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Dieses IT-Schulbuch bringt bayerischen Schülern Computer-Skills von 2004 bei

„In diesem Buch brauchen E-Mails mehrere Minuten, außerdem es gibt noch Diskettenlaufwerke und Audio-CDs.“
​Das Buch ist ungefähr so alt wie diese Computer. Bild: ​WikipediaMichael Surren | CC BY-SA 2.0

Wie vermittelt man Informatik in der Schule? Diese Frage ist sicher nicht einfach und allgemein zu beantworten, da die Schüler nicht nur völlig unterschiedliche Vorkenntnisse ​mitbringen, sondern sich auch das Fach selbst in ständiger Veränderung befindet.

Gehen wir das Thema also anders an und stellen die Gegenfrage: Wie sollte man Informatik nicht vermitteln? Die Antwort darauf liefert das Bundesland Bayern mit dem Einsatz des Schulbuchs „Ikarus Informatik 6/7"—herausgegeben vom Oldenbourg Verlag im Jahr 2004, korrigierte Fassung 2005. Das sind 10 Jahre Abstand, die in Internetzeit gerechnet leider fast einem halben Leben gleichkommen.

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Schon der thematische Überblick der Zeitleiste „Meilensteine der Informatik" beeindruckt mit einem resolut gesetzten Endpunkt der technischen Entwicklung: 1993—„Öffnung des Internet für die Allgemeinheit". In den folgenden 20 Jahren scheint sich dieser Zeitleiste zufolge in der Informatik nicht allzu viel Bahnbrechendes mehr ereignet zu haben. Erstaunlich eigentlich, wirft man einen scheuen Blick auf die heutige Welt, das Internet der Dinge, die Allgegenwart von Apps, die Social-Media-Kultur, oder die informationspolitischen Entwicklungen aus Bereichen wie Netzpolitik und Überwachung.

Seine wahre Identität hinter einem Pseudonym zu verbergen ist feige.

Dass das Buch in seinen Grundlagen der Informatik Hermann Holleriths Stanz- und Zählmaschinen erwähnt, ist wunderbar und sicher ein wichtiger Bestandteil der IT-Geschichte, doch leider sind viele Themen inzwischen schlicht überholt. So hält das vielversprechend überschriebene Kapitel „Informationsdarstellung mit Grafikdokumenten" zwar durchaus, was es verspricht, arbeitet aber leider mit einem Werkzeugkasten der mit modernen Tools wie Paintbrush oder Paint.NET, die es sogar als Freeware gibt, keine Erfahrung hat.

Benutzt heute eigentlich noch jemand CorelDraw, Netscape Communicator oder StarDraw? Nicht zu vergessen, dass Microsoft den ebenso geliebten wie verhassten Internet Explorer mittlerweile eingestampft hat. Außerdem fehlt die nicht unwichtige Information, über lizenzfreie Opensource-Software wie zum Beispiel Linux oder Mozilla, die den Schülern möglicherweise sogar die Lust auf selbständiges Programmieren nahe bringen könnte.

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Der eindringliche Hinweis „Benutze deinen wirklichen Namen, kein Pseudonym!" auf Seite 108 klingt im Zuge von Snowden und jeglicher NSA-Enthüllungen nach beißender Ironie auf Kosten der Lernenden. Die Begründung für den Mut zur Offenlegung der eigenen Persönlichkeit lautet: „Seine wahre Identität hinter einem Pseudonym zu verbergen ist feige. Du sollst nur Dinge im Internet tun und 'sagen', zu denen du auch ganz offen unter deinem richtigen Namen stehst."

Der Klarnamenzwang ist ein alarmierend naiver Ratschlag, der zwar von einer Warnung vor gefährlichen Chatrooms relativiert wird, jedoch nicht ohne weitere Erklärungen, zumindest einen ambivalenten Hinweis auf die Gefahren des Cyber-Mobbings und Einschränkungen abgedruckt werden sollte. Es ist nahezu fahrlässig, Schülern der 6. und 7. Klasse solch ein blindes Vertrauen gegenüber dem World Wide Web nahe zu legen.

An Stelle solcher Ratschläge, die auch Karl May Winnetou bei Der Schatz im Silbersee hätte mitgeben können, wären eher ein paar Grundkenntnisse über​ Kryptographie und ​Mailverschlüsselung angebracht. Doch diese Themen standen im Jahr 2004 noch deutlich weiter unten auf der Agenda.

Kryptologe Bruce Schneier: „​Alle Systeme sind unsicher bis zum Beweis des Gegenteils."

„In diesem Buch brauchen E-Mails mehrere Minuten, da gibt es Diskettenlaufwerke und Audio-CDs" echauffiert sich die Sandra Schön von der Salzburg Research Forschungsgesellschaft in ihrem ​Blog. Vor kurzem kam nun auch ihre jüngere, 12-jährige Tochter in den zweifelhaften Genuss der Lektüre.

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Das Buch wird an bayerischen Gymnasien eingesetzt und mindestens bis August 2016 auch noch weiterhin verwendet. Erst dann sollen für die 5. Klassen neue Lehrpläne verabschiedet werden, die sich gerade in der Entwicklung befinden, erklärte mir ein Mitarbeiter des Oldenburg Verlags als Hintergrundinformation zum Schulsystem. „Vorher werden auch die Verlage nicht mit neuen Lehrwerkskonzepten und etwaigen Konzeptionen antreten können." Die 6. Klassen müssen noch ein Jahr länger warten, bis August 2017.

Im Kapitel „Elektronische Nachrichten" wird der unterschiedliche Aufbau von Brief und E-Mail verglichen, obwohl ein 12-jähriges Kind wohl nicht mehr allzu oft in die Versuchung kommt, einen offiziellen Brief zu schreiben und ihm eine Mail wohl kaum genauer erklärt werden muss. Genauso wie folgende Grafik eines Vergleichs von Brief und E-Mailadressen zu Gunsten von Social Media-Kommunikationsstrategien wie Postings, Shares, Tweets oder anderen Nachrichtenfunktionen den Platz räumen könnte.

Auch eine solche Einladung (die natürlich nur als Beispiel für verschiedene Formatierungstechniken gelten soll), zaubern 6.-Klässler heute wohl aus ihrer linken Hosentasche und schicken noch ein kleines Youtube-Video inklusive witziger Gifs, virtueller Sprechblasen und Kinoabspann hinterher.

Das Fach Informatik geht weit über die Benutzung von Bildbearbeitungsprogrammen, Ordnerstrukturen, Textverarbeitung und Algorithmen hinaus. Doch wie soll das Thema in all seinen Aspekten beleuchtet werden, wenn das Schulbuch gerade einmal zwei Jahre jünger ist als seine heutigen Leser, die zum Teil seit ihrem sechsten Lebensjahr ein Handy besitzen und in ihrer Freizeit bei Facebook abhängen oder virtuelle Ponys versorgen?

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So liegt es auf der Hand, dass den bei Ikarus Informatik 6/7 angesprochenen Aspekten des Urheberrechts die aktuellen Diskussionen auch zu diesem Thema vollständig fehlen, kein Wort über Netzneutralität verloren wird und Whistleblower auch noch gar nicht existieren.

Sandra Schön argumentiert in ihrem Blog, Informatik brauche kein Buch genauso wenig wie die Fächer Sport oder Kunst. Sie schreibt: „Wenn ich mir das Buch ansehe, verstehe ich sehr gut, dass meiner Großen völliges Unverständnis der Mitschülerinnen entgegen schlägt, wenn sie sagt, dass sie gerne programmiert und Spaß an Technik hat."

Ikarus Informatik 6/7 hat im Prinzip schon recht mit seinem Fazit auf dem Buchrücken, es ist leider nur ein zittriger Greis in Ranzen von 12-Jährigen.