Ein heißer Abend in Buenos Aires, der beliebte Chacabuco Park ist voll mit Leuten, die Sport machen oder einfach nur entspannen. Unter einer mit Graffitis übersäten Schnellstraßenbrücke treffen sich einmal in der Woche die unterschiedlichsten Menschen, um die Milonga zu tanzen. Der argentinische Tanz enthält Elemente des Tango, ist aber schneller und weniger kompliziert. Die Treffen sind eigentlich nicht erlaubt, weil sie gegen die derzeit herrschenden Corona-Vorschriften verstoßen. Dennoch nehmen immer mehr Menschen teil.
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Eine grüne Markierung auf dem Boden steckt die Tanzfläche ab, auf der der 50-jährige Walter die acht Milonga-Grundschritte immer wieder durchgeht. Seine Schlaghose und seine Tanzschuhe gleiten förmlich über den Asphalt. Es ist zwar erst seine dritte Milonga-Stunde, aber weil Walter so ehrgeizig an die Sache rangeht, hat er die Grundschritte schnell gemeistert.Weil er eigentlich als Kampfkunstlehrer arbeitet, hat Walter kein Gramm Fett an seinem tätowierten Körper. Nachdem er zuerst mit der Lehrerin getanzt hat, steht er jetzt einer Frau gegenüber, die neu in der Gruppe ist, offensichtlich aber schon Milonga-Erfahrung hat. Wenn man sich die Intimität der beiden Tanzpartner anschaut, könnte man denken, dass sie sich schon seit Jahren kennen. Als das Lied vorbei ist, suchen sie sich neue Partner.
Tito, 70 Jahre alt, hat sich extra für den Anlass ein frisch gebügeltes Outfit angezogen und fordert nun eine neue Frau zum Tanzen auf. Seit im September 2020 die erste Milonga-Stunde im Chacabuco Park stattgefunden hat, nimmt Tito regelmäßig teil. Er war sogar an dem Abend da, an dem alten Leuten wegen der drückenden Hitze eigentlich empfohlen wurde, zu Hause zu bleiben. "Für mich sind diese Treffen wie ein Lebenselixier", sagt er. Als Tango-Enthusiast nahm Tito 2018 sogar am World Tango Dance Tournament teil, einem argentinischen Tango-Wettbewerb, der jedes Jahr im August in Buenos Aires stattfindet.
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Titos Freund René kommt kurze Zeit später dazu. Er nimmt immer eine einstündige Busfahrt aus dem 30 Kilometer entfernten Berazategui auf sich, um im Chacabuco Park zu tanzen. Deshalb kostet er das Treffen auch voll aus.René fühlt sich laut eigener Aussage wie zu Hause, da er mehr als 20 Jahre lang im Chacabuco Park gearbeitet hat, bevor man ihm während der Pandemie gekündigt hat. "Ich habe zwar einen neuen Job, aber da mache ich immer um 17 Uhr Feierabend, um hier mittanzen zu können", sagt er. "Der Anfahrtsweg ist zwar ziemlich lang, aber was bleibt mir denn sonst? Wenn ich nach der Arbeit nach Hause gehe, sitze ich nur rum. Hier kann ich leben und bin glücklich."
Argentinien verhängte im März 2020 einen landesweiten Lockdown, der in Buenos Aires bis Juli anhielt. Unter den strengen Maßnahmen durften die Leute ihre Wohnungen nur verlassen, wenn es absolut notwenig war. Im September spazierten die Tango-Tanzpartner Juan Carlos und Valeria durch den Chacabuco Park, als sie spontan entschieden, einfach loszutanzen. Einige Leute machten direkt mit, die Tanzstunden im Park waren geboren. Später veranstalten andere Tanzgruppen in weiteren Teilen von Buenos Aires ebenfalls solche Milonga-Sessions.Fünf Monate nach diesem ersten Tanz finden die Milonga-Sessions jetzt jeden Dienstag, Donnerstag, Freitag und Samstag von 18 bis 22 Uhr statt. Die erste Stunde ist vor allem für die Anfänger vorgesehen, damit sie in Ruhe die grundlegenden Schritte lernen können. Es gibt auch nur einen Grund, eine Session ausfallen zu lassen: schlechtes Wetter. Inzwischen unterstützen andere Tanzlehrer die beiden Initiatoren, die genauen Zeiten und Details zu den Treffen findet man bei Facebook. Die meisten Teilnehmenden kommen aber nicht durch Social Media. Nein, es sind vor allem neugierige Passanten, die zufällig vorbeikommen und die Milonga ausprobieren wollen.
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"Es sind vor allem Anwohner über 40 dabei", sagt Valeria. "Sie umarmen uns und bedanken sich. Es ist so schön zu sehen, dass sie wieder Spaß mit ihren Körpern haben." Obwohl wir inzwischen genau wissen, wie sich COVID-19 überträgt, ist Valeria fest davon überzeugt, dass frische Luft und Gesellschaft die Immunsysteme der Session-Teilnehmenden stärken und die Infektionsraten senken können. "Das ist therapeutisch", sagt die Tango-Tänzerin.
Zum Glück sind es nur wenige, die diesen Quatsch glauben. Tanzen und Social Distancing ließen sich nicht vereinen, sagt Omar Viola. Er ist der Gründer von Milonga Parakultural, einer Organisation, die seit 21 Jahren Milonga-Abende in Buenos Aires veranstaltet. Als berühmter Vertreter der Szene habe er schon verschiedene Einrichtungen durch schwere Zeiten gebracht, aber die Pandemie sei anders: Social Distancing habe gerade oberste Priorität, so Viola."Ich halte es für keine gute Idee, Milonga-Stunden ohne die richtigen Voraussetzungen zu veranstalten – egal ob im Verborgenen oder offen als Protest", sagt Viola weiter. "Das gefährdet Leben. Wir müssen bedenken, dass sich die Szene auch aus vielen Risikopatienten zusammensetzt."Viola hat seine Clubs zum Milonga-Tanzen noch nicht wieder geöffnet, denn er wartet noch auf einen Konsens in Sachen Sicherheitsmaßnahmen. Die beiden größten Milonga-Vereine von Buenos Aires, die Asociación de Organizadores de Milongas und die Asociación de Milongas con Sentido Socia, haben seit dem Ausbruch der Pandemie keine Veranstaltungen mehr abgehalten, dafür aber eine Reihe an Vorkehrungen vorgeschlagen, die bei einer vorsichtigen Wiedereröffnung der Tanzlokale gelten könnten – darunter eine Registrierung aller Tanzenden, die regelmäßige Desinfektion der Tanzfläche, kürzere Stunden und eine ordentliche Lüftung. Die Behörden haben trotzdem noch kein grünes Licht gegeben. In den Parks gibt es solche Maßnahmen nicht: Alle, die Lust haben, können ohne Anmeldung mitmachen. Wenn jemand positiv auf Corona getestet wird, gibt es kein Sicherheitsnetz.
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Die Milonga entstand im 19. Jahrhundert und ist seitdem fest verwurzelt in argentinischen Community-Treffpunkten wie Clubs, Schulen und Vereinen. Über die Jahre haben jüngere Generationen das Interesse an dem Tanz immer mehr verloren, aber in einigen Bezirken von Buenos Aires, etwa San Telmo oder La Boca, ist er immer noch beliebt. In anderen hippen Gegenden wie Palermo oder Villa Crespo werden allerdings Milonga-Sessions veranstaltet, an den auch wieder jüngere und queere Menschen teilnehmen. Die traditionelle Rollenverteilung beim Paartanz wird dabei oft über den Haufen geworfen.Mehr als 800.000 der 2 Millionen Corona-Fälle Argentiniens wurden in Buenos Aires registriert. In der argentinischen Hauptstadt wohnen auch gut ein Drittel der Bevölkerung des südamerikanischen Landes. Zudem hat fast die Hälfte der Einwohner von Buenos Aires während der Pandemie an Einkommen verloren. In diesem Klima der Unsicherheit und Verzweiflung sind die eigentlich untersagten Milonga-Sessions für viele der Teilnehmenden eine willkommene Abwechslung – eine Abwechslung, die mit einem hohen Risiko verbunden ist.