Das Klügste, was wir bis jetzt zum Referendum in der Türkei gelesen haben
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Das Klügste, was wir bis jetzt zum Referendum in der Türkei gelesen haben

Damit ihr mitreden könnt.

Jetzt ist es amtlich: 51,3 Prozent der Türken haben für die große Verfassungsreform gestimmt. Überraschend knapp, wenn man bedenkt, dass der Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Monaten für ein "Ja" trommelte und so ziemlich alle rhetorischen Register ("Nazi-Terroristen!") gezogen hat, um seine Anhänger aufzuputschen.

Trotzdem wird die neue Verfassung in Kraft treten, und Erdoğan wird mehr Macht bekommen, als in der türkischen Republik je für den Präsidenten vorgesehen war. Er übernimmt zum Beispiel sämtliche Funktionen des Ministerpräsidenten (der wird einfach komplett abgeschafft), er wird Minister berufen und entlassen können, ohne auf das Parlament warten zu müssen, er wird per Dekret regieren und Verfassungsrichter direkt ernennen. Erdoğan hat bereits angekündigt, erstmal den Ausnahmezustand zu verlängern und dann die Todesstrafe wieder einzuführen.

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US-Präsident Trump hat seinem Kollegen Erdoğan schon zum Sieg gratuliert. Im Rest der westlichen Welt wird das Ergebnis so verstanden, dass sich die Türkei nun endgültig davon verabschiedet hat, Werte wie Demokratie und Menschenrechte zu achten. Da das Ergebnis so knapp war und es zahlreiche Unstimmigkeiten gab, will die Opposition in der Türkei das Ergebnis nun annullieren lassen.

Aber was bedeutet das wirklich? Und wie ist das Ergebnis zustande gekommen? Damit ihr wisst, was passiert, haben wir euch eine Auswahl der besten Kommentare und Analysen zu der Situation zusammengestellt – die Lage erklärt von Menschen, die das besser können als wir:

Zum Wahlkampf

Um zu wissen, wie wir dahin gekommen sind, muss man verstehen, was Erdoğan und seine AKP im Vorfeld für eine Show abgezogen haben. Die Rhetorik geriet völlig außer Kontrolle ("Wer mit 'Nein' stimmt, ist ein Terrorist!"), der gesamte Staatsapparat wurde für die "Ja"-Kampagne mobilisiert und die größtenteils vom Staat kontrollierten Medien ließen die Gegner kaum zu Wort kommen. Das alles hat Semih Idiz für die Analyse-Seite Al-Monitor in diesem Artikel sehr gut zusammengefasst. Die Wahlbeobachter von der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, teilen die Einschätzung und haben in einem offiziellen Statement angeprangert, dass das Referendum unter "ungleichen Bedingungen" stattgefunden habe.

Wurde bei der Wahl betrogen?

Schon während der Auszählung der Stimmen erhoben die Gegner Erdoğans den Vorwurf, bei der Wahl werde betrogen. Einmal, weil die die türkische Wahlkommission mitten in der Auszählung entschied, ab sofort auch Stimmzettel ohne Amtssiegel zu zählen, obwohl das Gesetz das eigentlich verbietet. Gut zusammengefasst hat die Vorwürfe der Tagesschau-Faktenfinder.

Bei Türkei-Kennern macht gerade auch dieser Blog-Eintrag eines Stockholmer Wirtschaftsprofessors die Runde. Der beschäftigt sich mit dem bizarren Ergebnis in den südöstlichen Gebieten der Türkei, aus denen enorm viele "Ja"-Stimmen kamen, obwohl das genau die Gebiete sind, deren Bürger noch nie mehrheitlich zu den AKP-Unterstützern gezählt haben – vor allem, weil dort viele Kurden leben, die der türkischen Regierung kritisch gegenüberstehen. Es sieht also so aus, als hätten ausgerechnet die Gegenden mit den erbittertsten Erdoğan-Gegnern pünktlich zum Referendum ihre Meinung geändert. Oder da stimmt irgendetwas nicht.

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Was jetzt auf die Türkei zukommt

Fast alle Beobachter sind sich einig, dass Erdoğan nicht wirklich Grund zum Feiern hat, weil der Wahlsieg so verdammt knapp war. "Man konnte den Gesichtern von Erdoğan und seiner Nächsten während der Siegesrede ansehen, dass sie mit dem Ergebnis nicht glücklich waren", schreibt Murat Yetkin von der türkischen Hürriyet Daily News. Das Ergebnis sei einfach zu knapp, um große Schritte zu legitimieren.

"Erdoğans Sockel ist höchst bröckelig", stimmt auch Çiğdem Akyol in der Zeit zu und warnt, dass gerade das für seine Gegner noch gefährlicher sein könnte. Auf Al-Monitor erklärt Barin Kayaoglu , warum Erdoğan sich wahrscheinlich gerade Sorgen um seine Stammwähler in den großen Bevölkerungszentren macht, denn das knappe Ergebnis bedeutet, dass eben nicht alle AKP-Wähler für "Ja" gestimmt haben.

Bei Spiegel Online ist Maximilian Popp überzeugt, dass wir gerade das "Ende der türkischen Republik" erlebt haben: "Es handelt sich hierbei nicht nur um eine Verfassungsreform, wie die türkische Regierung behauptet, sondern um eine Revolution, einen Putsch von oben, der die Demokratie hinwegfegt und die Türkei in einen Ein-Mann-Staat verwandelt."

"RIP Turkey, 1921 – 2017" heißt auch der sehr lesenswerte Essay des Nahost-Experten Steven Cook in Foreign Policy. Cook geht bis an die Anfänge der türkischen Republik und der AKP zurück, um zu erklären, dass die Türkei schon seit ihren Anfängen mit Autoritarismus zu kämpfen hat. Erdoğans Schritt ist also in gewisser Weise logisch – aber er schneidet der Türkei damit dauerhaft den Weg in eine echte Demokratie ab.

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Was das für Türken in Deutschland bedeutet

Eine andere Zahl, die am Sonntag die Runde machte: 63,1 Prozent der in Deutschland lebenden Türken haben mit "Ja" gestimmt. Ziemlich bald wurden die ersten Stimmen laut, die das als Beweis sahen, wie gründlich die Integration versagt habe. "Da ist Integration gescheitert, und die Schuld liegt nicht nur bei Deutschland", schreibt zum Beispiel Hasnain Kazim bei Spiegel Online.

Stimmt aber nicht, ruft da özgürüz, eine von türkischen Exil-Journalisten in Deutschland gegründete Plattform. In diesem Artikel dröselt Margherita Bettoni genau auf, dass die Mehrheit der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland gar nicht abgestimmt habe, was wohl eher darauf hindeutet, dass sie sich gar nicht so sehr für die Türkei interessieren.

Wirklich mit "Ja" gestimmt haben deshalb eigentlich nur 13,5 Prozent der türkischstämmigen Menschen in Deutschland. Also absolut kein Grund, nie wieder Döner zu essen.

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