Das kurze Leben eines Prototypen
Die Entnahme Mitte Januar durch einen Body-Modification-Künstler. Alle Bilder soweit nicht anders angegeben: Mit freundlicher Genehmigung von Tim Cannon.

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Das kurze Leben eines Prototypen

Der DIY-Cyborg Tim Cannon musste seinen Open-Source-Chip nach drei Monaten wieder aus seinem Arm deinstallieren. Ich habe mit dem Bio-Hacker über den Heilungsprozess und seine nächsten Pläne gesprochen.

Für Tim Cannon sind seine körperlichen Grenzen und auch der Tod nichts anderes als Fragen der technischen Machbarkeit. Um zu beweisen, welche Selbstaufrüstungen heute schon möglich sind, hat sich der Bio-Hacker deshalb im vergangenen Oktober einen Chip implantieren lassen, der ihn zum weltweit  ersten DIY-Cyborg machte.

Der Open-Source-Chip Circadia ist letztlich vor allem ein datensammelndes und blinkendes Fieberthermometer, das im Unterarm getragen wird. Die Cyborg-Chip-Installation bei einer Body-Modification-Konferenz war für das Bio-Hacker-Kollektiv Grindhouse Wetware vor allem ein erster  Machbarkeitsnachweis. Tim selbst bezeichnet ihre Arbeit als „praxisorientierten Transhumanismus."

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Weder Bakterien noch batteriesäure sind in das Testsubjekt übergelaufen.

Der (Makro-)Chip hat jedoch letztlich kaum länger als drei Monate in Tims Unterarm überlebt. Wochenlang war das Implantat problemlos verheilt und hatte sich immer tiefer unter die Haut gesenkt. Dann jedoch stellte die Bioingenieurin des Teams bei einer Routineuntersuchung mögliche Verformungen in der Batteriehülle fest. Wie Tim mir kürzlich in Berlin erzählte, sah es plötzlich so aus, als könnte ein von manchen befürchtetes Horrorszenario tatsächlich eintreten: Sollte die Chip-Batterie platzen oder es einen Schnitt in der Silikonverkapselung gegeben, hätte das tödliche Folgen haben können.

Die grobe Narbe, die der Eingriff des Body-Modification-Artist Steve Haworth hinterlassen hatte, war zwar schon nach wenigen Wochen kaum noch zu sehen, aber ein Einsickern der Batteriesäure in Tims Körper war ein unkalkulierbares Risiko. Der Chip musste sofort deinstalliert werden.

Glücklicherweise zeigte sich nach der Entnahme, dass die Kapselung der Batterie intakt war und lediglich von außen instabil und vergrößert aussah. Die Bio-Hacker hatten bewiesen, dass die Implantation eines günstigen, Open-Source-entwickelten Chip möglich war. Nach der Entnahme fuhren die Grinder mit der Entwicklung der nächsten Cyborg-Devices fort.

Nachdem ich bei der Operation in Essen dabei gewesen war, stand ich immer mal wieder mit Tim in Kontakt. Ich wusste, dass er mit dem Chip sowohl sicher durch den Check-In vor seinem Heimflug und bei der Einreise in die USA gekommen war und auch, dass der Heilungsprozess zwar langsam, aber insgesamt positiv verlief. Mit Bildern, die er im Firmen-Blog postete (siehe unten), ließ er auch die globale Grinden Community an dem Einwachsen des Chips teilhaben.

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Wir arbeiten schon an einem Kompass, den du im Handrücken trägst

Aber erst als Tim nun wieder in Deutschland war, hatte er die Zeit, mir ausführlicher von seinem dreimonatigen Dasein als Circadia-Prototyp zu berichten. Die meiste Zeit unseres Treffens im c_base, wo sich auch der  Berliner Cyborg e.V. regelmäßig trifft, erzählte Tim jedoch von den nächsten Entwicklungen seiner Garagenfirma Grindhouse Wetware, ihrem neuen Investor und den anstehenden Implantaten—denn selbstverständlich war der Circadia-Chip für Tim nur ein bescheidener Anfang.

Wurde der Circadia-Chip, den du dir in Essen eingepflanzt hast, schon anderen Leuten implantiert?

Nein, ich bin der einzige Prototyp bisher. Aber ich muss auch ehrlich sagen, dass ich selbst nicht möchte, dass diese erste Version jemand anderem implantiert wird. Ich werde für immer der einzige Träger des Circadia 1.0 bleiben.

Wie hat die Biohacker-Szene auf deine Implantation und eure Entwicklungen von Grindhouse Wetware reagiert?

Ein paar Dutzend Leute haben uns in den Wochen und Monaten nach dem Circadia-Einbau kontaktiert und meinten, dass sie einen Chip sofort implantiert bekommen wollen. Und eine noch größere Menge von Interessenten von überall auf der Welt meinte, dass sie das Teil haben wollen, sobald es schmaler ist. Damit hatte sich unsere Frage, ob es einen Markt für diesen Chip gäbe, auf jeden Fall geklärt.

Zu einem Typen, der besonders hartnäckig war, meinte ich, dass die Größe des Chips einfach enorm sei. Er meinte nur, mir ist die Größe egal. Ich will das verdammte Teil haben.

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Fühlst du dich besser ohne den Chip im Arm?

Ehrlich gesagt vermisse ich das Gefühl und das Wissen um den Circadia in meinem Arm. Aber natürlich geht Sicherheit vor. Ich habe mir in der Zwischenzeit außerdem das neuentwickelte, nur 70 Euro teure Magnetimplantat von Amal Graafstra einpflanzen lassen (und das ganze live im Netz gestreamt), damit kann ich mich mit dem Gefühl eines sechsten Magnetsinns trösten.

Wie geht es weiter mit dem Circadia?

Ich arbeite mit meinen Kollegen von Grindhouse schon an den nächsten Chips und Geräten. Inzwischen haben wir sogar einen Investor. Wir basteln momentan an zwei deutlich kleineren Versionen des Circadia und mit deutlich kleineren Batterien.

Nachdem ich zurück in den Staaten war, habe ich mich einige Wochen später auch mit Steve Haworth [der mir den Chip eingesetzt hat] getroffen. Es war cool, dass eine solche Body-Modification-Legende wie Steve zu mir sagte: Ich will, dass ihr ein spezielles Gerät für mich entwickelt. Es soll einfach nur von unten die Haut beleuchten und aufladbar sein.

Die Mini-Version des Circadia 2.0 wird sich also speziell an die Body-Mod-Community richten, und einfach nur LED-Leuchten haben. Sie wird extrem energieeffizient sein—wahrscheinlich kann sie bis zu fünf Jahre von einer einzigen Batterieladung betrieben werden.

Das neue Labor der Bio-Hacker von Grindhouse Wetware, dass sie im Januar bezogen.

Habt ihr noch andere Chips geplant?

Ja, wir entwickeln gerade den North Star. Die Laborphase und die Arbeit an den Schaltkreisen sind bereits so gut wie abgeschlossen. Der Chip wird im Handrücken eingepflanzt und hat eine ganze Reihe von Features: Eines davon ist, dass du ihn aufleuchten lassen kannst und er dank eines Kompasses automatisch blinkt, wenn er Richtung Norden zeigt.

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Außerdem hast du mit dem North Star einen Beschleunigungssensor und einen Neigungssensor in deiner Hand, damit kannst du praktisch alles anstellen. Dein Telefon wird die Gesten, die du mit der Hand in der Luft machst, erkennen können. Du hast ganz neue Steuerungsmöglichkeiten und dein Körper wird zu einem Teil des Internets der Dinge.

Ich liebe es, mit neuen Formen zur Interaktion mit unserer Umwelt zu experimentieren

Es wird einen Modus zur Gestenaufzeichnung geben und du kannst alle möglichen Gadgets im Handumdrehen ansteuern: Die Lautstärke deines Fernsehers und wenn du dein Haus entsprechend nachgerüstet hast auch dein Türschloss. Du kannst dem North Star auch geheime Gesten beibringen, die nur du und der Chip kennen.

Der Chip ist eine Hommage an den South Star von Lepht Anonym. Außerdem wird auch hier die Batterie diesmal deutlich kleiner sein.

Bist du stolz auf die Operation und den Eingriff?

Ja, absolut. Es fühlt sich gut an, ein Prototyp zu sein und das ganze zusammen mit unserem Grindhouse Team geschafft zu haben. Ich liebe es einfach mit neuen Formen zu experimentieren, mit denen wir uns selbst in unserer physischen Umwelt verkörpern, verorten und mit ihr interagieren können. Außerdem haben all die Rückmeldungen, die wir erhielten, definitiv die Mühen und Schmerzen wett gemacht, die es gekostet hat, sich das Ding einpflanzen zu lassen.

Was sagen denn die Leute, die Chips bei euch bestellen, wofür sie diese verwenden würden?

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Diabetiker wollten damit ihren Blutzuckerspiegel überwachen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie unpraktisch es sein muss, ständig ein Blutzuckermessgerät dabei haben zu müssen.

Es gab Frauen, die sich bei uns gemeldet haben, die damit ihren Fruchtbarkeitszyklus überwachen wollten. Einer hatte eine Krankheit, die ihn zwingt den Sauerstoffpegel seines Blutes zu kontrollieren. Wieder jemand anders wollte damit seine  Narkolopise besser in den Griff bekommen, bei der der Körper bestimmte Anzeichen vor einem Anfall zeigt.

Wie reagieren die Leute auf dich? Fühlst du dich als DIY-Cyborg manchmal nicht ernst genommen oder ausgegrenzt?

Ich glaube, dass Typen wie Steve Haworth in die Geschichte eingehen werden. Das was solche Leute machen ist zwar merkwürdiger und eigenartiger als Science Fiction, aber manchmal ist es gut, Teil einer Gegenkultur zu sein—im Untergrund zu entwickeln. Das schärft deinen Blick. Und ob du es glaubst oder nicht, wir haben inzwischen sogar einen Investor für die Arbeit von Grindhouse Wetware gewinnen können (lacht).

Glaubt er, dass Implantable-Tech der Wearable-Folge-Hype wird oder warum ist er bei euch eingestiegen?

Wir haben uns jedenfalls nicht aktiv auf die Suche nach Kapitalgebern gemacht. Er hat sich als ehemaliger Mitarbeiter der NIH (nationales Gesundheitsinstitut der USA) bei uns gemeldet. Seine Familie stammt aus Indien und hat dort im Gesundheitssektor gearbeitet. Ich glaube, dass er einfach von unserem Ansatz begeistert war, nach dem er dort die extreme Zwei-Klassen-Medizin miterlebt hattte. Er kann sich das enorme Potential futuristischer, individualisierter Medizin-Gadgets vorstellen.

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Wir haben ihm gesagt, dass er bei uns an der falschen Adresse ist, wenn er nach sicheren Profiten sucht. Aber wir können natürlich ungeahnte Möglichkeiten für die Zukunft eröffnen. Die meisten Start-ups würden seine Unterstützung wohl kaum als ernsthaftes Investment bezeichnen, aber für uns sind rund 23.000 Euro schon mehr als genug. Wir haben gelernt, günstig zu arbeiten.

Der Circadia-Chip nach der Entnahme.

Nicht wenige halten eure Entwicklungen für zu gewagt. Was sagst du denen, die eure Form von Cyborgism für zu gefährlich oder für dystopisch halten?

Wir haben schon kurz nach der Implantation mit einem  langen Blog-Post auf die vielen Kommentare reagiert, die meinten, dass wir lebensmüde oder verrückt seien. Meine Frau stand dem Eingriff auch immer skeptisch gegenüber. Aber nach der Operation hat sie einen von Stolz erfüllten Blog über mich als Cyborg geschrieben. Sie leistet auch einen unerlässlichen Beitrag bei Grindhouse Wetware.

Eine andere allgemeine Kritik kommt von Leuten, wie der  US-Initiative Stop The Cyborgs. Wir haben sie kontaktiert und sie konnten unseren Standpunkt durchaus verstehen. Sie meinten, dass sie einfach um die Freiheiten besorgt sein, die durch bestimmte technische Entwicklungen immer weiter eingegrenzt werden. Ich haben ihnen erklärt, dass wir selbst paranoide Liberitäre sind, die sich um die konstante Überschreitung unserer Privatsphäre ebenfalls Sorgen machten. Ich glaube sie haben verstanden, dass es uns erstmal mehr um das Entdecken und Basteln als das großangelegte Datensammeln ging.

Aber andererseits sind wir ja nun wirklich nicht die einzigen, die das Datensammeln im Alltag vorantreiben. Uns geht es mit dem Open-Source-Ansatz jedoch darum, eine gewisse Kontrolle über die Daten zu bewahren. Wenn du dir Bewegungen wie Quantified Self anschaust, dann siehst du, dass individualisierte Big-Data-Ansätze in großen Schritten den Mainstream erreichen. Aber bei den meisten Apps ist für den Nutzer nicht ersichtlich, was mit seinen Daten passiert.

Neulich stand eine Zeugin Jehovas bei uns vor der Tür. Wie du dir denken kannst, halte ich nicht besonders viel von Religionen. Die Frau hatte sich nicht nur mit Prospekten sondern sich selbst auch mit dem Trainings-Armband Fitbit ausgerüstet. Ich meinte nur zu ihr: „Ich hoffe, du bist fit und gut gedehnt, bevor du all die Psycho-Gymnastik aufführst mit der du hier von Haus zu Haus ziehst."

Vielleicht ist Cyborgism doch nichts für jedermann (lacht).

Ich habe ihr dann jedenfalls die Tür vor der Nase zugeschlagen.