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Ernährung

Der erste Biohacker der Welt war von Brot besessen

Das Wort „Biohacking" ist vielleicht neu, aber das Konzept dahinter ist es sicherlich nicht. Möglicherweise begann die Bewegung schon im 19. Jahrhundert und wurde von Pastor Sylvester Graham, aka "Dr. Kleie", eingeführt, der sowohl Sex, als auch...

„Jede Erkrankung oder Beeinträchtigung des Magens wirkt sich in größerem oder kleinerem Maße auf jedes andere Organ und jede andere Körperfunktion aus", sagte der Pastor Sylvester Graham im Jahr 1832. Der kulinarische Kreuzritter, Ernährungsfanatiker und das 17. Kind eines 72-jährigen presbyterianischen Pfarrers aus Connecticut, war unter Umständen der erste Biohacker der Welt.

Lange bevor Kalorienzählgeräte und Bulletproof Coffee erfunden wurden, trieb er die Idee voran, dass Menschen ihre Existenz durch ihr Essverhalten kontrollieren könnten. Anders als die Ernährungsbesessenen von heute, waren es nicht nur Gesundheit, ein langes Leben oder gar Leistungsfähigkeit, nach dem Graham und seine Anhänger strebten. Es ging um das Erreichen einer höheren Stufe moralischer Existenz.

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Von allen „Funktionen" des Körpers war Graham besonders von einer besessen: Sex. Er war entsetzt über den „geschlechtlichen Exzess" der Gesellschaft im 19. Jahrhundert und glaubte, dass Männer und Frauen nur ein Mal im Monat Geschlechtsverkehr haben sollten und dass Masturbation—oder „Selbstbefleckung"—Auslöser für Diabetes und Geistesstörungen ist, weil das Gehirn dabei entzündet wird.

Seine Lösung? Die Graham-Diät, ein sorgfältig zusammengestellter Ernährungsplan, der die sexuellen Triebe beschwichtigen und die Seele reinigen sollte.

Schwere, fette und fleischige Gerichte waren verboten. Pfeffer, Salz und Gewürze ebenfalls. „Belebende und erhitzende Substanzen, stark gewürztes Essen, reichhaltige Gerichte, der uneingeschränkte Gebrauch von Fleisch … erhöhen die lüsterne Erregbarkeit und die Sensibilität der Genitalien.", schrieb Graham.

Stattdessen empfahl er frische Früchte, Gemüse und Körner. Milch, Eier und Käse sollten nur gemäßigt konsumiert werden. Kaffee und Tee waren „giftig". Butter, ein Grundnahrungsmittel der Bulletproof Coffee-liebenden Biohacker von heute, sollte nur sehr sparsam verwendet werden.

Diese spartanische Diät musste nach sehr genauen Anweisungen umgesetzt werden. Mahlzeiten, riet er, sollten zwei bis drei Mal täglich eingenommen werden, mit einem Abstand von sechs Stunden und in kleinen Portionen. Wasser—„das einzige Getränk, das Gott für die Menschen schuf"—sollte 20-30 Minuten vor der Mahlzeit getrunken werden, nicht währenddessen. Essen musste gründlich gekaut werden, um Karies vorzubeugen und die Verdauung zu erleichtern. Mäßigung war entscheidend. Exzessives Essen betrachtete er als eine der „größten Quellen des Bösen für die menschliche Familie im Gemeindeleben" und als Teil eines ewigen, lasterhaften Kreislaufs unmoralischen Verlangens. Eine schlechte Ernährung verursachte Lust; Lust verursachte Habgier.

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Ein Lebensmittel kritisierte er besonders: Brot. Er beklagte die Methoden der kommerziellen Bäcker, um Brotlaibe weiß zu machen. Der Zusatz von Chemikalien wie Alaun, Kreide und Kupfersulfat bedeutete die Verfälschung „einer der wichtigsten Gegenstände der Ernährung, die in das Essen der Menschheit eindringt", was Brot zum „kläglichsten Schund, den man sich vorstellen kann", machte.

Er war der Meinung, Brot sollte selbstgemacht und aus Vollkorn sein, damit die Kleie im Brot unversehrt bleibt. Im Jahr 1837 veröffentlichte er sein 131-Seiten langes Essay, Treatise on Bread and Bread-Making, indem er seine präzisen Anweisungen für das perfekte Brot darlegte. Weizen muss auf jungfräulichem Boden angebaut werden und in sauberen, trockenen Tonnen aufbewahrt werden. Es sollte von Hand gemahlen und nicht gesiebt werden. Nur weiches Wasser—idealerweise gefiltertes—sollte verwendet werden und der Teig muss gründlich geknetet werden. Nach dem Backen sollte das Brot so lange stehen gelassen werden, bis es komplett ausgekühlt ist. 24 Stunden ist die perfekte Ruhezeit; alles was darunter liegt, glaubte er, führe dazu, dass das Brot aufgrund der Hefegärung Alkohol enthält. Gott bewahre.

Wie die Paleo-Diät, die „Clean Eating"-Bewegung, oder jedes andere dieser weit verbreiteten Regimes von heute, hatte auch die Graham-Ernährung ihre eingefleischten Anhänger. In den frühen 1930ern trat Graham als öffentlicher Redner auf. Er tourte durch die USA und hielt Vorträge, für die er von jedem Teilnehmer 25 Cents kassierte. Er war groß, gutaussehend und charismatisch und schaffte es so, dass bis zu 2000 Leute zu einem Vortrag kamen.

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Nachdem sich die zweite Welle der Cholerapandemie verbreitete, pries Graham seine Diät als garantierten Weg an, die Krankheit zu vermeiden. Er schrieb konventionelle Doktoren als „lizenzierte Scharlatane und Mitglieder der Bruderschaft, die einfach nur Pillen verschreiben und zur Ader lassen" ab und er riet Anhängern, „die Medizin und Ärzte zu vermeiden, wenn dir an deiner Gesundheit etwas liegt." Später behauptete er, dass sein Regime Krebs und Tuberkulose heilen würde.

Fans schrieben im Briefe und bezeugten die lebensverändernde Wirkung seiner Diät. Plötzlich konnte man Graham-Mehl im Geschäft kaufen, aus dem Graham-Brot, Graham-Muffins und Graham-Crackers gemacht wurden. In Boston and New York richteten Grahams Anhänger Pensionen ein, in denen nur Mahlzeiten, die seinen Prinzipien entsprachen, serviert wurden. Ein Hausbesitzer veröffentlichte ein Magazin mit dem Titel The Graham Journal of Health and Longevity, das sich dem Konzept widmete und zwischen 1837-1839 existierte. In Colleges gab es für die Studenten „Graham'sche Tische." Das Oberlin College in Ohio stellte komplett auf die Graham'sche Ernährungsweise um und feuerte Berichten zufolge einen armen Professor, der es wagte, sein Essen mit Pfeffer zu würzen.

Aber es waren nicht alle so entzückt. Im März 1837 blockierten eine Gruppe wütender Metzger und Bäcker—empört darüber, wie er ihre Branche schlecht machte und ihre Kundschaft minimierte—den Eingang in die Amory Hall in Boston, wo ein Vortrag stattfinden sollten hätte. Stattdessen hielt er den Vortrag einfach in einem Hotel um die Ecke ab.

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Es war nicht das einzige Mal, dass Grahams Anwesenheit für gewalttätige Zwischenfälle sorgte. Drei Jahre zuvor wurde er in Portland, Maine, angepöbelt, weil er Frauen über Keuschheit und Sittlichkeit belehren wollte. Ganz ähnlich wie die heutigen Diätgurus, hatte Graham fast von Anfang an so viele Gegner wie Befürworter. Sie prangerten sein Regime als freudlos und trist an und nannten ihn „Dr. Kleie" und den „Sägemehlpudding-Philosophen". Der Transzendentalist Ralph Waldo Emerson belachte ihn als den „Poeten der Kleie und Kürbisse". Das Oberlin College musste schließlich das Graham'sche Regime nach Studentenprotesten im Jahr 1841 abschaffen.

Ironischerweise war Graham selbst bei ziemlich schlechter Gesundheit. Er litt als Kind an Tuberkulose und wurde von Atemschwierigkeiten geplagt. In den 1840ern ging er in Pension und man munkelte, dass er sein Diätregime über Bord warf (seine Frau, Sarah, mochte Wein und Gin sehr gerne und aß regelmäßig Fleisch). Sein Verhalten wurde immer unberechenbarer. Berichten zufolge schlenderte er in seinem Morgenmantel in der Nähe seines Hauses in Northampton, Massachusetts, durch die Straßen und wurde in einer Schubkarre zum Friseur gebracht. Er starb im Jahr 1851 mit 57 Jahren.

Sein Erbe lebt dennoch weiter; in den süßen Graham Crackers, die die National Biscuit Company bis 1931 verkaufte und im Restaurant Sylvester's, in dem auch Fleisch auf die Teller kommt und das sich in seinem früherem Haus befindet. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Graham viel auf diese gegeben hätte.

In den 1870ern griff Dr. John Kellogg Grahams Kampf gegen das Verlangen auf. In seiner Heilanstalt in Battle Creek, Michigan, verschrieb er Patienten—darunter der ehemalige amerikanische Präsident William Howard Taft und Thomas Edison—die Graham'sche Diät, ergänzt mit Joghurteinläufen. Kellogg kreierte das Graham'sche Frühstück, Granola, und die erste Version von Cornflakes, ein langweilig schmeckendes Müsli aus gekochten Weizenflocken.

In dieser Ära kam auch eine neue Disziplin auf, das „wissenschaftliche Kochen" oder auch die „Haushaltswissenschaft" genannt, die Grahams Glaube an die rettende Kraft seiner Diät mit pseudowissenschaftlichen Theorien verband.

Kochschulen und Haushalthandbücher beinhalteten plötzlich Ratschläge, wie Essen „sittlich" gemacht werden kann. Gemüse musste gut gekocht werden und idealerweise mit Béchamelsauce serviert werden. Eine elegante Präsentation half dem Stoffwechsel durch Anregung der Speicheldrüsen. Reis wurde empfohlen, weil er scheinbar schnell verdaut wird. Schweinefleisch sollte nur am Montag gegessen werden—am Waschtag—weil die harte Arbeit, die die Hausfrau leisten musste, ihren Bauch auf den hohen Fettgehalt des Fleischs vorbereitete.

Zum Ende des Jahrhunderts hin hatte sich der Zusammenhang—echt oder erfunden—zwischen tugendhaftem Essen und moralischer Besserstellung im Mainstream festgesetzt. Das Wort „Biohacking" mag zwar neu sein, aber das Konzept dahinter ist es sicherlich nicht.