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Wenn Bilder aus Überwachungskameras Leben zerstören

Die mangelnde Beweiskraft einer körnigen Überwachungskamera und eine ordentliche Portion menschlicher Irrtum ließen den unschuldigen Steve Talley nicht nur Haus, Arbeit und Ruf, sondern auch seine Zähne verlieren.
Bild: FBI

US-Polizisten sind nicht zimperlich bei Festnahmen, davon kann auch Steve Talley aus Denver ein Lied singen. Nur Minuten, nachdem er unter einem Vorwand von Polizisten aus dem Haus gelockt wird, hat er ein paar Zähne weniger. Zwei Cops schlagen ihn auf dem Bürgersteig mit Knüppeln nieder; einer tritt ihm ins Gesicht. Talley beteuert, dass die Polizisten den falschen Typen erwischt hätten, doch er wird ignoriert.

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Für fast zwei Monate musste Talley in einem Hochsicherheitsgefängins in Denver einsitzen—für zwei Banküberfälle, die er am 14.05.2014 und am 05.09.2014 nur rund einen Kilometer von seinem Haus entfernt begangen haben soll. Beim zweiten Überfall habe er zudem einen Polizisten angegriffen und verletzt. Die Zähne, die Talley auf dem Bürgersteig ließ, waren auch Vergeltung der Polizisten für eine Attacke des Bankräubers auf ihren Kollegen.

Talley versteht die Welt nicht mehr und wiederholt im Verhör immer wieder, er sei zum Zeitpunkt des Überfalls doch bei der Arbeit gewesen, als Finanzberater für eine Kapitalanlage-Firma. Vergeblich.

Was war passiert? Im September verbreitete die Polizei Bilder aus der Überwachungskamera der Bank—drei Bekannte von Talley meldeten sich daraufhin und wunderten sich über die Ähnlichkeiten zwischen dem Bankräuber und Steve Talley .Auch seine Ex-Frau glaubte, in zwei Fotos der Räuber vom Mai und September ihren Ex-Mann wiederzuerkennen—und diese Aussagen sprechen für die Ermittler eine eindeutige, unmissverständliche Sprache: Talley musste der Bankräuber gewesen sein.

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Der Fall, den The Intercept aufgerollt hat, zeigt auf tragische Weise, wie falsch interpretierte Bilder aus Überwachungskameras ganze Leben zerstören können—und wie unwissenschaftlich die Methode ist, auf die sich hunderte Ermittler jeden Tag verlassen.

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Von seiner Verhaftung trug der Vater zweier Kinder neben den kaputten Zähnen weitere massive Verletzungen davon: Vier verletzte Wirbel, ein gebrochenes Schlüsselbein, Blutgerinnsel im Bein, einen Nervenschaden im rechten Knöchel und einen Penisbruch.

Abgesehen von einer DNA-Analyse gibt es keine forensische Methode, mit der man Identität zweifelsfrei feststellen kann.

Erst, als sein Verteidiger Audiomitschnitte von einer Kamera bei Talleys Arbeitgeber vorlegte—auf denen der Beschuldigte am Tag des Mai-Raubüberfalls gehört werden konnte, wie er versuchte, ein Finanzprodukt am Telefon zu verkaufen—kam er wieder frei.

Ein Jahr später. Es ist der 10. Dezember 2015; und Talley muss erneut wegen eines Bankraubs ins Gefängnis einfahren, den er nie begangen hatte: Forensikexperten des FBI irren sich nach einer Revision des Falls und der Bilder ein weiteres Mal; als sie die Aufnahmen der Überwachungskamera manuell mit diversen Fotos von Talley vergleichen. Obwohl Talleys Gesicht mit dem des Bankräubers nicht übereinstimmte, teilten sich beide Männer wichtige äußerliche Charakteristika: Einen breiten Kiefer, kurzes blondes Haar, hellblaue Augen, einen muskulösen Körperbau und an der Spitze leicht abgeknickte Ohrmuscheln.

„Das abgebildete Individuum scheint Talley zu sein", hieß es im Abschlussbericht. Ein fataler Fehlschluss. Digitale Beweisführung ist noch lange keine bessere Beweisführung als analoge. Das wird leider sehr häufig vergessen.

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Tatsächlich lässt sich mittlerweile auch wissenschaftlich belegen, dass es abgesehen von einer DNA-Analyse keine forensische Methode gibt, die eine Identität zweifelsfrei feststellen kann. Die menschliche Identifikation von Gesichtern hat als wissenschaftliche Methode noch ein größeres Problem: Es fehlen die statistischen Abgleiche, um überhaupt eine solide Basis aufzubauen und belastbare Schlüsse zu ziehen. Und das wiederum stellt ein Problem für den digitalen Gesichtsabgleich dar.

Denn Menschen sind leider erschreckend schlecht im Abgleich von Gesichtern, selbst wenn Fotos Personen frontal und in hoher Auflösung abbilden. Selbst zwischen einzelnen FBI-Analysten gibt es bei ein und derselben Vergleichsreihe riesige Unterschiede. Das liegt nicht unbedingt an mangelhafter Ausbildung, sondern auch an Bedingungen, die der Analyst nicht kontrollieren kann: Nur ein Beispiel sind Objekte außerhalb des Bildes, die Schatten werfen und Gesichtszüge anders erscheinen lassen. Was durch ungenügende Beleuchtungssituationen nicht erledigt, wird häufig durch Artefakte in der Bildkompression verzerrt oder verschleiert. Je schlechter die Bildqualität, desto schwieriger wird es natürlich, Schlüsse zu ziehen. Wie ähnlich ist ähnlich genug, um eine Aussage zu treffen? Tatsächlich beruhen diese Schlüsse letztlich auf menschlicher Erfahrung—und die kann häufig total danebenliegen.

Bild: FBI

„Es ist gefährlich, wenn ein Video-Analyst dem Gericht unterbreitet, dass die gefilmte Person tatsächlich der Angeklagte ist. Wenn es so einfach wäre, gäbe es kaum Grund für Verhandlungen in einer Überwachungsgesellschaft und das ist ein gruseliger Gedanke", wird ein früherer Analyst bei The Intercept zitiert.

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Ein weiterer Fall einer tragischen Verwechslung: Wie sich ein unschuldiger Sikh plötzlich als Bombenbauer auf Twitter wiederfand.

In Talleys Fall stützte sich die Beweisführung auf vier Gesichtsmerkmale—doch erst vor Gericht stellte sich heraus, dass der Bankräuber auf dem Video tatsächlich nicht das Muttermal im Gesicht trug, das die Analysten als definierendes Merkmal auf Talleys Gesicht wiedergefunden hatten.

Die mangelnde Verlässlichkeit eines Gesichtsabgleichs stellt in einem Zeitalter, in dem sich Strafverfolgungsbehörde auf immer mehr Kameras im städtischen Raum verlassen, ein echtes Problem dar. Was fehlt, sind standardisierte Methoden, die eine klare Validierung ermöglichen. „Wenn jemand auf einem Video wie jemand anderes aussieht, bedeutet das gar nichts", sagt auch Glenn Porter, der über Gesichtserkennungssoftware forscht.

Über zwei Jahre, nachdem die Polizei ihm die Zähne ausschlug, wurde Talley entlastet.

Talleys Leben hat diese Ungenauigkeit jedenfalls gründlich zerstört. In den zwei Monaten, die er unschuldig im Gefängnis in Denver saß, bezahlte er keine Miete und verlor seine Wohnung. Und dann war da die Sache mit seinem Job: Ein (potentieller) Bankräuber im Finanzsektor? Nein danke, hieß es nach dem Hintergrundcheck immer wieder.

Kein Wunder, dass Talley sich nach mehreren erfolglosen Bewerbungen mit Anwaltshilfe bemühte, die unschuldige Festnahme schnell aus seinen Akten streichen zu lassen: Denn in wenigen Monaten würden seine Berufslizenzen zum Verkauf von Finanzprodukten auslaufen, wenn er keine Arbeit finden könnte. Doch statt der Rehabilitierung kam im Dezember 2015 die zweite Festnahme.

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Letztlich war es seine physische Statur, die ihn rettete: Vor Gericht sagte die Bankmitarbeiterin Bonita Shipp aus, der Räuber sei schmaler gewesen, doch hätte ansonsten ein unauffälliges, Gesicht gehabt, das genauso gut zu Talley gehört haben könnte. Über zwei Jahre, nachdem die Polizei ihm die Zähne ausschlug, wurde Talley entlastet.

Wenn du alle diese Gesichter wiedererkennen kannst, könntest du zu den seltenen Super Recognizern gehören

Die Polizei in Denver hat sich für den unermesslichen Schaden den sie angerichtet hat, nicht entschuldigt. Und das—wie sich später herausstellte—obwohl sie Talleys Fingerabdrücke mit Fingerabdrücken am Tatort abgeglichen hatte und keine Übereinstimmung fand. Der arbeitslose Talley verklagt nun die Polizei Denver auf zehn Millionen Dollar Schadenersatz.

Dafür, dass forensische Gesichtserkennung—ob manuell oder digital—anhand von Überwachungskamera-Aufnahmen in so vielen kriminalistisch relevanten Fällen verwendet wird und dabei hilft, endgültige Urteile zu fällen, sind die Fähigkeiten derer, die damit Geld verdienen, überraschend wenig erforscht. Eine Studie, die Gesichtserkennungs-Experten bei der Arbeit untersucht hat, fand erschreckenderweise heraus, dass Profis beim Identifizieren von Gesichtern ähnlich schlecht abschneiden wie Ungelernte. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Fähigkeit zum Erkennen von Gesichtern, mal mehr und mal weniger stark ausgeprägt sein kann statt nur vom Training abzuhängen, ist noch relativ neu.

Nicht klar ist, was das nun für die Gesichtserkennung mit Softwaretools bedeutet. Es wäre ein Leichtes, nun für noch mehr Überwachung zu plädieren, für noch mehr und bessere Kameras, die den menschlichen Makel weiter reduzieren sollten. Doch wie exakt darf und soll eine Überwachungskamera überhaupt aufzeichnen, um die Privatsphäre Unbeteiligter nicht unnötig zu verletzen?

Dieser Fall wirkt auch wie eine Steilvorlage für ein Plädoyer für ausgeklügelte Gesichtserkennungssoftware, die unsere Wahrnehmungs-Fehler ausgleicht. Dabei gibt es jedoch ein großes Problem: Wir füttern Maschinen mit Algorithmen. Und wenn wir der Software nicht genau beibringen können, auf welche Merkmale sie zu achten hat, weil die wissenschaftliche Grundlage dafür fehlt, sind die Maschinen die nächsten, die fatale Fehler machen, welche im schlimmsten Fall letztlich Existenzen zerstören können.