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4 Tage wach: New Yorker stellt neuen Binge-Watching-Weltrekord auf

Das stellen 92 Stunden Netflix-Glotzen mit deinem Körper an.
Die Stoppuhr nach etwa 7 Stunden des Binge-Watching-Weltrekordversuchs | Bild: Louise Matsakis, Motherboard

Letzten Freitag habe ich den ganzen Tag vorm Fernseher verbracht. Wie es sich für einen echten Binge-Watcher gehört, verharrte ich stundenlang im selben Raum und starrte nur auf den Bildschirm. Das Besondere: Während ich mir die Serien reinzog, saß ich nicht alleine in meinen eigenen vier Wänden, sondern in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in Manhattan, in denen ein Fremder darüber wachte, dass ich meine Augen auch bloß nicht vom Bildschirm abwandte. Jedes Mal, wenn ich auch nur kurz wegschaute, um nach der Popcorn-Tüte zu greifen, meinen Pulli zurecht zu zupfen oder besonders lange blinzelte, machte er sich Notizen. Gegenüber der Couch, auf der ich saß, war ein Haufen Kameras positioniert, die jede meiner Bewegungen aufzeichneten.

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Meine TV-Session begann um acht Uhr morgens, und nach zehn Stunden Battlestar Galactica und The Twilight Zone hatte ich es geschafft: Ich hatte meine Pflicht beim Binge-Watching-Weltrekordversuch getan. Neben mir auf der Couch saßen bereits die nächsten zwei tapfere Seelen aus dem freiwilligen Rekordteam. Sie hatten noch weitere 83 Stunden vor sich.

Alejandro „AJ" Fragoso und seine Freundin Molly Ennis hatten sich in den Kopf gesetzt, den Weltrekord im Dauerfernsehen zu brechen. Dienstagmorgen—nachdem Fragoso knapp einhundert Stunden lang wie hypnotisiert seine Augen an den Bildschirm geheftet hatte—war es schließlich soweit. Fragoso kürte sich offiziell zum neuen Rekordhalter im Dauer-Fernsehen. Ich war für einige Stunden live dabei, um zu sehen, wie lange ich einen Bildschirm anstarren konnte, ohne dabei durchzudrehen. Ennis wurde disqualifiziert, weil sie kurz woanders hingeschaut hatte, aber ihr Freund guckte fast vier volle Tage alles von Bob's Burgers bis Curb Your Enthusiasm und knackte damit erfolgreich den bisherigen Rekord von 92 Stunden Dauerglotzen.

Der Ort, an dem der Rekord gebrochen wurde. Bild: Louise Matsakis/Motherboard

Mein Körper fühlte sich schon nach meinen vergleichsweise bescheidenen zehn Stunden Dauerberieselung komisch. Meine Augen waren todmüde, aber mein Verstand war überraschend klar. Selbst Wissenschaftler wissen nicht genau, was mit uns passiert, wenn wir an der Glotze kleben. [EEG-Studien über das Gehirn](EEG studies of the brain) haben allerdings gezeigt, dass Gehirnregionen wie der Neocortex, die für das Denken verantwortlich sind, dabei anscheinend runtergefahren werden. Gleichzeitig aber bleibt die Sehrinde, die die optischen Impulse verarbeitet, hochgradig aktiv.

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Kurz gesagt befindet sich unser Gehirn während des Fernsehens in einem Zwischenzustand: Unser Verstand kann sich nicht wirklich entspannen und ist auch nicht voll wach. Ich gucke selten fern und kam überhaupt nicht damit klar, wie seltsam ich mich während des TV-Marathons fühlte. Etwas überrascht musste ich danach feststellen, dass ich lediglich so viel ferngesehen hatte, wie es der durchschnittliche Amerikaner in nur zwei Tagen tut.

Tatsächlich entspricht Fragosos Rekord der Zeit, die Amerikaner innerhalb von zweieinhalb Wochen vor dem Fernseher sitzen. Jeden Monat verbringt der durchschnittliche Amerikaner laut Statistiken von Nielsen, die maßgeblich für das Erheben von TV-Daten in den USA verantwortlich sind, mehr als sechs ganze Tage oder fast fünf Stunden täglich mit dem Fernsehen.

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Fernsehinhalte werden immer öfter über Streaming-Seiten wie Hulu, HBO GO oder Netflix konsumiert, was den Zuschauern ermöglicht, sich zu jeder Tag- und Nachtzeit so viele Folgen wie möglich reinzuziehen. Die Entstehung des Begriffs Binge-Watching geht somit maßgeblich auf den Siegeszug der Streaming-Anbieter zurück

Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Deloitte schauen 68 Prozent der Verbraucher drei oder mehr Folgen einer Serie direkt hintereinander—damit erfüllen sie die Definition des Begriffs Binge-Watching. 31 Prozent davon geben zu, dieses Verhalten mindestens ein Mal wöchentlich an den Tag zu legen.

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Binge-Watching verändert nicht nur unser Verständnis von Unterhaltung, es verändert auch die Vorgehensweise von Drehbuchautoren und Produzenten. Vor allem aber verschwenden wir damit unglaublich viel unserer Zeit. Was das ganze trotzdem so verlockend macht, ist, dass wir während einer Session Dauerberieselung alles über die Geschichte unseres Lieblingscharakters erfahren können, ohne tage- oder wochenlang auf die nächste Folge warten zu müssen.

Fragoso am Dienstagmorgen als es ihm gelang, den Weltrekord zu brechen. Danach machte er erstmal ein Nickerchen. Bild: Tim Williams

Um die Guinness Weltrekord-Regeln einzuhalten, durften die beiden anderen Teilnehmer und ich nur eine Pause machen, wenn wir ins Bad mussten. Auch durften wir für bis zu fünf Minuten pro Stunde unsere Handys benutzen—mehr nicht. Den Großteil der Zeit aber hatten bezahlte „Zeugen" die Aufgabe, unsere Augenbewegungen akribisch zu verfolgen und sicherzustellen, dass unser Blick nicht vom Fernsehbildschirm schweift. Finanziert wurde der Rekordversuch übrigens von einem Sponsor: CyberLink, ein Softwareunternehmen, das den Media Player namens PowerDVD verkauft, über den auch die Serien für den Rekordversuch ausgestrahlt wurden, stellte die nötigen Mittel bereit.

Am Ende des Tages taten mir die Augen vom vielen Fernsehen weh, und ich war extrem schlecht gelaunt. Nachdem ich so viele Folgen geschaut hatte, fühlte ich mich einsam und abgeschottet, vor allem bei Szenen, in denen sich die Charaktere sehr gut verstanden. Und zum Schluss konnten selbst die lustigsten Szenen keine besondere Reaktion mehr in mir hervorrufen.

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Die erdrückendste Empfindung, die ich hatte, war jedoch die völlige Gefühllosigkeit. Ich fühlte rein gar nichts.

Die erdrückendste Empfindung, die ich hatte, war jedoch die völlige Gefühllosigkeit. Ich fühlte rein gar nichts. Binge-Watching kann solch ein leeres Gefühl verursachen, da fesselnde Dramen wie die beliebte Netflix-Serie House of Cards eine verlässliche Form der Flucht aus dem Alltag bieten, die noch dazu ewig so weitergehen könnte. Es gibt ja schließlich immer die nächste Serie, die man gucken kann.

Eine Studie der Syracuse University unterstützt diese Beobachtung. In der Untersuchung wurde der Gemütszustand der Teilnehmer nach dem Binge-Watching mit dem Zustand nach dem regulären TV-Konsum verglichen. Die Ergebnisse legten nahe, dass Binge-Watching eher das Gefühl des Eskapismus auslöst als regelmäßiges Fernsehen.

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Viele der Leute, mit denen ich mich über ihre Binge-Watching Gewohnheiten unterhalten habe, sagten mir, dass sie es regelmäßig tun, obwohl es nicht mal unbedingt ein angenehmer Zeitvertreib sei. Manchen ermöglicht Binge-Watching, Stress sowie andere negative Gefühle wie Angst abzubauen. Statt sich anderen Arten der Entspannung wie Sport oder sozialen Aktivitäten mit Freunden zuzuwenden, ist es für viele jedoch bequemer, einfach für einige Stunden in die Welt ihrer Lieblingsserie abzutauchen.

Dass Binge-Watching für viele eine Art Flucht vor dem Alltagsstress darstellt, wurde auch von Ergebnissen einer 2011 von der National Sleep Foundation durchgeführten Studie unterstützt. Die Untersuchung zeigte, dass 60 Prozent der Amerikaner jeden Abend oder fast jeden Abend kurz vor dem Schlafengehen noch fernsehen. Es ist aber weiterhin unklar, wie genau sich dieses Verhalten auf unser Gehirn auswirkt.

Tatsache ist, dass wir die Auswirkungen des Binge-Watching auf den menschlichen Körper noch nicht ausreichend erforscht haben. Klar ist hingegen, dass immer mehr Leute nicht mehr wissen, wann es an der Zeit ist, die Stop-Taste zu drücken.

Ich bin mir also ziemlich sicher, dass auch Fragosos neuer Rekord schon bald wieder getoppt wird.