Der König der virtuellen Straßenschlachten: Der beste Ingress-Spieler der Welt
Bild: Zen Lefort / MOTHERBOARD

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Der König der virtuellen Straßenschlachten: Der beste Ingress-Spieler der Welt

Google hat den 30-jährigen Morka nach 7992 Kilometern in der Augmented Reality zum weltbesten Ingress-Spieler gekürt. Für seine spektakulärsten Eroberungen brauchte er nur „Redbull, ein Fahrrad und gute Vorbereitung.“

​Seit 1828 thront Louis XIV zu Pferde am Place des Victoires in Paris. Dabei musste der Sonnenkönig sich seinen Platz im Straßenbild der französischen Hauptstadt erst wieder zurück erobern, nachdem seine Statue zwischenzeitlich von Revolutionären zu Kanonen geschmolzen und kurzzeitig durch einen nackten General ersetzt worden war.

Für Touristen ist der Place de Victoires heute einer der zentralen Anlaufpunkte auf ihrer Tour durch Paris. Für den 30-jährigen Ingress-Spieler Damien Bastou ist der königliche Platz vor allem ein Symbol für seine Erfolge bei Ingress. Unter dem Pseudonym ‚Morka' ist er inzwischen offiziell der weltbeste Spieler der zunehmend beliebten Augmented-Reality-Schnitzeljagd. Morka ist die Nummer eins auf der ersten von Google veröffentlichten Weltrangliste des Games.

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Das von dem hauseigenen Google-Projekt Niantics Lab entwickelte Game wirbt ​mit dem Slogan „The world around you is not what it seems" und ist die wohl unterhaltsamste Verschmelzung virtueller und urbaner Realität, die bisher der allgemeinen Smartphone-Öffentlichkeit zugänglich ist. Ich kann ​aus eige​ner Erfahrung bestätigen, dass Ingress dir eine ganz neues Erlebnis deiner Stadt bietet, bei dem du stundenlang mit kurz zuvor noch wildfremden Smartphone-Nutzern durch deine Stadt ziehst, um den öffentlichen Raum zu deiner Spielfläche zu machen—und um Level für Level in der Ingress-Hierarchie aufzusteigen.

7992 Kilometer in der Augmented-Reality bis zum Weltranglistenersten.

Früh am Morgen zieht Morka los—und sofort wird die Stadt um ihn herum zum Schlachtfeld. Prägnante Orte, wie Ornamente, historische Hausfassaden, Hügel, Statuen oder Graffitis verwandeln sich zu „Portalen" über die „exotische Materie" ins Urbane entweicht.

Das Ziel von Morka ist es, als Agent der „Enlightened" die Portale seiner Gegner der Resistance (blau) zu zerstören, mit seinen ‚Resonatoren' zu besetzen und diese Portale jeweils so zu verbinden, dass Straßen und Gebäude von Feldern überdeckt werden, deren Wert in gesammelten "Mind Units" bewertet wird.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Morka.

Morka spielt bereits seit dem Start von Ingress im Jahr 2012. Inzwischen hat er 7992 Kilometer in der Augmented-Reality zurückgelegt, 15794 Portale besucht, und 258063 Resonatoren zerstört. Sein längster Link von Portal zu Portal umfasste sagenhafte 594 Kilometer.

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„Ich bin immer sehr versunken in alles, was ich tue. Und das gilt auch für Ingress", fasste der Informatik-Ingenieur der Universität Sorbonne Nouvelle mir gegenüber sein enormes Engagement zusammen. Eines seiner Erfolgsgeheimnisse sei es dabei auch—anders als viele seiner Kollegen—in jeder Spielsituation ruhig zu bleiben.

Es gibt Agenten (wie sich die Spieler selbst nennen), die sich bei einem Angriff auf „ihre" Game-Portale IRL verfolgt fühlen und die ihr Handy frustriert auf den Boden schmeißen. Neben den zahlreichen wunderbaren Augmented-Ingress-Freunden habe auch ich schon einige solcher eher eigenartigen Agenten kennenlernen dürfen—ob ich nun ​in Wien oder in den Niederlanden gespielt habe.

Bild: Zen Lefort / MOTHERBOARD

Morka weiß, dass es auf die restlichen Stadtbewohner eher dadaistisch wirkt, wenn sich Ingress-Spieler versammeln und in das Spiel versunken nichts mehr zu bemerken scheinen. Wenn sie immer wieder den gleichen Weg auf und ab gehen und wegen der Sprünge ihrer GPS-Positionen eigenartige Körperhaltungen einnehmen.

Für den Kulturtheoretiker Paul Virilio ist auch der gebaute städtische Raum angesichts der Beschleunigung moderner Kommunikation längst zu einer elektronischen Topologie geworden—wäre Ingress für ihn der dystopische Ausdruck elektrifizierter Urbanität gewesen? Immerhin richten Tausende freiwillig stundenlang den Blick auf einen Display und teilen ihre Wege mit Google.

Mittlerweile stehe ich einfach früher auf, um vor der Arbeit zu spielen.

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127 Millionen Kilometer haben Ingress-Agenten in den vergangenen zwei Jahren bereits zurückgelegt. Wie viele Spieler aktiv sind, ist zwar unklar, aber bekannt ist, dass das Gratisspiel bereits über acht Millionen mal für iPhone und Android heruntergeladen wurde.

Für zahlreiche Ingress-Spieler ist die Stadt aus  ​Fleisch und Stein, wie sie der Stadtforscher Richard Sennett nennt, längst überlagert von digitalen Imprägnierungen. Die beiden Nerd-Armadern haben mittlerweile über drei Millionen Portale weltweit errichtet.

Für Morka ist Ingress vor allem auch ein soziales Spiel, wie er mir gegenüber immer wieder betonte. Ich habe mich mit ihm darüber unterhalten, wie er es geschafft hat, zum Weltranglistenersten zu werden, wie sich Teamwork in der Augmented Reality organisieren lässt und wie zwei Jahre Ingress sein Leben in der französischen Hauptstadt verändert haben.

Motherboard: Wie viele Stunden Ingress spielt du momentan, um deine Spitzenposition zu verteidigen?

Morka: Ich spiele mindestens fünf Stunden am Tag. Morgens spiele ich vor der Arbeit. Früher habe ich dafür einfach den Arbeitsweg genutzt, aber mittlerweile stehe ich einfach früher auf, um dann direkt zu spielen, um viertel vor sieben gehe ich meist los. Zur Mittagszeit spiele ich weniger, aber am Abend bin ich dann wieder viel unterwegs.

Ich kann unmöglich abschätzen, wie viel Lebenszeit ich insgesamt schon für das Spielen aufgewendet habe. Aber was ich sagen kann ist, dass ich zwar weniger zu Hause am PC sitze, aber auch weniger Zeit mit anderen Hobbys wie Fotografieren oder Konzert besuchen verbringe.

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An dem Ort hatten sie die Enlightened in Paris ihre ersten Portale des höchsten Levels aufstellen können, die es braucht, um an entsprechende starke Waffen und Items zu kommen. Das Jubiläum feierten sie, indem sie mit grüner Folie die Beleuchtung änderten. Laut Morka ist „die Place de Victoire mehr als Symbol für uns.

Hier hatten die Enlightened in Paris ihr erstes Portale des höchsten Levels aufstellen können, die es braucht, um an entsprechend starke Waffen und Items zu kommen. Das Jubiläum feierten sie, indem sie mit grüner Folie die Beleuchtung änderten. Laut Morka ist „die Place des Victoires mehr als nur ein Symbol für uns." Bild: Morka

So sieht es aus, wenn sich die Ingress-Spieler zu Hause versammeln und weitere Aktionen in Paris planen.

So sieht es aus, wenn sich die Ingress-Spieler zu Hause versammeln und weitere Aktionen in Paris planen. Bild: Morka.

Morka und sein Team bei einer Aktion, bei der sie eine Nacht durchgespielt haben.

Morka und sein Team bei einer Aktion, bei der sie eine Nacht durchgespielt haben. Bild: Morka.

Gibt es Schlüsselszenen vom Anfang deiner Laufbahn, an die du dich heute noch erinnerst?

Ich kann mich an alles zurückerinnern. Die Spieler, die mich in den Anfangstagen begleitet haben, sind für mich fast wie eine Bibel des Spiels. Als ich das erste Mal Ingress gestartet habe, war ich im Büro. Ich fand es großartig, auf diese Weise herauszukommen, dass ich Punkte der reellen Welt miteinander verbinde und, dass ich ganze Zonen grün überdecken kann.

Ich glaube nicht, dass ich meine Ingress-Aktivitäten jemals reduzieren werde.

Es gab schon recht viele Portale im Umfeld meiner Uni, aber überhaupt nichts bei mir zu Hause. Ich erinnere mich deshalb ganz deutlich an das erste Portal meines Viertels: Es war das Rathaus des 13ten Bezirks. Eines Abends wurde es blau und ich bin schnell raus gerannt, um es für meine grüne Mannschaft zurückzuerobern. Dort habe ich einen anderen Spieler getroffen, der das gleiche wollte. Wir haben uns mehr als eine halbe Stunde lang im Regen unterhalten. Er spielt noch immer und war einer der ersten Highlevel Spieler meiner Fraktion in Paris.

Diese spontanen Begegnungen sind auch mir ​in meinen aktivsten Ingress-Zeiten ständig passiert. Hast du da auch unangenehme Bekanntschaften gemacht?

Ja, Leute die Ingress spielen sind eben reale Menschen, also gibt es die Verrückten und die Komischen, die Angeber und die großen Trolls. Aber das gehört dazu. Ich ignoriere einfach diejenigen, die ich nicht mag—wie im 'richtigen' Leben.

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Ansonsten wirkt die Ingress Community ja auch recht eingeschworen.

Ja, sie wächst immer mehr zusammen. Um zu gewinnen, ist Teamplay nötig: Du musst zusammenarbeiten, um stärkere Portale zu bauen, um längere Links zu ziehen und, um höhere Items zu erhalten.

Der Zusammenhalt in der Ingress-Welt geht aber auch weit über das Spiel hinaus. Es gibt Spieler, die dank dieser Begegnungen zu neuen Jobs gekommen sind. Es haben sich Paare gebildet, und zahllose Freundschaften entwickelt. Ich treffe mich mit meinem Team oft auch außerhalb des Spiels—und ja klar, trotzdem liegen dabei die Handys auf dem Tisch und wir haben unsere Scanner eingeschaltet, mit denen wir prüfen, ob feindliche Portale übernommen wurden.

Was waren eure bisher spektakulärsten Aktionen?

Unser erstes Feld über Paris zu legen war cool. Es war ziemlich kompliziert aber auch intensiv, dieses riesige Feld zu erobern. Ich habe auch schon öfter 24 Stunden lang mit anderen Spielern gespielt. Das war großartig, anstrengend und spannend zugleich. Wie wir das gemacht haben? Redbull, Fahrrad, und sorgfältige Vorbereitung.

Redbull, Fahrrad und sorgfältige Vorbereitung.

Und da wäre noch unsere jüngste Aktion ‚Green Paris'. Dazu haben wir mehr als 200 Agenten aus ganz Europa in Paris versammelt, und sich dann gemeinsam in Teams so koordiniert, dass wir noch einmal eine riesige Fläche erobern. Wir haben die bisher weltgrößte Achterfarm aufgestellt, mit mehr als 5000 grünen Portalen in Paris.

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Ein kollektives Team Green vor dem Louvre. Bild: Morka

Du warst am vergangenen Wochenende auf der Anomalie in Barcelona, wo ​Resistance und ​Enlightened in einer großen Schlacht aufeinander treffen sollen. Bist du für Ingress schon auf viele solcher Wettbewerbe gereist?

Ja. Ich liebe die Stimmung auf diesen Veranstaltungen. Dass die Spieler sich in großen Teams mit ihren Farben organisieren und mit den Fahnen ihrer Stadt in die Augmented Reality einer anderen Stadt reisen. Das spielerische Nivau ist allerdings meist eher nicht so hoch—du schießt quasi ohne zu überlegen. Oft sind die zwei Lager auch unausgewogen anwesend und insofern kannst du danach kaum einen fairen Leistungsvergleich anstellen.

Reizt es dich eigentlich, jetzt wo du Weltranglistenerster bist, einmal die Fraktion zu wechseln?

Hm, ja das würde ich liebend gerne einmal probieren. Aber nicht um einer von den Blauen zu werden. Ich liebe meine Farbe, mein Team, meine Freunde. Einfach nur der spielerischen Herausforderung wegen. Aber ich bin kein Verräter.

Im Spiel hast du jetzt alles erreicht. Glaubst du, dass du noch lange spielen wirst?

Ich glaube nicht, dass ich es schaffen werde, meine Ingress-Aktivitäten jemals zu reduzieren. Es ist schwierig aufzuhören, aber nicht ganz unmöglich. Ich liebe es, mich mit Ingress durch die Stadt zu bewegen, Menschen kennenzulernen und neue Augmented-Reality-Orte zu entdecken.

Dieser Artikel erscheint als Teil unserer MOTHERBOARD-Serie ​Beton-Hacker, in der wir über Menschen und Projekte berichten, die ihre eigenen Versionen von Urbanität und vom Leben in den Metropolen der Zukunft verfolgen.

Wenn ihr weitere Beton-Hacker kennt, über die wir auch berichten sollten, könnt ihr uns gerne eine E-Mail an motherboard@viceland.de schreiben.