Ein Mann sitzt mit Handy auf der Toilette, in der Luft ein paar Tinder-Logos. Die Dating-App wird bei jungen Menschen immer unbeliebter, der Autor bedauert das.
Foto: IMAGO / agefotostock | Bearbeitung: VICE
Menschen

Warum es traurig ist, dass die oberflächlichste Dating-App langsam stirbt

Auch wenn es nur um Sex ging, war Tinder stets meine letzte Hoffnung.

Als Tinder hierzulande groß wurde, war ich in einer Beziehung. Während meine Freunde von Abenteuern und Enttäuschungen erzählten, von sexuellen Ausflügen in ungeahnte Welten, war ich verliebt. Einmal, auf Exkursion mit der Uni in Fulda, es muss 2015 oder 2016 gewesen sein, habe ich mir die App trotzdem installiert und hatte auch bald ein Match. Sie schrieb mich an, aber ich traute mich nicht zu antworten. Ich war ja in einer Beziehung und sogar virtuell noch zu schüchtern, um komplett in den Sündenpfuhl einzutauchen.

Anzeige

Heute sind Dating-Apps normal. Ich kenne kaum jemanden, der oder die noch nie mal ein bisschen rumgeswiped hat. Mittlerweile sind aber die Wenigsten meiner Bekannten noch auf Tinder. OKCupid, Bumble, Hinge – da findet man sie. Kürzlich hat Match Group, der Mutterkonzern von Tinder seine Zahlen veröffentlicht und siehe da: Die User-Zahlen der App stagnieren, während die von Bumble und Hinge explodieren. Bumble hat seine User-Zahl nach eigenen Angaben im letzten Jahr fast verdoppelt und Hinge mehr als verdreifacht. 

Die Gründe dafür kann man nur erahnen, auch wenn zahlreiche Studien bereits die negativen Effekte des Onlinedatings untersucht haben. Insgesamt scheint es so, als sei das Konzept Tinder einfach nicht mehr so attraktiv wie das der neuen, der woken Apps. Das mag ein gutes Zeichen sein, weil sich Menschen abwenden von der reinen Fleischbeschau, mit der wir Tinder verbinden. Ich fände es aber schade, wenn Tinder stirbt. Die App, auch wenn ich sie selten benutzt habe, war ein fester Anker, ein Hoffnungsschimmer in der dunklen Einsamkeit, die mit dem Singleleben einhergeht.


Auch bei VICE: Wann ist Ghosting erlaubt?


Die Finessen des Onlinedatings

Ich begann mit dem Onlinedating 2020, als meine Beziehung zu Ende gegangen war. Ich war im Urlaub auf der griechischen Insel Paros und ein Freund, selbst ein alter Hase, ein echter Klopfer im Onlinedating-Game, erklärte mir die ersten Schritte, seine Finessen: Immer einen Witz ins Profil. Wenn du das Gesicht nicht sehen kannst, wirst du sie wahrscheinlich nicht attraktiv finden. Bei OKCupid kannst du direkt eine Nachricht schicken, bei Bumble musst du warten, bis die Frau dich anschreibt, bei Hinge siehst du, wer dich likt und dann ist da Tinder, das kennst du ja, brauchst du aber nicht. Was er damit meinte, verstand ich erst später.

Nun schimpfen viele auf das virtuelle Kennenlernen. Dabei ist Onlinedating doch so toll! Ich muss nicht aus dem Haus gehen, um Menschen kennenzulernen, in die ich mich gern verlieben würde oder von denen ich wenigstens hoffe, dass sie Sex mit mir haben wollen. Ich muss dafür in keine verrauchte Kneipe gehen, nicht zu viel Alkohol trinken und nicht versuchen, die Blicke der Frau an der Bar zu interpretieren, ob sie mich hot oder doch nur bemerkenswert ugly findet. 

Anzeige

Klar tut das weh, das muss so

Onlinedating ist die ultimative Komplexitätsreduktion. Wenn wir matchen, weiß ich, dass zumindest eine oberflächliche Anziehung besteht. Und wenn wir uns treffen, weiß ich, dass wir beide das mit dem Ziel tun, herauszufinden, ob wir geeignete Sexualpartner oder sogar mehr sind. Deswegen heißt es Onlinedating und nicht Online-lass-mal-einen-Kaffee-trinken-gehen. Es spart Zeit und Mühe und Gedanken.

Und am Ende ist eine digitale Zurückweisung auch nicht anders als eine reale. Wenn ich die Frau an der Bar anspreche und sie mir erklärt, dass sie mich wirklich bemerkenswert ugly findet, dann tut das nicht weniger weh als wenn eine Frau, die ich auf meinem Screen sehe, plötzlich eine Unterhaltung beendet.

Und es ist ja auch nicht so, als suchten alle nur nach der Unverbindlichkeit. So habe ich meine Exfreundin über OKCupid kennengelernt. Wir matchten, verstanden uns sofort super, fanden uns hot genug und haben relativ schnell entschieden, dass das reicht, um das Online-Daten gemeinsam aufzugeben. Gescheitert ist es am Ende trotzdem an ganz normalen Dingen, an denen Beziehungen eben scheitern. Lebensplanungskram, man kennt es ja. Daran wäre aber jede Beziehung gescheitert, ob digital initiiert oder am Tresen. Da sind Dating Apps nicht besser oder schlechter als das RL, wie ich das Leben da draußen ab und zu nenne. 

Verbindlichkeit, na ja

Und doch meine ich, dass es beim Onlinedating normalerweise länger dauert, bis man einander vertraut und bereit ist, Verbindlichkeit zuzulassen, als bei Menschen, die man in besagtem RL kennengelernt hat.

Anzeige

Onlinedating bleibt bis zum Schluss ein bisschen oberflächlich. Mit Schluss meine ich dann entweder die Entscheidung, eine Beziehung einzugehen, oder das Dating abzubrechen. Das ist Teil der Logik aller Datingplattformen. Denn solange wir nicht darüber sprechen, ob wir uns gut genug finden, um eine Partnerschaft einzugehen, ist die Versuchung einfach unmenschlich groß, nach weiteren potenziellen Partnern zu gucken.

Und das ist komplett legitim. Denn wir schulden einander nichts. Wer sich auf einer Datingplattform kennenlernt, unterschreibt, meine ich, unausgesprochen den Vertrag, dass unser Verhältnis erst mal gar nichts ist als die physische Erweiterung des Chattens. Und so wie man jeden Chat in der App kommentarlos löschen kann, kann man auch das physische Kennenlernen jederzeit beenden. Die Etikette schreibt hier zwar mittlerweile vor, wenigstens noch "tschüss" zu sagen, damit man sich nicht als ghostender Fuckboy outet, aber die Verbindlichkeit ist dieselbe.

Gib mir mein Herz zurück!

Einmal sagte ich einem Date, das ich etwa zwei Monate lang getroffen hatte, dass ich mir mehr Verbindlichkeit in unserem Verhältnis wünschte. Ich wusste selbst nicht genau, was ich damit meinte, außer dass da Gefühle in meiner Brust brodelten, die ich artikulieren wollte. Sie sagte mir, na ja, Verbindlichkeit könne ich schon haben, so wie unter Freunden. Da ärgere sie sich ja auch, wenn die zu spät kommen.

Anzeige

Das war nicht die Art von Verbindlichkeit, nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte. Ich beendete das Verhältnis – aus Selbstschutz, damit meine Gefühle sich wieder normalisieren konnten. Denn es gibt für mich nichts Schmerzhafteres als eine Brust voller brodelnder Gefühle, wenn das, was ich darin garen will, lieber roh und ungenießbar bleiben will. Oder um die ausgeleierte Metapher hier zu beenden: Ich will nicht mit einer Frau schlafen, die nicht das gleiche für mich empfindet wie ich für sie. Zumindest wenn sie weiß, was da in mir brodelt. 

So schwer es mir nämlich fiel, die Metapher am Ende des Absatzes nicht wieder zu aktivieren, so schwer fiel es mir auch, der Frau nicht wieder zu schreiben, nachdem ich wegen meines Liebeskummers einige Wochen kaum hatte schlafen können. Und ich weiß, hätte sie mir geschrieben und mich gefragt, ob wir nicht noch mal einen unverbindlichen aber pünktlichen Wein trinken wollen, wäre ich sofort dabei gewesen. 

Spätrömische Dekadenz ist nichts wert

Bevor ich die Sache beendete, hatte sie noch den Vorschlag gemacht, dass wir uns weiterhin treffen. Wir hatten ja wirklich eine schöne Zeit miteinander. Wir könnten uns daten, und nebenher noch andere Menschen. Sie hätte es gut gefunden, wenn mein Wunsch nach Verbindlichkeit, meine Gefühle für sie, sich auf mehrere Menschen aufgeteilt und die ihr die Verantwortung dafür abgenommen hätten. Ich fand den Gedanken zuerst überzeugend. Sex ist ja toll und die Vorstellung nicht nur Sex mit der Person zu haben, für die ich echte Gefühle habe, sondern auch mit einer, für die ich nichts empfinde, klang nach köstlicher spätrömischer Dekadenz und absoluter Freiheit.

Anzeige

Also trafen wir uns erneut. Aber freedom's just another word for nothing left to lose und nothing ain't worth nothing but it's free. Ich wurde nach dem Treffen nur noch trauriger. Und ich merkte, dass das Konzept vielleicht doch nichts für mich war.

Prüfe wer sich ewig bindet, Boy

Selbstschutz ist im Onlinedating kaum möglich. Denn jedes Match, jede potenzielle Beziehung, bewerten wir nach harten Kriterien, nach denen auch wir bewertet werden. Wir überlegen: Wollen wir wirklich die mit den roten Haaren? Ist die mir nicht zu dünn? Mag ich nicht lieber Personen mit Augen, die weiter auseinanderliegen, und dieses Grübchen am Kinn sieht doch aus wie ein Arsch. Und wir wissen, dass die Menschen, mit denen wir uns treffen, die gleichen Überlegungen angestellt haben und weiterhin anstellen, denn es gibt auf Tinder ja noch eine Million Menschen mit schwarzen Haaren, einer dicken Plauze und ohne Arschkinn.

So schlafen wir miteinander. Aber in der Pinkelpause auf dem Klo swipen wir weiter, schauen, ob da nicht noch eine Person in den Untiefen der Datingplattformen wartet, mit der der Sex besser ist, mit der wir besser vor unseren Freunden angeben könnten und vielleicht, vielleicht, vielleicht ja eines Tages eine Familie gründen.

Tinder ist dabei die Plattform, die dieses Prinzip zu seinem Kern erklärt hat. Auch wenn sie sich mittlerweile breiter aufstellt, mehr Optionen bietet, sich neu vermarkten will: Wir assoziieren sie weiterhin mit Strandbildern und absoluter Oberflächlichkeit. Hier zählt nicht, was die Menschen schreiben, hier zählen ihre Fotos. Und wenn die nicht in der ersten Sekunde Blut in mein Geschlechtsteil schießen lassen, dann tut es mir leid, dann wische ich nach links.

Anzeige

Dass dieses Prinzip nun nicht mehr zieht, kann man als gutes Zeichen werten, vor allem für mich. Gerade Männer leiden einer Studie zufolge unter dem Konzept. So führe die Tatsache, dass wir ständig bewertet werden, dass Onlinedating für uns eigentlich eine ewige Abfolge kleiner und großer Enttäuschungen ist, dazu, dass unser Selbstwertgefühl sinkt und wir unsere Körper weniger mögen. Wir fühlen uns wertlos, wenn wir kein Match mit der Frau haben, die doch so wirkt, als hätten wir exakt den gleichen Humor, oder wenn eine Frau den Chat ohne Ankündigung beendet. 

Was findest du heißer, Baby, meinen Belly oder meinen Charakter?

Die Konzepte der neuen Apps sind nun darauf ausgelegt, dass wir uns als Personen präsentieren können. Dass Frauen sich nicht in meinen Bizeps vergucken, sondern erkennen, wie hot mein Charakter ist, wie sexy meine Gags und wie attraktiv meine Bereitschaft zur Selbstreflexion. Und andersrum. "Die Dating App, die entworfen wurde, um gelöscht zu werden", wie Hinge von sich behauptet. 

Im Idealfall entziehen wir uns durch den Fokus auf unsere Persönlichkeit dieser spätkapitalistischen Verwertungslogik unserer selbst. Nämlich dass wir alle Produkte sind, die es zu bewerben gilt und die am Ende beliebig ersetzbar sind. Dann werden wir wieder zu Menschen, die sich für Menschen entscheiden, nicht mehr für oder gegen einen trainierten Körper. Wobei man das neue Konzept genauso lesen kann. Nun sind es nicht mehr unsere Körper, die miteinander konkurrieren, sondern unsere witzigen, klugen, intellektuellen Antworten auf vorgegebene Fragen.

Anzeige

Nun ist es natürlich so, dass Match Group, das Unternehmen, zu dem Tinder gehört, auch Hinge und OKCupid besitzt. Man kann also annehmen, dass dieses lediglich sein Portfolio so breit aufstellt, damit es alle Menschen anspricht, die daten wollen. Diejenigen, die den schnellen Sex bei Tinder suchen genauso wie diejenigen, die eine Beziehung bei Hinge suchen. 

Das hieße natürlich, dass wir weiterhin einer Verwertungslogik unterworfen sind, die nur kaschiert wird. Mir soll es recht sein. Ich lerne regelmäßig tolle Menschen auf diesen Plattformen kennen. In manche verliebe ich mich, in andere nicht. Manche verlieben sich in mich, andere nicht. Das ist OK und wäre auch nicht anders, wenn es die Plattformen nicht gäbe.

Und dann ist es ja so, dass Tinder weiterhin seine Daseinsberechtigung hat. Zum Beispiel als Auffangbecken für die Vollidioten, die meinen, Sex werde besser, wenn er lediglich auf Körperlichkeit basiert. Und auch für mich. Denn ich weiß: Wenn die ganzen woken, wohlwollenden, ernsten Plattformen leergesucht sind, werde ich auf Tinder noch jede Menge Menschen finden, die sich fragen, warum sie ständig nur Sex haben, aber nie jemanden finden, der gern Zeit mit ihnen verbringt. 

Deshalb hoffe ich, dass Tinder überlebt. Am Ende könnte es meine letzte Hoffnung sein.

Folge Robert auf Twitter und Instagram und VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.