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So fühlen sich 46 Tage Hungerstreik an

Weil er gegen staatliche Gewalt in Pakistan protestieren wollte, aß Lateef Johar Baloch anderthalb Monate lang nichts. Das brachte ihm Aufmerksamkeit – und bis heute gesundheitliche Probleme.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Lateef Johar Baloch

Jeder Mensch muss essen. Das Verlangen nach Nahrung gehört zu unserem Überlebensinstinkt. Lebensmittel liefern Kraft, um die täglichen Aufgaben des Leben zu bestehen, wer länger nichts zu Essen bekommt, wird schwach, krank und stirbt irgendwann. Der Körper weiß das und drängt den Menschen, sich mit Energie zu versorgen. Was bewegt jemanden also, völlig darauf zu verzichten? Meist wohl tiefe Verzweiflung. So haben in den vergangenen Jahren zum Beispiel mehrfach Guantanamo-Gefangene mit Hungerstreiks auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Einige Insassen des Gefangenenlagers befinden sich seit vielen Jahren ohne offizielle Anklage dort.

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Die gewaltlose Protestform des Fastens gibt es seit Jahrtausenden – Legenden zufolge soll schon der Schutzheilige Irlands, St. Patrick, den Hungerstreik eingesetzt haben. Inzwischen haben Menschen in aller Welt, von Friedensaktivisten und Frauenrechtlerinnen bis hin zu politischen Dissidenten, den Hungerstreik als Protest gewählt.

Auch der Pakistaner Lateef Johar Baloch hat 2014 mehr als einen Monat lang das Essen verweigert, um zu protestieren. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.

VICE: Warum bist du in den Hungerstreik gegangen, Lateef?
Lateef Johar Baloch: Ich fing meinen Hungerstreik am 22. April 2014 an, ich wollte notfalls hungern bis ich sterbe. Pakistanische Sicherheitskräfte hatten meinen Freund Zahid Baloch in Quetta in der Provinz Belutschistan verschwinden lassen, und darauf wollte ich aufmerksam machen. Zahid war ein Studentenanführer. Man nahm ihn am 18. März mit, vor Dutzenden Augenzeugen. Er ist bis heute "verschwunden".


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Wen wolltest du darauf aufmerksam machen?
Die Medien und internationale Organisationen. Sie sollten darauf aufmerksam werden, wie schlimm die Situation ist: Pakistanische Sicherheitskräfte lassen in Belutschistan Studierende, Menschenrechtler und politische Aktivisten verschwinden. Die humanitäre Lage in Belutschistan ist entsetzlich, Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International haben die verstörenden Zahlen aus der Region bestätigt.

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Warum bist du ausgerechnet in den Hungerstreik getreten, um zu protestieren?
Ich stamme aus dem Distrikt Awaran, einer der ärmsten und entlegensten Regionen von Belutschistan, wo es den größten Anteil Analphabeten und viele Menschen mit Mangelernährung gibt. Die Einsätze paramilitärischer Gruppen haben die Zivilisten dort besonders schwer getroffen. Die pakistanische Armee erlaubt internationalen Medien keinen Zugang, um über Belutschistan zu berichten. Declan Walsh von der New York Times wurde von den Behörden des Landes verwiesen, nachdem er über Belutschistan geschrieben hatte.

Du brauchtest also etwas, das wirklich Aufsehen erregt.
Wir hatten schon auf alle möglichen Arten protestiert. Symbolische Hungerstreiks, öffentliche Demos, Kundgebungen und lange Märsche – immer wieder haben wir verlangt, dass die Menschenrechtsverletzungen ein Ende nehmen. Nichts half. Und Pakistan nahm weiterhin Lehrer, Professoren, Akademiker, Anwälte und andere in Belutschistan ins Visier. Meine Kollegen und ich waren überzeugt, dass etwas Extremes wie ein Hungerstreik bis zum Tod der einzige Weg war, auf diese Missstände aufmerksam zu machen.

"Das einzige, wovor ich keine Angst hatte, war der Tod."

Wie erging es dir, als du mit dem Streik anfingst?
In den ersten Tagen fühlte ich mich extrem hungrig und hatte schlimmes Bauchweh. Irgendwann in der zweiten Woche verschwand das Hungergefühl, stattdessen hatte ich schreckliche Schmerzen im ganzen Körper. Am schlimmsten und unerträglichsten taten meine Knochen weh. Ich konnte mich nicht gerade hinsetzen. Ich konnte mich auch nicht konzentrieren und wurde nervös, wenn jemand versuchte, mit mir zu reden. Nach drei Wochen verlor ich alle vier bis fünf Stunden das Bewusstsein und reagierte sehr aggressiv, wenn jemand mich ansprach. In den letzten Tagen fiel mir das Atmen extrem schwer. Ich hatte sehr viel Blut im Stuhl und überhaupt keine Energie mehr. Ich konnte nicht mehr richtig hören. Mein Kopf tat durchgehend weh. Den gesamten Streik über konnte ich kaum schlafen. Das einzige, wovor ich keine Angst hatte, war der Tod.

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Jesus.
Ich nahm in der Zeit 26 Kilo ab. Am Ende hatte ich keine Muskelmasse mehr. Ich war bloß noch ein Skelett.

Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast, wieder zu essen.
Ich beendete meinen Hungerstreik am 6. Juni 2014 – auf den Wunsch von betroffenen Familien, Menschenrechtsaktivisten, Freunden und Politikern aus Belutschistan. Sie sind eingeschritten, um zu verhindern, dass ich wegen der Brutalität und Gleichgültigkeit Pakistans sterbe.

"Ich werde immer noch sehr schnell müde, vergesse Dinge oder kann sie mir erst gar nicht merken."

Hat dein Hungerstreik langfristig deiner Gesundheit geschadet?
Ja, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ich habe noch immer viele Probleme wegen des Streiks. Mein Magen ist betroffen, aber auch mein Gedächtnis. Ich kann auch nicht mehr alles essen. Die ersten zwei Monate danach habe ich nur sehr leichte Nahrung vertragen. Wenn ich mal ein kleines Stück Brot aß, hatte ich tagelang schreckliche Schmerzen. Ich kann mich immer noch nicht richtig auf mein Studium konzentrieren. Ich werde sehr schnell müde, vergesse Dinge oder kann sie mir erst gar nicht merken.

Wie haben die Medien auf deinen Streik reagiert?
Die Reaktion der Medien war phänomenal. Viele regionale und internationale Medien haben darüber berichtet, darunter AFP, BBC World, Al Jazeera News, Dawn News aus Pakistan und viele mehr. Aber auch soziale Plattformen waren sehr wichtig, um die Botschaft meines Streiks zu verbreiten. Während der 46 Tage erzählte man mir von Leuten aus aller Welt, die Tag und Nacht Solidarität mit mir twitterten. Das hat mich sehr ermutigt.

War dein Streik letztendlich in irgendeiner Form erfolgreich?
Er hat die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen, dass Einwohner Belutschistans "verschwinden", wurde so international besprochen. Viele internationale Organisationen haben sich daraufhin öffentlich zur Lage in Pakistan geäußert und ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht. Doch pakistanische Sicherheitskräfte lassen weiterhin Menschen verschwinden, und viele internationale Organisationen schweigen noch immer. Erst vor Kurzem hat das pakistanische Militär Razzien in Quetta durchgeführt und dabei drei Frauen und deren Kinder entführt. In Karatschi sind die paramilitärischen Pakistan Rangers Ende Oktober in drei Wohnungen eingebrochen, haben einen bekannten Menschenrechtler, Nawaz Atta, entführt und acht Jugendliche verschleppt. Sie werden noch immer vermisst. Wir kämpfen weiter gegen diese Brutalität an und protestieren weiter. Das werde ich machen, so lange ich lebe.

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