Das Reisebüro der Facebook-Schleuser
„Fliegen Sie sicher und schnell nach Europa—kontaktieren Sie uns über Skype" Alle Bilder: Screenshots Facebook

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Das Reisebüro der Facebook-Schleuser

„Du bist schon Syrer, oder? Sonst organisiere ich dir zusätzlich zur Überfahrt noch einen Pass.“

Eine freie, glatte Straße schlängelt sich ungehindert in Richtung Horizont durch eine idyllische Waldlandschaft. Eine Luxusjacht gleitet mit blütenweißen Laken in den großzügigen Kojen über das Meer. Die Hand eines Weißen im Anzug streckt dem Betrachter einen Stapel nagelneuer europäischer Pässe entgegen.

Es sind Bilder, die man eher in Hochglanz-Touristenbroschüren vermuten würde; doch sie schmücken einen zentralen organisatorischen Dreh- und Angelpunkt des aktuellen Flüchtlingsstroms: soziale Medien.

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Um zu verstehen, wie die Schleuser-Reisebüros operieren, hat Motherboard sich in den vergangenen Wochen angeschaut, wie genau eine Flucht über Social Media-Seiten angepriesen und vorbereitet wird, wie eine Schleuserfahrt ausgehend von Facebook vom ersten Whatsapp-Kontakt bis zu gefälschten Papieren organisiert wird und wie Fluchtwillige sich in den zahllosen Angeboten zurechtfinden.

„Er hat gepostet, wann immer er ein Schiff hatte. Ich habe ihn dann in der Türkei zur Geldübergabe getroffen: 1500 Euro bis an die griechische Küste."

Im Zuge unserer Recherche haben wir sowohl exklusiv mit einem der meistbeschäftigten Facebook-Schleuser gesprochen, als auch mit Flüchtlingen, die die über digitale Medien organisierte, lebensgefährliche Reise bis nach Deutschland schon hinter sich haben.

Schmuggler bewerben ihre Dienstleistungen auf den arabischsprachigen Seiten mit der sich verschärfenden Flüchtlingskrise zunehmend offensiver. Es muss tausende Schlepper und abertausende Unterhändler in den Grenzstädten geben—und sie alle haben viel zu tun.

Die vielleicht erfolgreichsten unter Ihnen nutzen das soziale Netzwerk intensiv. Die arabischen Gruppen heißen zum Beispiel: „Schiffsfirma für illegale Einwanderung von Libyen nach Europa", „Reisegruppe Izmir-Griechenland" oder „Wie du dich von der Türkei nach Europa schmuggeln lassen kannst—zu unschlagbar günstigen Preisen".

„Du bist eh schon Syrer, oder? Sonst hätte ich dir jetzt noch einen Pass angeboten."

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Bei den von uns analysierten Seiten überwog trotz großen Interesses („Wieviel kostet das?", „Ich suche auch dringend eine Möglichkeit, nach Europa zu fliehen!") der Besucher ein durchweg zweifelnder Ton gegenüber den Schleusern und ihren häufig viel zu überschwänglichen Angeboten („Ist das hier überhaupt legitim? Kann das jemand bestätigen?", „Ich zahle nur, wenn ich auch ankomme!").

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„Kunden" hinterlassen sternebasierte Rezensionen für die Schmugglernetzwerke wie nach einem abgeschlossenen Ebay-Deal—ob diese jedoch von tatsächlich geschmuggelten Flüchtlingen stammen, ist unklar. Die Schleuser jedenfalls sind bemüht, ihre Servicebandbreite zu betonen: „Du bist eh schon Syrer, oder? Sonst hätte ich dir jetzt noch einen Pass angeboten", bot uns ein Schmuggler an, den wir verdeckt anriefen.

So preisen manche Schmuggler ihre vermeintlichen Transportmittel an.

Diskutiert werden Schmuggelrouten, Warnungen und Preise — doch vor allem werden dort türkische Telefonnummern von Kontaktpersonen gepostet, die versprechen, die Überfahrt über das Mittelmeer zu organisieren. Sie sind das Verbindungsglied zwischen dem alten Leben und dem verheißungsvollen neuen in Europa, das in Posts auf den Seiten häufig in allzu schönen Farben gezeichnet wird.

Die Schleuser-Pages bieten ihre Dienste auf Facebook ganz offen an—mit All-Inclusive-Service von gefälschten Ausweispapieren über Ehezertifikate bis hin zu Passwortverfahren, mit denen Angehörige im Todesfall eines Migranten angeblich ihr Geld zurückbekommen. Schleuser hat es natürlich schon immer gegeben, doch während das Geschäft mit der Flucht vor zehn Jahren noch größtenteils über Mund-zu-Mund-Propagada lief, agieren sie in Zeiten der Digitalisierung selbstbewusst online und lassen sich öffentlich von jedem Interessenten kontaktieren.

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„Jungs, wer hat die Nachricht gehört, dass Deutschland vier Schiffe in die Türkei schickt, um Flüchtlinge abzuholen?"

Trotz Misstrauen seitens der Flüchtenden und hoher Preise sind die Schleuser oft die einzigen Helfer, auf die die Menschen in Not zählen müssen—solange sich die Bedingungen in ihren von Krieg und Armut geplagten Heimatländern nicht ändern und Europa sich an den Außengrenzen weiter zur Festung aufrüstet.

Die Mutter aller Gläubigen? Bild: Facebook

Auch Angela Merkel wird—wiedereingeführter Grenzkontrollen zum Trotz—unbeirrt glorifiziert und beispielsweise wie hier in diesem Bild mit einer Nonnenhaube abgebildet. Der nicht allzu begabte Photoshop-Künstler bezeichnet die Kanzlerin im dazugehörigen Post liebevoll als „Mutter aller Gläubigen"—eine Anspielung auch darauf, dass die benachbarten muslimischen Golfstaaten bislang keinen einzigen syrischen Flüchtling aufgenommen haben.

Für jedes Zielland in Europa gibt es Dutzende von Diskussionsgruppen; dazu kommen riesige Gemeinschaften Angekommener wie „Syrisches Haus in Deutschland", die neben Sprachführern und Links zu Deutschlern-Apps wie „Der, die, das" auch übersetze Nachrichten zur aktuellen europäischen Grenzpolitik veröffentlichen.

„Sag mal, schreibst du mit? Bist du Journalist? Ach, ist mir eigentlich auch egal."

Der Ton der Flucht-Gruppen ist der einer Ratgeberseite, auf der ganz praktische Fragen diskutiert werden: „Kann man nach Deutschland weiterreisen, wenn man in Italien bereits seine Fingerabdrücke abgegeben hat?" Antwort: „Nein, in 80 Prozent der Fälle wirst du wieder zurückgeschickt."

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Für jede hilfreiche Information sind leider auch ebensoviele Gerüchte unterwegs. So schreibt zum Beispiel jemand auf einer Seite namens „Road to Europe": „Jungs… wer hat die Nachricht gehört, dass Deutschland vier Schiffe in die Türkei schickt, um Flüchtlinge abzuholen? Stimmt das oder nicht?"

Einige der vorgeschlagenen Fluchtrouten, die auf den Schmugglerseiten diskutiert und je nach Grenzschließung oder Rückmeldung aktualisiert werden.

Aber wie genau wird nun die Flucht nach dem ersten Facebookkontakt organisiert? Auf der vermeintlich professionellsten und frequentiertesten der Schmuggler-Seiten finden wir eine türkische Mobilfunknummer und rufen an. Sofort meldet sich ein „Abu Haisam" auf arabisch, der sich als Betreiber eines Schleusernetzwerks in der Türkei identifiziert. Nachdem unser ägyptischer Übersetzer Andrew sich als Syrer ausgibt, versorgt Abu Haisam uns sofort selbstbewusst mit Informationen und Preisen:

„Salam aleikum, ich habe deine Seite auf Facebook gefunden. Ich bin Syrer und will nach Europa fliehen. Kannst du mir helfen?"

„Klar. Es gibt mehrere Möglichkeiten: Fliegen kannst du für 12.000 Dollar, falls du schon einen syrischen Pass hast und nur ein gefälschtes Visum brauchst, oder für 16.000 Dollar, dann erstelle ich dir komplett neue Dokumente mit allem Drum und Dran. Mit dem Geld schmiere ich auch einen Beamten im Zielflughafen, mit dem du dich verabredest.

Entweder du gehst auf eine Jacht, die kostet 2500 Dollar. Oder du nimmst das kleine Schlauchboot für 1500 Dollar.

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Du musst erst persönlich bezahlen, wenn du ankommst, aber das Bargeld irgendwie über die Grenze bringen und eine Anzahlung nach dem Check-In bei einer Kontaktperson leisten."

„Das ist sehr teuer. Was ist mit Booten?"

„Da gibt es zwei Optionen. Entweder du gehst auf eine Jacht, die kostet 2500 Dollar für 45 Minuten Überfahrt zwischen Türkei und Griechenland, ist aber auch sehr sicher. Oder du nimmst das kleine Schlauchboot, das kostet nur 1500 Dollar pro Person und die Überfahrt dauert fünf Stunden."

„Ist das nicht gefährlich?"

„Du hast doch meine Anleitung gesehen, oder? Insh'allah wird schon alles klappen, wenn du meinen Anweisungen folgst. Du musst vorher gut essen, dein Smartphone einschweißen, dein Geld verstecken und dir die Nummern der Küstenwachen mit Edding auf den Arm schreiben. Alles kein Problem, ich habe nur zufriedene Kunden, und zwar viele."

„Gut. Wie machen wir das mit dem Geld? Wie funktioniert die Bezahlung?"

„Wir gehen einfach zusammen in ein 'Versicherungsbüro' meiner Firma in der Türkei. Dort bezahlst du das Geld im Voraus und wir machen ein Passwort aus. Solltest du sterben, kann deine Familie mit diesem Passwort das Geld wieder abheben. Ansonsten gibst du das Passwort einem Kontaktmann in Europa, der dir die weiteren Schritte erklärt. Er wird erst dann anteilig von deinem Geld bezahlt."

„Und wie schnell kann ich los?"

„Ich brauche maximal zehn Tage zum Organisieren, du musst dich dann bereithalten. 48 Stunden vor der Abfahrt müssen wir noch einmal telefonieren, um den genauen Abfahrtspunkt auszumachen… Sag mal, schreibst du mit? Bist du Journalist?"

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„Ich versuche das nur zu verstehen, weil diese ganze Informationen auch neu für mich sind."

„Ist mir eigentlich auch egal."

***

Wie seriös die Angaben der Schmuggler sind, lässt sich naturgemäß schwer verifizieren. Geflüchtete bestätigen Motherboard gegenüber jedoch, dass Flüchtlinge mit Hilfe von Facebook-Schleusern den Weg nach Deutschland finden. Auch die von „Abu Haisam" genannten Zeiträume und Preise decken sich mit den bekannten organisatorischen Abläufen vor Ort.

Die Status-Updates auf den typischen Schleuserseiten versuchen unterdessen, sich wohlsortiert und seriös zu geben. Dennoch überwiegt unter den unzähligen Anfragen von Einzelpersonen, kleinen und großen Familien die Skepsis. Kein Wunder bei so hanebüchenen Offerten wie diesen:

„Flug, Schiff, Auto, mit Visum nach Europa — unser neues Angebot!!!

Sorry, dass wir nicht alle Facebook-Kommentare beantworten können, wir haben zu viel Druck wegen der Arbeit.

Für Infos: (türkische Mobilfunknummer)

Wir bieten außerdem an:

  • Familienzusammenführung
  • Transporte aller Art nach Europa (es bleibt unklar, ob Waren oder Menschen gemeint sind, d. Red.)
  • Ehezertifikate
  • Todesurkunden
  • Autoregistrierungen
  • Abiturzeugnisse
  • Universitätszertifikate für alle Fächer
  • —Benötigt wird nur ein Pass. "

Ein Allround-Dokumentenservice bietet angeblich auch gefälschte syrische Pässe an, die den Echtheitstest unter UV-Licht bestünden.

„Schreiben Sie sich die Nummer der türkischen und griechischen Küstenwache auf den Arm."

Die professionellste und beliebteste aller Seiten ist aufgemacht wie ein ganz gewöhnliches Reisebüro und hat sich selbst stilsicher unter der Facebook-Rubrik „Consulting" verortet. Sie hat ein schlüssiges Corporate Design, rund 10.000 Facebook-Fans, aktuelle Bilder von Schmuggelrouten und ein Überlebenshandbuch für Flüchtlinge, die sich für die lebensgefährliche Überfahrt per Boot mit diesem Anbieter entscheiden.

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Neben Spezifika der Boote („max. 10 Personen auf vier Metern, gasgefüllte Gummischläuche und verstärkter Boden—genügend Benzinreserven vorhanden!") werden dort essentielle Verhaltenstipps verteilt, die einen seltenen Einblick in die Verzweiflung und die Gefahr geben, denen sich die Menschen ausgesetzt sehen: Vier von sieben Seiten des Reisehandbuchs beschäftigen sich mit persönlichen Vorkehrungen, die die Flüchtlinge eigenverantwortlich treffen sollen, um im Falle eines Kentern des Schlauchboots nicht zu ertrinken.

  • „Schwimmwesten sind das Allerwichtigste, das Sie kaufen müssen, egal wie teuer sie sind.
  • Verhalten sie sich ruhig, um sich und andere nicht zu gefährden, lenken Sie den Fahrer keinesfalls ab.
  • Der Fahrer hat die Anweisung, frontal in eine Welle zu fahren, damit das Boot nicht seitlich überkippt.
  • Geben Sie niemals einem Schmuggler Geld in die Hand—deponieren Sie es in unserem Versicherungsbüro!
  • Tragen Sie Shorts und darüber Hosen, um Platz im Rucksack zu sparen. Falls das Schiff (Gott bewahre) sinkt, ziehen Sie die Hosen aus, um leichter schwimmen zu können. Lange Hosen sind wichtig gegen Gestrüpp und Insekten an der griechischen Küste, und falls Sie sich vor der Polizei im Dickicht verstecken müssen.
  • Stecken Sie in Ihre Jackentasche ein paar Dattelkerne und in die andere eine Wasserflasche, damit die Jacke an der Wasseroberfläche schwimmen bleibt. In einer Innentasche verpacken Sie ihr Geld sorgfältig wasserdicht.
  • Ihr Mobiltelefon sollten Sie unbedingt um den Hals tragen und wasserdicht verpacken.
  • Schreiben Sie sich die Nummer der türkischen und griechischen Küstenwache auf den Arm, damit Sie sie auch noch beim Schwimmen erreichen können.
  • Essen Sie genug vor der Überfahrt. Das ist wichtig! Sie könnten für zwei Tage auf Nahrung oder Wasser verzichten müssen.
  • Zu guter Letzt, vertrauen Sie auf die Hilfe Gottes.
  • Er verlässt Sie nie."

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Die letzte Seite im Überlebenshandbuch wirkt wie ein Hohn gegenüber den Tausenden Ertrunkenen: „Bald erhältlich!", steht daneben. Es wirkt, als wolle sich der Schleuser über die berechtigten Ängste und die Verzweiflung seiner Kunden auch noch lustig machen:

„Bald erhältlich"—Schleuserhumor. Bild: Facebook

Als „Beweis" für die Legitimität seiner Dienste bietet der Schlepper auch audiovisuelles Material an: Ein Handyvideo glücklich-erschöpfter Menschen am Strand, mutmaßlich von einer erfolgreichen Überfahrt von Izmir nach Griechenland, wurden neben erleichterten Kommentaren („Wie schön, Gott sei Dank sind die Kinder in Sicherheit!") fast 300mal innerhalb der Gruppe geteilt.

Dass die zu kontaktierenden Menschen auf Facebook tatsächlich Menschen zur Flucht verhelfen—mal mehr, mal weniger verbrecherisch und lebensgefährlich—bestätigten uns mehrere Quellen unabhängig voneinander. Der syrische Flüchtling Mahmoud A. aus Damaskus, der seit vier Monaten in einer Berliner Notunterkunft lebt, berichtet, dass die Organisation der Flucht über Facebook, Viber und Whatsapp unter jüngeren Leuten eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Auch er selbst ist mit einem Schmuggler von Izmir gekommen, den er auf einer solchen Facebookseite gefunden hatte. „Er hat gepostet, wann immer er ein Schiff hatte und die Menschen haben den Zustand der Boote und Preise diskutiert. Ich habe ihn in der Türkei zur Geldübergabe getroffen: 1500 Euro bis an die griechische Küste, auf einem Schiff mit 300 weiteren Menschen."

Mein ägyptischer Übersetzer Andrew erzählt mir derweil von einem Freund im Deutschkurs, dessen Schiff im Mittelmeer kenterte. Er schwamm elf Stunden an einen Reifen geklammert um sein Leben, bevor ihn die türkische Küstenwache rettete. Oder von einem, der nur zwei kleine Flaschen Wasser an Bord nehmen durfte und damit fünf Tage auf See auskommen musste. „Wir hören ständig solche Geschichten", sagt Andrew.

Auf der Flucht nach Europa sind alleine in diesem Jahr schon 2887 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Vielen Dank an Andrew Moussa & Kiro Moussa für ihre Mitarbeit!