Politik

Mehr Sex, mehr Oma: Warum Berlin das bedingungslose Grundeinkommen testen soll

Ein neuer Volksentscheid verspricht ein besseres Leben für fast alle. Wir haben bei der Initiatorin nachgefragt.
Ein Plakat klebt an der Wand. Darauf steht "Mehr Sex durch ein bedingungsloses Grundeinkommen? Probieren wir's aus.
Foto: Expedition Grundeinkommen

In Berlin kann man eigentlich nicht mehr rausgehen, ohne ihnen zu begegnen. An fast allen Laternen hängen sie: die Plakate, die mögliche Vorteile eines bedingungslosen Grundeinkommens anpreisen. Der "Volksentscheid Grundeinkommen" sammelt Unterschriften für einen Modellversuch. 240.000 wollen die Aktivisten von Expedition Grundeinkommen bis Anfang September erreicht haben. Derzeit liegen sie bei 40.740 Unterschriften. 

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Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, so die Aktivisten, hätten wir endlich mehr Zeit für unsere Oma und weniger Existenzängste, könnten solidarischer sein und mehr Sex haben. Kurz: Das Grundeinkommen könnte all unsere Probleme lösen. Kann das sein? Wenn uns solche Universallösungen präsentiert werden, sollte man skeptisch sein.
Die Politologin und Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpsychologin Laura Brämswig ist Gründerin der Organisation Expedition Grundeinkommen. Wir haben sie gefragt, ob Volksentscheide nach dem bisher erfolglosen "Deutsche Wohnen und Co. enteignen"-Entscheid überhaupt umsetzbar sind, ob wir mit einem Grundeinkommen alle faul werden und warum wir vielleicht alle mehr Sex hätten. 


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VICE: Was ist ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Laura Brämswig:
Die Zusage, dass alle Menschen, die in der Gesellschaft leben, so viel Geld zu Verfügung haben, dass sie gut existieren können und auch wirklich am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Warum ist ein bedingungsloses Grundeinkommen sinnvoll?
Wenn man Menschen einen Grad an Sicherheit und Freiheit gibt, wirkt sich das sehr positiv für die Gesellschaft aus. Wir treffen bessere Entscheidungen. Unsere psychische Gesundheit verbessert sich. Wir haben mehr Kapazitäten, uns mit wichtigen Fragen in unserem Leben zu beschäftigen, wenn wir nicht so darauf fokussiert sein müssen, eine Existenz zu sichern. Außerdem ist es einfacher mit Krisen umzugehen, wenn alle Menschen in der Gesellschaft finanziell abgesichert sind. 

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Was erhofft ihr euch vom Modellversuch?
Wir wollen, dass das bedingungslose Grundeinkommen politische Realität wird. Dafür ist der Modellversuch der erste Schritt. So können wir verschiedene Varianten des Grundeinkommens testen, um nicht nur herauszufinden, ob wir ein Grundeinkommen einführen wollen, sondern auch, wie wir es gestalten können. Also: Wie hoch soll es sein? Was für ein Steuersystem finden wir gerecht? Was muss man noch bedenken, wenn wir es einführen?

Die Höhe steht also noch nicht fest?
Es ist eine Untergrenze festgelegt, die darüber definiert ist, dass die Menschen wirklich abgesichert sind. Diese Grenze ist die Armutsrisikoschwelle und wird jedes Jahr angepasst. Sie liegt bei knapp 1.200 Euro.

Sollen alle ein Grundeinkommen erhalten? Auch Millionäre?
Jeder soll einen Anspruch auf ein Grundeinkommen bekommen, auch Millionäre. Es wird aber auch eine Gruppe von Menschen geben, die dadurch effektiv nicht mehr in der Tasche haben.

Warum?
Im Modellversuch werden verschiedene Steuersysteme simuliert. Und je nachdem, wie die ausgestaltet sind, würde ab einem bestimmten Betrag, den man durch sonstiges Einkommen verdient, das Grundeinkommen dann bei den Steuern wegfallen.

Wie soll der Modellversuch finanziert werden?
Das Geld würde aus dem Landeshaushalt kommen. Das Land Berlin hat diesen Haushalt und finanziert damit natürlich auch Forschung.

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In Berlin hängen überall Plakate, die für den Volksentscheid Werbung machen. Eins davon verspricht "Mehr Sex" als eine mögliche Konsequenz des Grundeinkommens.
Ich wusste, dass das jetzt kommt.

Warum könnte man mit einem Grundeinkommen mehr Sex haben?
Sinnbildlich steht der Begriff Sex eigentlich für die Erkenntnisse aus internationalen Studien, die belegen, dass ein Grundeinkommen zu einer Verbesserung der psychischen Gesundheit führt und Menschen weniger gestresst sind. Wenn Menschen also ausgeglichener und entspannter sind, haben sie vielleicht auch mehr Sex.

Mit dem Grundeinkommen können sich plötzlich alle mehr leisten. Die Kaufkraft steigt, die Preise auch. Damit droht eine Inflation.
Das ist eine volkswirtschaftliche Frage, die man klären muss. Es gibt viele Studien dazu, die belegen, dass es eher dazu führt, dass die Wirtschaft gestärkt wird, wenn Geld besser verteilt ist in der Gesellschaft und mehr Menschen das Geld wirklich ausgeben, was ihnen in die Hand kommt, anstatt dass es auf irgendwelchen Konten versackt. Mit diesem Modellversuch schaffen wir eine Datengrundlage, mit der Volkswirt:innen genau diese Frage untersuchen können. Überhaupt ist es ein Missverständnis, dass mit einem bedingungslosen Grundeinkommen alle Menschen 1.200 Euro mehr Geld in der Tasche hätten. Je nach Finanzierungsmodell könnten besonders reiche Menschen sogar weniger zur Verfügung haben als heute.

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Sind wir überhaupt noch produktiv, wenn unsere Existenz sowieso gesichert wird?
Es ist ein großer Mythos, dass Menschen generell nur dann aktiv werden, wenn sie monetarisiert belohnt werden. Für diese Angst, dass alle Menschen dann nur noch zu Hause rumhängen, gibt es in der Wissenschaft keine Belege. Aber vielleicht werden Menschen weniger Erwerbsarbeit machen und mehr Jobs, die unbezahlt sind, in der Familie, im Freundeskreis oder ehrenamtlich. Oder vielleicht investieren sie mehr Zeit in Bildung? Genau das wollen wir mit diesem Modellversuch herausfinden.

Laut einem anderen Plakat soll das Grundeinkommen "Weniger Bürokratie" zur Folge haben. Kommt mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens der Abbau des Sozialstaats? Sollen damit Fürsorgeleistungen ersetzt werden?
Mit "Weniger Bürokratie" ist nicht gemeint, dass Sozialleistungen wegfallen. Der Bürokratieaufwand und Antragsdschungel soll dort, wo man beispielsweise bei Hartz-IV oder der Arbeitslosenhilfe beantragt, verschwinden, damit Menschen, die das Geld brauchen, es einfach bekommen und nicht als Bittsteller durch diesen bürokratischen Prozess gehen müssen. 

Das bedingungslose Grundeinkommen wird ja schon seit einer langen Zeit diskutiert. Warum dauert die Umsetzung so lange?
Das fragen wir uns auch immer. Deswegen haben wir das Projekt auch gegründet. Es ist eine sehr große soziale Innovation. Wenn man sich sozialen Wandel anschaut, ist das etwas, was über Jahrzehnte passiert, nicht über Jahre. Jetzt geht es wirklich darum, das breite Interesse und die vielen Menschen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen wollen, sichtbar zu machen. Am Ende ist es aber nicht nur eine kleine Stellschraube, sondern es geht um einen Paradigmenwechsel.

Ihr habt euch dazu entschieden, diesen Wechsel voranzutreiben mit einem Volksentscheid. Der Volksentscheid "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" kam zustande und hat eine Mehrheit erreicht. Trotzdem ist da bisher nichts passiert. Was tut ihr, damit es im Erfolgsfall bei euch nicht ähnlich läuft?
Es gibt einen großen Unterschied. Für die Demokratie-Nerds ist das der entscheidende Unterschied: Unser Volksentscheid basiert auf einem Gesetzesentwurf und wenn wir den Volksentscheid gewinnen, dann muss dieser Gesetzesentwurf wirklich Wort für Wort umgesetzt werden. Ohne einen Gesetzesentwurf gibt es diese Verbindlichkeit nicht.

Was bedeutet es für die Zukunft, wenn ihr erfolgreich seid und der Modellversuch umgesetzt werden kann?
Es wäre der erste staatlich finanzierte Modellversuch in Deutschland. Es wäre außerdem der erste Versuch, der aus der Bevölkerung heraus organisiert wurde. Das hätte große Signalwirkung. Mit dem Modellversuch würden wir viele Erkenntnisse darüber gewinnen, was ein Grundeinkommen für unsere Gesellschaft bedeuten würde. Damit würden wir einen Grundstein legen für die Diskussion, ob wir ein Grundeinkommen einführen können in Deutschland.

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