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„Anarchie wär eh geiler“

Auch wenn bei der Gegendemo zur Sicherheitskonferenz gestern in München nicht viel davon zu spüren war.

Unter den Augen der Heckenschützen rennt Alfons Schuhbeck zum Eingang des Bayerischen Hofes. Sogar der Starkoch, der für das leibliche Wohl der Teilnehmer der Sicherheitskonferenz in München sorgen soll, schafft es erst nach minutenlangem Protest durch eine Straßensperre der Polizei in den Sicherheitsbereich des Hotels. Die Beamten haben ihn nicht erkannt. Jetzt muss er sich beeilen, um noch rechtzeitig am Herd zu sein.

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Die Stimmung ist angespannt. Immerhin findet im Herzen der Münchner Innenstadt das weltweit wichtigste Treffen der Außen- und Sicherheitspolitik statt. Scharfschützen auf den Dächern, unzählige Sixpacks und schnüffelnde Bombenspürhunde—die Straßenzüge rund um den Tagungsort gleichen drei Tage lang einem Hochsicherheitstrakt. Betreten darf ihn nur, wer ein plausibles Anliegen und eine Sondergenehmigung vorweisen kann. Insgesamt 3100 Polizisten, 330 Soldaten und 50 Feldjäger sind im Einsatz. Das größte Dorf der Welt steht im Fokus der internationalen Öffentlichkeit.

Auf der Sicherheitskonferenz, kurz Siko, soll Klartext geredet werden. Schließlich ist es eine private Veranstaltung, ein Branchentreffen der Sicherheitspolitik. Es werden keine bindenden Vereinbarungen getroffen, also kann auf allzu diplomatisches Geplänkel verzichtet werden. Und es gibt einiges zu besprechen: Die wachsende Cyberkriminalität, der Bürgerkrieg in Syrien und die Proteste der Opposition in der Ukraine sind die Top-Themen. Die Gästeliste aus Diplomaten, Staats- und Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsministern und hochrangigen Militärs aus aller Welt kann sich sehen lassen. Anwesend sind unter anderem die Neue, die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, der amerikanische Außenminister John Kerry—und obwohl sich die Ereignisse bei den Protesten in Kiew überschlagen, findet auch der ukrainische Oppositionsführer Vitali Klitschko seinen Weg nach München. Das Motto der 50. Jubiläumsausgabe der Konferenz lautet wie jedes Jahr „Frieden durch Dialog“.

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„50 Jahre Hölle“ steht auf vielen Schildern der Demonstranten, die sich am Samstagmittag auf dem Marienplatz, 500 Meter Luftlinie entfernt vom exquisiten Luxushotel der Weltpolitik, versammelt haben, um gegen die Sicherheitskonferenz zu protestieren. Unter ihnen treffe ich Manhas, 22 Jahre, Schülerin an der Designschule in München. Sie sieht nicht aus wie eine typische Demonstrantin, keine Buttons, keine Kapuze. Stylisch gekleidet und mit ihrer Sonnenbrille Typ Ray Ban hält man sie eher für ein Mädchen, das gerade zum Shoppen in die angrenzende Fußgängerzone unterwegs ist. Wäre da nicht das Schild in ihrer Hand, auf dem fett und unterstrichen steht „Raus aus Afghanistan“.

Afghanistan, ihr Thema, steht nicht mehr im Mittelpunkt bei den Gesprächen der Sicherheitsexperten im Bayerischen Hof dieses Jahr. Warum auch? Eine Demokratie ist errichtet, ein Großteil der internationalen Truppen soll bis Ende 2014 abgezogen werden und die afghanische Armee übernimmt mehr und mehr das Ruder. „Mission erfüllt, Sicherheit hergestellt“, scheinen sich die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz zu denken. Aber ist das so?

Ich begleite Manhas auf dem Demonstrationszug, der sich weiträumig um den Sicherheitsbereich der Konferenz schlängelt. Die Menge setzt sich, vom Marienplatz aus, stockend in Bewegung. Wir reihen uns ein. Warum Manhas heute auf die Demo gekommen ist, möchte ich von ihr wissen. „Für mich ist die Sicherheitskonferenz ein Zusammentreffen von Mächten, die aus wirtschaftspolitischen und strategischen Gründen Krieg führen. Ihnen geht es nicht darum, sich für Frieden einzusetzen, sondern darum, ihre eigenen Interessen abzudecken. Und denen sind die Mittel egal, wie sie ihre Ziele erreichen“, sagt sie mit Überzeugung.

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Rund 2.500 Demonstranten sind mit Manhas und mir auf der Straße. Die Sonne scheint und die Stadt ist leerer als sonst. Viele Einkaufswütige sind heute wohl daheim geblieben, um dem Chaos im Zentrum aus dem Weg zu gehen. Sie bekommen nichts mit von den Argumenten der Gegner der Sicherheitskonferenz—und sie sehen nicht die aufwändigen Masken und Verkleidungen, die sich viele gebastelt haben.

Auch Manhas und ich sprechen über das große Thema unter den Demonstranten: Die Eröffnungsrede der Siko von Bundespräsident Joachim Gauck. Er hatte für einen Paukenschlag gesorgt, als er forderte, Deutschland müsse sich bei Konflikten im Ausland „früher, entschiedener und substantieller“ einbringen. In seiner Argumentation erwähnte er auch Afghanistan. Der Einsatz sei „notwendig“ gewesen. Ich überlege und frage Manhas, ob es nicht gut sei, dass sich der Westen nach dem 11. September in Afghanistan eingemischt, und damit die grausame Herrschaft der Taliban in Afghanistan beendet habe. „Ich will nicht sagen, dass es schlecht war, dass die Amerikaner und ihre Alliierten die Taliban gestürzt haben. Aber wenn es ihnen wirklich um das afghanische Volk gegangen wäre, hätten sie damals deren Vorgänger, die Mudschahidin, nie unterstützen dürfen und hätten viel, viel früher eingreifen müssen“, antwortet sie und kann sich ein empörtes Lachen nicht verkneifen.

Auf dem Weg stößt die Familie von Manhas zu uns. Von ihren Freunden ist niemand auf der Demo. Ich will wissen, woher eigentlich ihr Interesse an Politik kommt. Sie erzählt mir die Geschichte ihrer Eltern, die in den 70er Jahren in ihrer Heimat Afghanistan politisch aktiv waren und sich unter anderem gegen Folter und für Menschenrechte einsetzten. Nach der sowjetischen Intervention 1979 im afghanischen Bürgerkrieg wurde die Lage für Manhas Eltern zu gefährlich und sie entschieden zu fliehen. Die Schilderungen der unvorstellbaren Ängste, die ihre Eltern in dieser Zeit und auf der Flucht nach Deutschland durchleben mussten, als sie in einem leeren Tanklaster mit vielen Menschen auf engstem Raum mehrere Tage ohne Essen und Trinken über die Grenze von Afghanistan in den Iran gelangten, haben sie geprägt, sagt sie.

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Dieses Jahr stehen Wahlen an in Afghanistan. Mahnas vertraut der vom Westen verordneten Demokratie nicht. „Wenn man sich die Regierung genauer anschaut, die nach dem Einmarsch des Westens entstanden ist: Das sind alles ehemalige Warlords aus den Bürgerkriegen, Kriegsverbrecher mit Blut an den Händen. Die gehören eigentlich vor das Gericht in Den Haag und nicht in die Regierung von Afghanistan.“

Als Manhas und ich mit dem Demonstrationszug durch die enge Residenzstraße Richtung Marienplatz ziehen, schlägt das Wetter um, es fängt an zu regnen. Die Boxen der Wagen sind auf volle Lautstärke aufgedreht, der Bass wummert in unseren Ohren. „Das ist Klassenkampf, Bruder!“—Antifa-Rap schallt über die Menschenmenge. Der schwarze Block zündet ein Bengalo. Die Passanten vor den edlen Boutiquen der Gegend werden an die Wand gedrängt, die Punks zeigen Mittelfinger in die Kameras der neugierigen Touristen. Der erste Moment auf der komplett friedlichen Demo, der ein wenig revolutionären Charme versprüht.

Der Tross erreicht den Marienplatz. Die Demo endet auf ihrem Höhepunkt. Als wir uns verabschieden, erzählt mir Manhas, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal nach Afghanistan reisen und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln begeben wollte. Mit 22 Jahren, in genau demselben Alter, in dem ihre Mutter nach Deutschland geflohen war. Die Idee musste sie aber aufgeben. Afghanistan sei wieder zu gefährlich geworden, jetzt, kurz vor den Wahlen und seit klar ist, dass bald große Teile der internationalen Truppen das Land verlassen wollen. Ich muss an die Rede von Gauck denken. Natürlich darf man nicht wegsehen, wenn Menschen auf der Welt leiden und sterben. Aber Afghanistan ist ein Beispiel, wohin es führen kann, wenn man sich engagiert. Über 30.000 Zivilisten sind seit dem Einmarsch der Truppen ums Leben gekommen. Die Lage ist weit davon entfernt sicher zu sein, der Afghanistaneinsatz gilt gemeinhin als gescheitert. Aber auf der Sicherheitskonferenz spricht der Bundespräsident schon in der Vergangenheitsform von der deutschen Präsenz—und man sorgt zuallererst für die eigene Sicherheit beim Abendessen des Sternekochs im Bayerischen Hof.

Fotos von Anna Pentzlin