) November 15, 2015

Buzzfeed berichtet, dass das Bild sogar in einem der größten Pro-IS-Kanäle auf dem Krypto-Chatdienst Telegram weiterverbreitet wurde, wo der „Bruder" für die „gesegneten Pariser Anschläge" gelobt wird. Mangelnde Medienkompetenz scheint ein universelles Problem zu sein.

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VICE: Die Attentate von Paris dürfen nicht für eine flüchtlingsfeindliche Agenda missbraucht werden

Natürlich hätte jeder Betrachter mit einem Funken kultureller Sensibilität auf dem Bild den Turban der Sikhs erkennen und damit ausschließen können, dass es sich beim glücklich zwischen Badeschaum und Duftstäbchen lächelnden Abgebildeten um einen islamistischen Terroristen handeln könnte. Oder den Dildo bemerken, der in das Bild reinkopiert wurde. Oder sich fragen können, wie man eigentlich ein Selfie im Spiegel machen kann, ohne das Gerät zu sehen, mit dem es aufgenommen wurde.

Ready: pic.twitter.com/ae9xEej4gS
— Veerender Jubbal (@Veeren_Jubbal) August 4, 2015

Dass Veerender sich selbst nach dem Post seines Originalbildes ausführlich auf Twitter rechtfertigen musste und tausende Drohnachrichten binnen weniger Stunden erhielt, ist das aktuell prägnanteste und traurigste Beispiel dafür, dass wir allzu leicht zu vorschnellen Schlüssen kommen und vermeintliche Sachverhalte, statt sie zu prüfen, durch eine rassistische Brille betrachten (Dunkler Bart? Generalverdacht!).

Zum Glück gibt es aber auch Seiten, die bei der Verifizierung fragwürdiger Bilder oder anderer Medien helfen: Bei gemeinnützigen Organisationen wie Grasswire Media können von Nutzern eingesandte Gerüchte entlarvt und gemeinschaftlich dekonstruiert werden.

That's an iPad, not a Quran, and the Dastar (turban) is worn by Sikhs. pic.twitter.com/xkKzJ0G65f
— Grasswire Fact Check (@grasswirefacts) November 14, 2015

Der Vorfall zeigt einmal mehr, wie schnell sich—insbesondere nach Tragödien—komplett haltlose Gerüchte über vermeintlich Schuldige verselbstständigen können und als Diener einer fremden Agenda Gift und Desinformation verbreiten. Viele solcher Fälle lassen sich mit einer umgekehrten Google-Bildersuche, einem Blick auf offizielle Twitter-Accounts oder Polizeimitteilungen, sowie ein wenig Reflektion und Geduld in der Interpretation der Bilder eigentlich schnell realistisch einordnen. Das Erkennen der tatsächlichen Fakten ist angesichts der rasanten Entwicklung der Nachrichtenlage oft ohnehin schwer genug.

Doch es ist in dieser Zeit wichtiger denn je, genau zu differenzieren und Informationen auf den Prüfstand zu stellen, bevor wir unschuldige Menschen unter Generalverdacht stellen oder von Vorurteilen beeinflusste Verbindungen ziehen, die es in Wirklichkeit nicht gibt.