FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Von Zelle zu Zelle: Geschmuggelte Handys verändern den Strafvollzug in Brasilien

Mit geschmuggelten Handys kontrollieren brasilianische Gefängnisgangs aus dem Knast heraus Auftragsmorde, Drogenhandel und Planen sogar den Aufbau von Spionage-Systemen zum Abhören der Polizei.
Alle Fotos von Morten Andersen

Am 18. Januar 2013 wurden im Gefängnis der brasilianischen Stadt Joinville mehrere Insassen gefoltert. Die nackten Gefangenen wurden mit Pfefferspray eingenebelt und mit Gummimunition beschossen—und zwar von niemand anderem als Ihren Aufsehern. Die Angestellten ließen es sich auch nicht nehmen Handy-Videos von den Häftlingen zu machen, die sich vor Schmerzen wie Embroys krümmten.

Handy-Aufnahmen von Folteropfern zu machen ist allerdings in unserer heutigen gutvernetzten Zeit nicht die beste Strategie. Tatsächlich sind nämlich in dem brasilianischen Gefängnis nicht alleine die Aufseher im Besitz von Mobiltelefonen: So machte schon bald eines der Foltervideos unter den Gefangenen, die ein geschmuggeltes Handy besaßen, die Runde.

Anzeige

Die Macht der Häftlinge führte in der Folge tatsächlich im gesamten Staat Santa Catarina zu drastischen Gegenaktionen: Häuser von Aufsehern, Polizeistationen und kleine Firmen wurden angegriffen. Organisiert wurden die Angriffe von einer Gefangenengruppe namens Primeiro Comando do Caterinese, Nachahmer der mächtigsten Gefängnisgang Brasiliens: der Primeiro Comando do Capital, allgemein bekannt als PCC.

„Hier im Gefängnis kann keiner einfach kommen und mich töten… Aber ich kann deinen Tod da draußen beauftragen.“

Die Attacken der PCC in den vergangenen acht Jahre gegen die zivile Außenwelt bezeugen, dass vernetzte Häftlinge das Konzept der Haftstrafe vollständig verändert haben. So kontrolliert die PCC über Mobiltelefone in Bolivien und Paraguay große Teile des Kokain- und Marihuanahandels und verdingt sich an Entführungen, Prostitution und Erpressung. Anstatt isoliert und ohne Einfluss zu sein—wie es der Strafvollzug eigentlich bezwecken soll—kann ein Insasse mit seinem Telefon Morde organisieren, Zeugen einschüchtern und seine Prostituierten für den nächsten „Intimbesuch” bestimmen.

Konfiszierte Handys. Bild: Morten Andersen

Mit ihrem gewaltigen Netzwerk aus billigen, einfach zu schmuggelnden Mobiltelefonen arbeitet die PCC daran, die Strafverfolgung vollständig auf den Kopf zu stellen, so dass nun Gefangene die Polizei und Politiker verfolgen, um deren „Verbrechen” aufzudecken und zu bestrafen.

„Die Gefangenen organisieren Exekutionen übers Telefon. Das vergisst Du nie wenn die Gangster-Bosse über ein Attentat nacheinander mit ‘töten’, ‘töten’, ‘töten’ abstimmen.“ berichtete mir Marcelo Cristino, Staatsanwalt in São Paulo, über eine Konferenzschaltung von sieben PCC-Bossen. „Es ist alles sehr gut organisiert und ruhig, keiner hebt die Stimme, jeder kommt an die Reihe“, fügt er hinzu.

Anzeige

„Die Häftlinge organisieren Exekutionen übers Telefon. Das vergisst Du nie wenn die Gangster-Bosse über ein Attentat nacheinander mit ‘töten’, ‘töten’, ‘töten’ abstimmen.”

Der Boss der Bosse ist Marcos Willians Herbas Camacho, aka “Marcola”. Obwohl Marcola seit 1999 im Gefängnis sitzt, kontrollierte und erweiterte er seitdem sein Imperium auf 22 Brasilianische Bundesstaaten—alles heimlich übers Handy. Auf die Interview-Frage, ob er Angst habe zu sterben, hat Marcola einst geantwortet: „Hier im Gefängnis kann keiner einfach kommen und mich töten… Aber ich kann deinen Tod da draussen in Auftrag geben.”

Einmal inhaftiert werden Neulinge von der PCC rekrutiert. Jedes frisch gebackene PCC-Mitglied muss einen Schwur leisten der zwar Vergewaltigungen verbietet, bei dem Raub, Erpressung, Mord und ähnliche Machenschaften jedoch explizit erwünscht sind. Außerdem wird ein monatlicher Mitgliedsbeitrag fällig: 18 Euro, wenn du sitzt, und 180 Euro, wenn du draußen bist. Zu den Vorteilen einer Mitgliedschaft zählt unter anderem das günstige Entleihen von Waffen, die nach dem Verbrechen zurückzugeben sind. Von seinen neuen Anhängern sagt Marcola, dass sie „Absolventen des Gefängnisses“ seien, „wie Monster, die mithilfe moderner Technologie von Satelliten, Handys und dem Internet eine neue Kultur des Tötens schaffen.“

Gefängnis-Arsenal. Bild: Morten Andersen

Dank der modernen Technologie und aufgrund der fast schon genossenschaftlichen Regeln werden Verbrecher in São Paulo und anderswo, wenn sie ins Gefängnis kommen, jetzt von der PCC statt dem Staat reglementiert, diszipliniert und organisiert.

Obwohl allein im vergangenen Jahr geschätzt 35.000 Handys in Brasiliens Gefängnissen konfisziert wurden boomt der Schmuggelmarkt zwischen Gefängnishöfen und den Straßen außerhalb der Mauern. Die Schmuggler werden immer erfindungsreicher: vom Rechtsanwalt mit ausgehöhltem Afro über den Teenager mit ferngesteuertem Helikopter bis zum korrupten Aufseher ist alles dabei und alle beteiligten profitieren finanziell. Nicht selten sammeln Aufseher bei Razzien genau die Handys ein, die sie selbst hereingeschmuggelt haben, nur um diese dann noch einmal zu verkaufen.

Anzeige

Es gab auch schon den Versuch, ein Handy in mehreren Teilen per Taubenpost über die Mauern zu schaffen—das Unterfangen scheiterte an der damit einhergehenden Fluguntüchtigkeit der Tiere. Seither halten die Mauerposten Ausschau nach Tauben, die sich ungewöhnlich verhalten.

Inzwischen sind Guthabenkarten statt Drogen die neue Gefängniswährung in São Paulo. Hunderte von Insassen laden ihr Guthaben aber auch über ihr Handy selbst auf. Das sieht dann so aus, dass ein unglücklicher Einwohner São Paulos per Zufall aus dem Telefonbuch ausgesucht und angerufen wird, mit dem Gruss: „Ich bin von der PCC. Ich weiß, wo deine Kinder zur Schule gehen. Wenn du nicht zahlst, schnappe ich sie mir!“ Zum Schutz von Verwandten wird eine Zahlung von rund 70 Euro erwartet, die auf das Konto des Handyanbieters überwiesen wird, was den Insassen Tausende neue Telefonzeit bringt.

“Es gibt einen Deal zwischen den Gefängnisdirektoren und der PCC.”

Auf der Basis der Handys hat sich die Struktur der PCC über die Jahre von einer klassischen Pyramide hin zu einem Netzwerk autonomer Zellen entwickelt. So können einzelne Mitglieder der Organisation nur wenig schaden. Ironischerweise geben sogar die kritische Stimmen zu, dass die PCC durch die neue Vernetzung mehr Ordnung und verringerte Gewalt in den Gefängnissen geschaffen hat: „Es gibt einen Deal zwischen den Gefängnisdirektoren und der PCC“, erzählte mir Julio Ferreira, ein Fotojournalist aus São Paulo.

„Für den Gefängnisdirektor bedeutet die Übereinkunft: wenn ihr [die PCC] im Gefängnis keinen Ärger macht, sehe ich nichts und ihr könnt haben was ihr wollt—Handys, Mädchen, Drogen, Marihuana, Kokain, Drinks, alles. Und alle sind glücklich. Der Gefängnisdirektor ist zufrieden—es gibt keine Aufstände. Die Aufseher sind zufrieden—sie kriegen Ihre Bestechungsgelder. Und die PCC ist zufrieden mit ihren Handys und ihren Drogen.”

Durch solche Deals und die Innovationsbereitschaft bleibt die PCC den Bemühungen ernsthafter Strafverfolger immer eine paar Schritte voraus. Im Oktober 2013 wurden mit viel Fanfare Störantennen in Dutzenden Gefängnissen aufgestellt in der Hoffnung die PCC-Bosse in unterschiedlichen Gefängnissen zu isolieren. Prompt fanden Insassen Funklöcher in denen die Störwellen schwach genug waren um zu telefonieren. Und in die Gefängnisse in denen die Störversuche gelingen versucht die PCC nun Satellitentelefone zu schmuggeln. Diesen haben die Störwellen nichts an und erlauben sogar verschlüsseltes telefonieren, so dass sogar das Abhören unmöglich wird.

Aber die technologische Entwicklungslust der PCC hört auch hier nicht auf. Im Januar 2008 hörte die brasilianische Polizei Gespräche der PCC ab in denen die Anschaffung eines Abhörsystem für Handys im Wert von rund 231.000 Euro geplant wurde. Mit diesem System namens „Guardian“, das vor allem von der brasilianischen Bundespolizei genutzt wird, wollten die Bosse im NSA-Stil Polizei und Staatsanwaltschaft ausspionieren und Ihre Kontrolle in den Gefängnissen zementieren. Sogar einen korrupten Anwalt aus Miami hatten sie schon für ihren Plan rekrutiert.

Jonathan Franklin ist Autor von 33 Men, einer Bestseller-Saga über einen verschütteten Bergmann. Jobathan lebt und arbeitet in Südamerka. Von dort schreibt er regelmässig für den Guardian und dieWashington Post. Folge ihm unter @FranklinBlog.