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Wenn du chronisch den Takt nicht halten kannst, leidest du an Beat Deafness

Immerhin vier Prozent aller Europäer und Amerikaner leiden an der sogenannten Takt-Taubheit.
​Florian Silbereisen, der Magier aller Klatschfreudigen. Bild: ​Smalltown Boy, Wikipedia | ​CC BY-SA 3.0

​Wäre es nicht eine Erleichterung, wenn die ganzen Klatscheäffchen des öffentlich-rechtlichen Volksmusik-Fernsehens den Takt ihrer Idole nicht mehr halten könnten und damit die Sendung endgültig in ein einziges anarchistisches Beat-Chaos entgleiten ließen? Nach einem solchen Clap-Desaster würde sicherlich das Mitklatschen endgültig verboten werden—eine herrliche Vorstellung.

Das Leiden, den Takt nicht halten zu können, gibt es wirklich und es heißt Beat Deafness. Eine deutsche Übersetzung der sogenannten Takt-Taubheit scheint bisher nicht zu existieren. Beat Deafness ist eine Art der Amusie, „der Unfähigkeit trotz intakter Sinnesorgane Tonfolgen und/ oder Rhythmen zu erkennen" schreibt  ​Doktor Wikipedia.

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Der Takt-Taube kann also nicht den Schlag auf die richtige Zählzeit hören und ist somit auch nicht in der Lage, sich einigermaßen geschmeidig dazu zu bewegen, geschweige denn, seine Handflächen zum richtigen Zeitpunkt gegeneinander federn zu lassen. Würde sich Florian Silbereisen mit einer Klatschklinik dieser Patienten annehmen, so würde er sicher zum Dietrich Grönemeyer deutscher Volksmuspatienten aufsteigen. Womit dann auch die Frage nach der unausweichlichen Charity-Verpflichtung geklärt wäre.

Die Beat Deafness wurde erst kürzlich entdeckt, womit auch die noch nicht vorhandene deutsche Namensgebung zu erklären wäre. Normalerweise lernen wir im Kindesalter ein grundsätzliches Gefühl für Klang und Rhythmus und auch Menschen ohne vorherige musikalische Ausbildung sind in der Lage, einen Takt zu halten.

Manchen scheint diese grundlegende Fähigkeit jedoch nicht gegeben zu sein. Selbst Disco-Muffel, die aus Prinzip nur neben der Tanzfläche stehen und mit einem ängstlich krallenden Griff ihr Getränk umklammern, sind in der Lage, ihre Bewegungen in irgendeiner Art zur Musik zu koordinieren und die Arme zumindest halbwegs passabel im Takt zu schlenkern. Takt-Tauben ist das nicht möglich.

Die Fähigkeit, im Takt zu klatschen ist nicht jedem gegeben.

Immerhin vier Prozent der Menschen in Westeuropa und Nordamerika leiden unter dieser Sinnesschwäche. (Unsere unqualifizierte wissenschaftliche Vermutung wäre, dass insbesondere in öffentlich-rechtlichen Fernsehstudios eine unerklärliche höhere Rate an Takt-Tauben herrschen muss.) Der  erste dokumentierte Fall wurde 2011 bei einem kanadischen Studenten mit dem Namen Mathieu diagnostiziert. In Untersuchungen konnte Mathieu nicht erkennen, ob sich eine Person im Takt zur Musik bewegt, es war ihm jedoch möglich, eine Gesangsmelodie zu halten und wieder zu erkennen. Auch sein Gehirn schien einwandfrei zu funktionieren und, da in der Sprache die periodischen Rhythmen aus der Musik fehlen, hatte er auch beim Sprechen keine Probleme.

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Als ihm die Psychologinnen Jessica Phillips-Silver und Isabelle Peretz ein Metronom zur Seite stellten, schlug er sich um Längen besser, ein perfektes Timing war ihm jedoch auch hier nicht vollständig möglich. In ihrer Studie erklärten die Wissenschaftlerinnen, dass die Takt-Taubheit wahrscheinlich auf neurologischen Problemen in der Hörrinde der linken Gehirnhälfte beruht, welche für das Erkennen von Rhythmen und Zeitintervallen zuständig ist—während die rechte Gehirnhälfte, die Harmonien und einzelne Töne verarbeitet, vollständig gesund ist.

Dieser Hypothese zufolge könnten also Abnormalitäten in der linken Hörrinde zu Beat Deafness führen, obwohl es ebenfalls möglich ist, dass auch noch weitere Hirnareale an der Störung beteiligt sind.

In einer aktuellen ​Presseerklärung stellte Caroline Palmer, Psychologin an der McGill University in Montreal, fest, dass die betroffenen Personen nicht nur Schwierigkeiten damit haben einen Taktschlag zu erkennen oder ihren Körper zur Musik zu bewegen, es fällt ihnen ebenfalls schwer, ihre Handlungen mit gehörten Klängen zu synchronisieren:

„Die meisten Menschen haben keine Probleme, mit dem Fuß im Takt der Musik zu Tippen. Diejenigen, die unter Beat-Deafness leiden, schwanken jedoch enorm—manchmal verpassen die den Schlag sogar erheblich."

Die größten Schwierigkeiten hatten die Personen, wenn sie sich an einem Metronom orientieren sollten, das schneller und langsamer wurde. „Die nicht von Takt-Taubheit betroffenen konnten sich relativ schnell an die Geschwindigkeiten anspassen, den Betroffenen hingegen, war solch eine Synchronisierung nicht möglich."

Das Fazit der Wissenschaftlerin lautet, dass einige Menschen ihre inneren biologischen Rhythmen nicht an äußere Einflüsse anpassen können. Ihnen ist es nicht so einfach möglich, „zu Tanzen, mit einem Partner Hand in Hand Schlittschuh zu laufen oder mit dem Kopf im Takt der Musik zu nicken."

Im Fall der konditionierten Klatscheäffchen, die ihre Händchen sogar weiter verbissen gegeneinander patschen, wenn die Musik schon längst vorbei ist, klingt solch eine Störung nach einer erfrischenden Erlösung.

​Psychomania ist eine neue Motherboard-Kolummne über Neurosen des Alltags. Schließlich gibt es keinen Wahnsinn, den es nicht gibt—und die Grenzen zwischen gesund und pathologisiert sind fließend.