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Wie ein Arzt 1943 mit einer erfundenen Seuche Juden vor den Nazis rettete

Syndrom K hatte solch einen ansteckenden und tödlichen Ruf, dass die Nazis vor den angeblichen Patienten Reißaus nahmen. So rettete die „tödliche Infektion“ dutzende Menschenleben.
Symbolbild Krankenhaus im Zweiten Weltkrieg
Symbolbild Krankenhaus im Zweiten Weltkrieg | Bild: imago

Auf einer kleinen Tiber-Insel in Rom steht ein uraltes Krankenhaus, das 1582 erbaute Fatebenefratelli. Hier rettete im Zweiten Weltkrieg der Arzt Vittorio Sacerdoti mindestens 45 Juden vor den Nazis, indem er bei ihnen die tödliche „Krankheit" Syndrom K diagnostizierte. Allerdings handelte es sich bei der Infektion, welche laut seiner Diagnose eine sofortige Quarantäne der betroffenen Personen nötig machte, tatsächlich um eine erdachte Seuche, die nur dazu dienen sollte, Juden vor einer Deportation in die Konzentrationslager der Nationalsozialisten zu bewahren.

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„Wir nannten sie K, nach dem deutschen [Italien-]Befehlshaber Kesselring—die Nazis dachten, es würde sich dabei um Krebs oder Tuberkulose handeln und flohen wie die Kaninchen", so Sacerdoti im Jahr 2004 in einem Interview mit der BBC. Albert Kesselring war 1943 darfür abgestellt worden, als Oberbefehlshaber die Besetzung Roms zu überwachen. An anderer Stelle heißt es, K stünde genauso auch für Kappler. Der Kommandeur der SS in Rom war im Jahr 1944 maßgeblich für die Durchführung das Massakers in den Ardeatinischen Höfen verantwortlich, welches wiederum von Kesselring befehligt worden war.

Der damals erst 28-jährige Sacerdoti war selbst Jude und aufgrund der Besetzung durch die Nazis aus seiner vorherigen Position als Arzt im Krankenhaus von Ancona entlassen worden, wie der Blog des Studentenprojekts romehistory der University of Missouri entnehmen lässt.

Sacerdoti nahm daraufhin seine Dienste als Arzt in dem christlichen Krankenhaus Fatebenefratelli auf. Das vor allem von Nonnen geführte, katholische Hospital unterstand dem Vatikan. In einem geheimen Treffen hatte sich Papst Pius XII dafür ausgesprochen, die römischen Juden vor den Deutschen zu schützen, wie in dem Buch The Pope's Jews: The Vatican's Secret Plan to Save Jews from the Nazis nachzulesen ist.

Die Tiber-Insel mit dem Krankenhaus Fatebenefratelli | Bild: Imago

Als die Judenverfolgung 1943 in Italien und somit auch in Rom ihren Anfang nahm, begann Sacerdoti, seine Familie und Freunde in der Quarantänestation des Krankenhauses zu verstecken, wie Yad Vashem—The Holocaust Rememberence Center auf seiner Website über die Geschichte der Ärzte des Fatebenefratelli zu berichten weiß.

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Durch die Erfindung der ansteckenden Krankheit war es nun auch vielen Juden möglich, sich öffentlich und ohne Heimlichtuerei in die Obhut des Fatebenefratelli zu begeben, welches strategisch günstig nördlich des jüdischen Viertels und nordwestlich des Vatikans angesiedelt ist, so romehistory. Vor allem während der Judenrazzia am 16. Oktober 1943 nutzten einige die Möglichkeit, im Fatebenefratelli unterzukommen und wurden umgehend mit Syndrom-K „infiziert". Vor allem Familien mit kleinen Kindern fanden auf der Tiber-Insel Unterschlupf und verbrachten den Winter im Krankenhaus.

Eingang des Krankenhauses Fatebenefratelli heute | Bild: Wikipedia | CC BY-SA 3.0

Romehistory bietet auf seiner Website eine ausführliche Aufarbeitung der Entwicklungen, die die Geschehnisse gut zusammenfasst: Natürlich kamen die Nazis auch ins Fatebenefratelli und ersuchten Einblick in die Patientenakten. Doch die schwelende Infektion von Syndrom-K in den Räumen des Krankenhauses jagte ihnen so viel Angst ein, dass sie die Tiber-Insel möglichst schnell wieder verließen. Der Arzt und seine Mitstreiter beschrieben die Krankheit als ansteckend, entstellend und vor allem tödlich, wie Quartz berichtet. Sobald die Deutschen mit diesen medizinischen Informationen die Quarantänestation betraten, verhielten sich die „Kranken" ebenfalls so, wie ihnen von Sacerdoti eingeimpft worden war: Sie husteten stark, unkontrolliert und scheinbar sehr beeindruckend, denn die Nazis kamen nie wieder.

Die Cousine von Sacerdoti, Luciana Sacerdoti, war erst zehn Jahre alt, als sie im Fatebenefratelli als Syndrom K-Patientin „behandelt" wurde. Sie erinnert sich in einem Interview mit der BBC: „An dem Tag, als die Nazis ins Krankenhaus kamen, kam jemand in unser Zimmer und sagte: Ihr müsst husten, ihr müsst ganz viel husten, die haben Angst vor dem Husten, weil sie sich keine grausame Seuche einfangen wollen und dann nicht reinkommen werden."

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Giovanni Borromeo | Bild: Wikipedia | Fabio-Staffetta | CC BY-SA 3.0

Doch Vittorio Sacerdoti war nicht allein auf weiter Flur. Einige wenige Mitstreiter halfen ihm und unterstützten den Arzt während des artifiziellen Ausbruchs der Krankheit, so Quartz. Darunter befand sich zum Beispiel der Psychiater und antifaschistische Aktivist Adriano Ossicini, der ihm half, die echten Patienten von den Hilfesuchenden zu trennen und zu kennzeichnen. Ebenfalls an der lebensrettenden Idee beteiligt war der Chirurg Giovanni Borromeo, welcher später von der Organisation zum Gedenken Holocuast Yad Vashem als „Rechtschaffender unter den Nationen" bezeichnet wurde.

Erst im vergangenen Juni gab der heute 96-jährige Ossicini der italienischen Zeitung La Stampa ein Interview, in dem er sagte: „Syndrom K wurde in die Patientenakte eingetragen, um anzuzeigen, dass die Person nicht krank war, sondern jüdisch. Wir fertigten den Juden Papiere an, als wären sie ganz normale Patienten und wenn jemand wissen wollte, unter welcher Krankheit sie litten? Dann war es Syndrom K, bedeutete 'Ich gebe zu, dass ich Jude bin', so als wäre er oder sie krank, aber sie waren alle gesund."

Adriano Ossicini (circa 1980) | Bild: imago

Insgesamt 10.000 Menschen überführten die Nazis während der zweijährigen Besetzung Italiens in Konzentrationslager, die meisten von ihnen kehrten nie zurück. Wieviele Menschenleben durch die Erfindung von Syndrom K gerettet werden konnten, lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren—Schätzungen variieren zwischen 20 und über 40 Personen. „Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass wir nicht aus Eigeninteresse handeln sollten, sondern angetrieben von Prinzipien", so Ossicini. „Alles andere ist eine Schande."

Das Krankenhaus Fatebenetelli ist auch heute noch in Betrieb und wurde am 21. Juni 2016 von der Raoul Wallenberg Foundation zum „House of Life" erklärt.