Hat der Fußball eine ungesunde Besessenheit für Schweigeminuten entwickelt?
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Hat der Fußball eine ungesunde Besessenheit für Schweigeminuten entwickelt?

Damit das klar ist: Das Thema ist sensibel und Verstorbene verdienen ein respektvolles Gedenken. Doch Trauer scheint im modernen Fußball schick geworden zu sein. Aber: Auch die Empathie der Fans gehorcht den Regeln der Wirtschaft.

Fußball wird mehr und mehr zu einem Ort von Schweigeminuten und Trauerapplaus. Und das nicht nur in Deutschland. Letzten Monat klatschten die Fans von Aston Villa im Spiel gegen Leeds United nach 20 Minuten und 16 Sekunden um die Wette. Warum? Um „allen Villa-Fans zu gedenken, die 2016 verstorben sind". Taktvoll und rührend oder doch eher aufgesetzt und pathetisch?

Auch wenn das natürlich ein extremes Beispiel war, die Liste für dieses Phänomen will nicht enden: Die Fans des englischen Drittligisten Southend United hielten vor Kurzem in der 17. Minute einen Trauerbeifall ab, weil zwei 17-jährige Anhänger bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Bei Sheffield United organisierte man dieselbe Geste nach dem Tod eines Achtjährigen. Auch bei West Ham, Middlesbrough und Leicester ehrte man verstorbene Fans.

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All diese Beispiele trugen sich im Dezember zu. Besonders viel Mitleid gezeigt wurde beim Spiel zwischen Newcastle United und Nottingham Forest am 30. Dezember. Erst gab es einen Trauerbeifall vor dem Anstoß (anlässlich des ersten Todestags von Pavel Srníček), dann in der 17. Minute (zu Ehren von Fans an Bord von Unglücksflug MH17 im Jahr 2014) und dann in der 19. Minute (für einen Teenager, der an Weihnachten erstochen worden war).

Und in Deutschland? Hier gab es in der Bundesliga und bei der Nationalmannschaft in jüngster Vergangenheit Schweigeminuten für den verstorbenen Gerhard Mayer-Vorfelder, die Opfer des Zugunglücks in Bad Aibling, die Terroropfer von Paris, Brüssel und Berlin, die abgestürzten Chapecoense-Spieler. Dazu kommen noch Gedenkminuten und Trauerapplause für den Tod von Vereinslegenden (wie vor Kurzem beim ewigen Borussen „Aki" Schmidt), verunglückte Fans und Betreuer.

Dies ist natürlich ein sehr sensibles Thema und an dieser Stelle möchten wir klarstellen, dass keine der erwähnten Trauergesten unverdient oder bedeutungslos war. Und wer schon mal im Stadion eine Schweigeminute miterlebt hat, weiß um die beeindruckende Wirkung dieser Geste.

Trotzdem überwiegt bei mir und einigen meiner Mitmenschen das Gefühl, dass ein gewisser Overkill erreicht wurde, dass der Fußball eine ungesunde Bindung zum Thema Trauer eingegangen ist, dass etwas zu einem Brauch, ja fast schon zu einem Trend geworden ist, das noch vor wenigen Jahren vielleicht ein bis zwei Mal pro Saison nötig wurde. Andererseits kann man kontern, dass es beispielsweise in unseren Breitengraden früher einfach weniger Terroranschläge gab–und es somit auch weniger Traueranlässe. Das Thema ist wie bereits gesagt äußerst diffizil.

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Vor allem in England wird viel getrauert. Foto: PA Images

Keiner hat das Recht zu urteilen, wer ein öffentliches Gedenken verdient hat und wer nicht. Aber wenn 37.000 Fans im Villa Park gezwungen werden, der völlig vage gehaltenen Kategorie „Fans, die in den vergangenen 12 Monaten gestorben sind" zu gedenken, dann scheint doch irgendwas in Schieflage geraten zu sein.

In vielen Stadien läuft übrigens der Trauerapplaus der Schweigeminute den Rang ab. Warum? Weil Fans ihn selbst organisieren können und er nicht vom Stadionsprecher eingeleitet und vom Schiedsrichter beendet werden muss. In vielerlei Hinsicht ist das eine gute Sache: Es bedeutet, dass Fans nicht nur solchen Personen gedenken können, die von Verbands- oder Vereinsseite als würdig erachtet werden. Doch diese Entwicklung hat auch eine Kehrseite: der rasante Anstieg organisierter Trauergesten für Tragödien, zu denen die „Trauernden" in vielen Fällen nur eine vage Verbindung haben.

Ein ökonomisches Grundprinzip lautet: Je mehr es von etwas gibt, desto geringer ist sein Wert. Und indem es immer häufiger Gedenkminuten und Ähnliches gibt, wird das Ganze immer mehr zur Routine und verliert dadurch seine Bedeutung. Vielleicht ist es der Versuch zu sagen: Seht her, beim Fußball geht es nicht nur um Geld, wir können auch Emotionen zeigen.

Wie sehr Trauern im modernen Fußball zur performativen Modeerscheinung geworden ist, wurde vor Kurzem mal wieder deutlich: Nach dem Kreuzbandriss von Gündoğan trugen seine City-Mitspieler beim Auflaufen vor dem Match gegen Arsenal allesamt Trikots des Ex-Dortmunders. Diese absurde Trauergeste wurde sogar Gündoğan selbst zu viel, der kommentierte: „Danke Jungs, aber ich lebe ja noch." Eine ähnliche Aktion konnten wir schon bei der WM 2014 beobachten, als die brasilianische Nationalmannschaft nach der Verletzung von Neymar bei der Hymne ein Trikot des Barça-Stars hochhielt. Schöne Geste, aber eben auch ganz schön pathetisch.

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Damit sich Fußball-Fans im In- und Ausland (ich bin übrigens selbst einer) nicht auf den Schlips getreten fühlen, noch einmal deutlich und unmissverständlich: Natürlich ist jedes einzelne Unglück bedauernswert und eine Tragödie für die Betroffenen. Die Frage ist nur, inwieweit die tragischen Vorfälle in allen Fällen von Relevanz für die Tausenden Fans im Stadion waren. Stirbt ein Auswärtsfahrer bei einem Autounfall, stimmt das nicht nur–aber vor allem–die Ultras traurig. Stirbt eine 80-jährige Vereinslegende, stimmt das nicht nur–aber vor allem–die älteren Generationen unter den Fans traurig. Sterben Menschen in Paris bei einem Terroranschlag, stimmt das nicht nur–aber vor allem–Menschen mit Frankreichbezug traurig. Es gibt kein Richtig und kein Falsch bei der Auswahl von Unglücken, deren Opfern gedacht wird, wohl aber ein (gefühltes) Zu-viel.

Oder wie es mal ein weiser Mann ausgedrückt hat: „Keine Trauer ist so groß wie die, die ohne Worte auskommt". Vielleicht sollte der moderne Fußball darüber nochmal nachdenken.

Der Artikel erschien ursprünglich bei VICE Sports UK.