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Brasilien

In Südbrasilien stehen bedrohte Piniensamen auf der Speisekarte

Pinhão ist ein beliebter Wintersnack im Süden Brasiliens. Doch die Samen gehören zu einer Baumart, die aufgrund von Abholzung vom Aussterben bedroht ist. Die Lösung? Die Samen zur richtigen Zeit fleißig weiterfuttern!
Photo via Flickr user Arcadiuš

Die Brasilianische Araukarie—Araucaria angustifolia für Streber, Brasilkiefer für Normalos—ist eine wahre Schönheit. Mit ihren Ästen und Zweigen, die sich in alle Richtungen biegen, scheint sie nach den Sternen greifen zu wollen. Die Baumart ist ein Symbol für den Süden Brasiliens und seine unverwechselbare Silhouette säumt sowohl die modernen Glasbauten in Curitiba als auch die weitläufigen Bauernhöfe auf dem Land.

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Und an ihren Ästen hängt etwas, das aussieht wie volleyballgroßer Weihnachtsschmuck. Die Rede ist von sogenannten Samenbomben. Und dank des genialen Einfallsreichtums der Natur fallen diese, sobald sie reif sind, mit so viel Schmackes von den Ästen, dass sie jedes Stehaufmännchen K.o. schlagen würden. Dabei zerspringen die Samenbomben, und die Samen werden in alle Richtungen geschleudert. Und der Lebenskreislauf kann weitergehen.

Aber nur, wenn die gauchos nicht vorher ihrer habhaft werden. Denn dann, wenn wir auf der Nordhalbkugel vor lauter Hitze stöhnen, schnüren die Einwohner im südlichen Teil Brasiliens—die den Spitznamen gauchos tragen—ihre Wanderstiefel und machen sich auf die Suche nach den havarierten Pinienzapfen.

Pinhão ist DIE Winterspezialität, die sich Südbrasilianer nur äußerst ungerne entgehen lassen.

Wenn du auf den Landstraßen unterwegs bist, die durch die Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná führen, fallen dir schon bald die kleinen Hütten ins Auge, die während des Winters vielerorts auftauchen und pinhão feilbieten. Der Anblick dieser pinhão-Stände lässt die Kleinen auf dem Rücksitz aufheulen und die Erwachsenen auf das Bremspedal treten: Denn pinhão ist DIE Winterspezialität, die sich Südbrasilianer nur sehr ungerne entgehen lassen.

Ich konnte so eine Reaktion mit eigenen Augen erleben, als ich mit einem gaucho-Freund auf einer Landstraße in Rio Grande do Sul, nördlich der Hauptstadt Porto Alegre, unterwegs war. Als mein Freund den Stand erblickte, fuhr er sofort an die Seite und wies mich an, mich im Sitz möglichst klein zu machen. Schließlich wollte er den Preis drücken, ohne dass ein aufgeregter Amerikaner mit aufgerissenen Augen an seiner Seite steht. Wie wohl an allen Ständen am Straßenrand hast du auch hier die Lizenz zum Feilschen.

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Als er dann wieder einstieg und mir eine kleine Tüte mit Piniensamen zuwarf, habe ich sofort meine Stirn in Falten gelegt und ihn angefaucht: „Das ist alles?!" Nach einer kurzen Standpauke, die du sonst nur zwischen zwei Räubern erleben kannst—nämlich dann, wenn sich der eine über die viel zu geringe Beute seines Komplizen auslässt—stieg mein gaucho widerwillig aus, um mit dem Straßenverkäufer in Nachverhandlungen zu treten. Auf unserer Rückfahrt fuhr mir der Winterwind durch die Haare, während ein breites Lächeln mein Gesicht schmückte. Kein Wunder, denn jetzt hatten wir so viel pinhão, dass du denken könntest, ein ausgewachsener Golden Retriever würde auf deinem Schoß liegen.

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Foto: Fernando Dell'Acqua via Flickr

Wieder zu Hause bei meinem Freund haben wir unsere Beute auf dem Küchentisch ausgebreitet. Ich habe mich sofort gefragt, was zum Teufel wir mit all diesen Samen anfangen sollen. Übereifrig habe ich mir dann einen in den Mund gesteckt und musste—wer hätte es gedacht—feststellen, dass es sich anfühlte, als ob ich auf einem Pinienzapfen rumkauen würde. Mein Freund schmiss 40 von den Samen in einen Schnellkochtopf voll Wasser. Jetzt begann das Geduldspiel. Eine schier endlose halbe Stunde später goss er das Wasser ab und breitete die noch heißen Samen auf einem silbernen Teller aus. Sie sahen aus wie Kakerlaken.

„Mach es wie bei Artischocken", befahl er mir. Artig hielt ich mit der einen Hand das harte Ende eines Samens fest, biss zu, und zog mit meinen Zähnen die Schale ab—bis eine Kartoffel rauspurzelte! Ja, du liest richtig. Fast.

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Denn im Inneren der Araucária-Samenhülse erwartet dich etwas, das wie eine Kreuzung aus einer Nuss und einer Kartoffel aussieht: Es handelt sich im Grunde um die aufgepimpte Version eines Pinienkerns (obwohl es nicht wirklich ein Pinienkern ist, da Pinienkerne bei der Pinus- und nicht bei der Araucaria-Gattung vorkommen). Geschmacklich erinnert gekochtes pinhão an geröstete Maronen und auch aus jahreszeitlicher Sicht scheint der Vergleich durchaus nahe zu liegen.

Sobald sie ihre braune Schale verlassen haben, werden die pinhão-Samen hier zur Ballkönigin bei jedem kulinarischen Stelldichein. Die Leute kredenzen so ziemlich alles aus diesen Samen: Kuchen, Risotto, Eintöpfe, Flan und noch vieles mehr. Dazu wird einmal im Jahr ein pinhão-Festival organisiert. Und der Geschmack von pinhão erobert während der sogenannten festas juninas („Juni-Feste") auch den nördlichen Teil Brasiliens. Für viele Brasilianer sind die festas juninas dann die einzige Möglichkeit im Jahr, überhaupt an frisches pinhão zu kommen.

Aber sogar der seltene Verzehr dieser Samen könnte in Gefahr geraten: Denn die Araucária-Baumart ist vom Aussterben bedroht und Wälder dieser Baumart sind in der Mata Atlântica Brasiliens auf nur noch 3 Prozent ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft—dank der Abholzung für die Viehwirtschaft und die holzverarbeitende Industrie. (Im Jahr 1963 machte diese Baumart rund 92 Prozent der brasilianischen Holzexporte aus.)

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Schon die ersten Kaingang, ein indigenes Volk im südlichen Brasilien, fanden pinhão äußerst lecker. Und auch die bettelarmen italienischen Zuwanderer—die wegen der Landwirtschaft herkamen und viel Zeit damit verbrachten, für das Eigenheim Araucária-Bäume zu fällen—kamen dank der Hilfe von pinhão über den überraschend kalten Winter.

Es mag widersprüchlich klingen, doch indem du die Samen isst, leistest du deinen Beitrag zum Fortbestand der verbleibenden Bäume.

Aber mittlerweile birgt schon das Aufsammeln der Samen eine Gefahr für den Wald: 3.400 Tonnen Samen werden jedes Jahr aufgelesen, um daraus Essen zu machen, und einige Wissenschaftler befürchten, dass sich diese großen Erntemengen negativ auf das Ökosystem auswirken könnten. Denn dadurch verliert die heimische Fauna selbst ihren leckeren Wintersnack. Infolgedessen wurden Gesetze verabschiedet, die das Aufsammeln der Samen nur noch zu bestimmten Jahreszeiten erlauben, und zwar frühestens nach dem 15. April eines jeden Jahres.

Andererseits kannst du auch den Wald retten, indem du zur erlaubten Zeit die Samen futterst. Das mag erst mal widersprüchlich klingen, doch indem du die Samen isst, leistest du deinen Beitrag zum Fortbestand der verbleibenden Bäume. Denn so haben potentielle Verkäufer einen guten Grund, die Bäume stehen zu lassen (da es 14 Jahre dauert, bis sie Samen ausbilden), anstatt sie abzuholzen. Also übertreib es nicht gleich mit dem Feilschen am Straßenrand.

Du musst dich schon im Süden Brasiliens aufhalten, um pinhão probieren zu können. Und du musst dich zudem dazu entschlossen haben, Südbrasilien in den Wintermonaten zu bereisen (von Mai bis August). Aber wenn du dann aus dem Fenster schaust und vor dir eine riesige Pinie erblickst, solltest du schleunigst rechts ranfahren. Denn es kann gut sein, dass du soeben auf ein fragiles, aber dafür köstliches Plätzchen Erde gestoßen bist.

Oberstes Foto: Arcadiuš | Flickr | CC BY 2.0