Hier werden 1.600 Schweizer Pflanzensorten vor dem Aussterben gerettet

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Umwelt

Hier werden 1.600 Schweizer Pflanzensorten vor dem Aussterben gerettet

"Im letzten Jahrhundert sind weltweit rund 75 Prozent aller Nutzpflanzensorten ausgestorben", erklären die Betreiber der Samenbibliothek in Basel.

Alle Fotos vom Autoren "Diversifiziere das Risiko", ist der wohl wichtigste Glaubenssatz, den du als Anlageberater jemals lernen wirst. Wer sein gesamtes Vermögen auf eine einzige Karte setzt, riskiert, in einem Schadensfall alles zu verlieren. Beim Anbau von Monokulturen verhält es sich nicht anders; So verhungerten im 19. Jahrhundert in Irland über eine Million Menschen wegen der Krautfäule. Denn landesweit wurden nur zwei besonders ertragreiche Kartoffelsorten angebaut, die beide sehr pilzanfällig waren. Um mit den gesteigerten Ansprüchen des Marktes Schritt halten zu können, mussten auch viele Schweizer Landwirte ihre Betriebe von Misch- auf Monokulturen umstellen. Die zahlreichen traditionellen Sorten, die sich von Region zu Region unterscheiden, mussten den homogenen Hochertragssorten weichen.

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Ich sitze im Zug und beobachte die Maisfelder, deren Stauden während der Blütezeit wie eine chinesische Militärparade im Schnelldurchlauf an einem vorbeiziehen. Dabei stelle ich mir vor, wie die Äcker wohl aussähen, wenn nicht 95 Prozent der weltweiten Nahrung so wie heute mit nur 30 Pflanzenarten abgedeckt würden. Immerhin gibt es gemäss den neusten Zahlen aus einer UN-Studie von 2010 über 7.000 essbare Arten, die angebaut werden können.

Ich bin auf dem Weg nach Basel, wo ich mich mit Nicole Egloff von der Stiftung Pro Specie Rara verabredet habe. "Wir gehen davon aus, dass innerhalb des letzten Jahrhunderts weltweit rund 75 Prozent aller einst vorhandenen Nutzpflanzensorten ausgestorben sind", beziffert Egloff die Abnahme der pflanzlichen Biodiversität. In einer 2010 veröffentlichten Studie stellt die International Union for Conservation of Nature (IUCN) weiter fest, dass von den heute noch lebenden Pflanzenarten jede fünfte vom Aussterben bedroht ist. "Das Streben nach ökonomischer Effizienz führte im Zuge der landwirtschaftlichen Industrialisierung weltweit zu einer rapiden Abnahme der Artenvielfalt. Bei Kulturpflanzen genauso wie bei Nutztieren." Um die verbleibenden Sorten vor der fortschreitenden Verdrängung zu schützen und somit die Saatgutvielfalt in der Schweiz zu garantieren, bewirtschaftet die Stiftung mit Sitz in den Basler Merian Gärten eine Samenbibliothek, in der 1.600 traditionelle Gemüse- und Zierpflanzensorten am Leben erhalten werden. Zusätzlich betreibt die Stiftung Sammlungen, wo 1.800 Obst-, 400 Beeren-, 100 Kartoffel- und zahlreiche Rebensorten gedeihen.

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Saatgutvielfalt: Nicole Egloff archiviert eine Samenprobe

Anders als im globalen Saatguttresor im norwegischen Spitzbergen, wo rund 4,5 Millionen tiefgekühlte Samenproben gelagert werden, beträgt die Temperatur in der Basler Samenbibliothek angenehme 15 Grad. Dies hat allerdings zur Folge, dass jede Sorte alle paar Jahre aufs Neue gesät oder gepflanzt werden muss, da bei Raumtemperatur gelagerte Samen nicht endlos haltbar sind. "Der Vorteil ist, dass sich die Pflanzen dadurch fortlaufend an die sich verändernden Umweltbedingungen anpassen können. Der Nachteil, dass diese Methode ziemlich aufwändig ist", erklärt Egloff.

Dezentrales Netzwerk von Freiwilligen

Deswegen arbeitet die Stiftung mit rund 500 Freiwilligen zusammen, die über einen Samenkatalog auswählen können, welche Sorten sie in der nächsten Saison anbauen wollen. "Momentan treffen bei uns jeden Tag neue Bestellungen ein. Einige Gärtner bestellen nur zwei, drei Sorten, andere gleich mehrere Dutzend", so Egloff. Sorten, deren Samenbestand besonders tief ist, landen auf einer roten Liste, die den Gärtnern bei der Priorisierung hilft.

"Wer bei uns einen Samenbaukurs besucht hat, darf danach aktives Mitglied werden und Samen gratis aus unserer Bibliothek bestellen. Nach der Ernte dürfen die Gärtner einen Teil der neuen Samen behalten, den Rest schicken sie an uns zurück. So können wir den Überblick über den Bestand behalten", so Egloff über den Reproduktionsprozess. Der Katalog enthält Samen von offiziell registrierten Sorten bis hin zu lokalen Raritäten. Manchmal würden sie auch Zusendungen von Leuten erhalten, die auf dem Dachstock der verstorbenen Grossmutter ein altes Samenpäckchen gefunden hätten. Ich müsse mich nicht wundern, wenn einige Sorten sonderbare Namen wie "Grosi Muri-Boswil" aufweisen würden, warnt mich Egloff, bevor sie die schwere Tür zur Samenbibliothek öffnet.

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Von offiziell registrierten Sorten bis hin zu lokalen Eigenarten: Zwei Samensäckchen

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das sich in mir breit macht, als ich die Samenbibliothek betrete. Umgeben von Tausenden biologischen Zeitkapseln, werde ich mir allmählich über den kulturhistorischen Wert bewusst, den dieser kühle, sterile Raum beherbergt. Die Samensammlung ist das Ergebnis der kollektiven Arbeit unzähliger Generationen, die schon lange vor unserer Zeit ihre Kraft und ihre Liebe in die Kultivierung unterschiedlicher Pflanzenarten investiert hatten. Doch den Menschen hinter der Stiftung geht es um mehr als um die blosse Erhaltung der Samenvielfalt. Es geht ihnen um das kulturelle Erbe als Ganzes. "Die wenigsten Schweizer wissen noch, welche Gerichte man aus einer Haferwurzel, oder einer Gartenmelde zubereiten kann, geschweige denn, wie man sowas anpflanzt", bedauert Egloff. Man merkt der Frau schnell an, dass sie die kuriosen Pflanzensorten schon lange ins Herz geschlossen hat.

Kriminalisiertes Saatgut

Dabei wären 2009 zahlreiche Nischensorten in der Schweiz beinahe in die Illegalität verdrängt worden, weil der Bund in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der EU das Saatgutverkehrsgesetz übernehmen wollte. Dieses Gesetz regelt, welche Sorten zwischen Züchtern verkauft, getauscht oder verschenkt werden dürfen. Viele der Sorten aus der Basler Samenbibliothek wurden von diesem Gesetz aber gar nicht erfasst und hätten demnach nicht mehr getauscht werden dürfen. Deswegen hat Pro Specie Rara zusammen mit der Erklärung von Bern / Public Eye und anderen Organisationen erfolgreich gegen das Saatgutverkehrsgesetz gekämpft. Kleinstmengen sind – anders als in der EU – in der Schweiz seither nicht mehr registrierungspflichtig und dürfen von allen weiterhin verwendet werden.

Vor der Illegalität geschützt: Pro Specie Rara pflanzt einige Nischensorten in den Merian Gärten auch selber an

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Neben dem Saatgutverkehrsgesetz beschränken aber auch Sortenschutzrechte und Patente auf Hybridpflanzen die freie Saatgutversorgung. Während früher praktisch jedes Dorf seine eigenen Gemüse-, Beeren- und Früchtesorten kultivierte, bestimmen heute einige wenige, besonders ertragreiche Hybride das Bild in der Agrarwirtschaft. Ein Hybrid ist eine Pflanze, die aus der gezielten Kreuzung zweier Inzuchtlinien mit unterschiedlichen Eigenschaften hervorgeht. So können in der Natur getrennt auftretende Eigenschaften wie Resistenz und Ertragsreichtum in einer Pflanze vereint werden. Der Vorteil: Landwirte können sich auf gute Ernten verlassen, die den marktwirtschaftlichen Anforderungen wie Symmetrie, Uniformität und gute Lagerfähigkeit entsprechen. Der Nachteil: Hybride können nicht vermehrt werden. Das heisst, dass aus der Ernte der ersten Generation nicht das Saatgut für die zweite Generation gewonnen werden kann, sondern dass Landwirte jedes Jahr neues Saatgut von Saatgutproduzenten kaufen müssen.

Privatisierung der Natur

Patente wurden eingeführt, um Saatgutzüchtern Monopolrechte für ihre neu gezüchteten Sorten zu gewähren. Wie Syngenta gegenüber VICE auf Anfrage erklärt, seien Patente eine "wichtige Ergänzung zum Sortenschutz, da sie einen sinnvollen Investitions- und Forschungsanreiz bieten können." Egloff steht diesen Geschäftspraktiken jedoch kritisch gegenüber: "Besonders in den Ländern des Südens, wo 80 bis 90 Prozent der Bauern mittels Nachbau, Tausch und Verkauf auf lokalen Märkten an ihr Saatgut gelangen, manövrieren die Monopolrechte die Bauern in eine existenzbedrohende Abhängigkeit von den Saatgutmultis. Zudem funktionieren diese Sorten nur, wenn auch die passenden Dünge- und Spritzmittel verwendet werden, welche die Multis gleich mitverkaufen." Syngenta hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass "besseres Saatgut auch in Entwicklungsländern dazu beiträgt, die Ernteerträge zu erhöhen und somit die Einkünfte der Landwirte zu sichern." Dass ein Teil dieser Einkünfte von den Bauern wiederum für den Einkauf von neuem Saatgut verwendet werden muss, kommentiert Syngenta nicht weiter.

Aus einer ethischen Perspektive stellt sich für Egloff ausserdem die Frage, inwiefern die DNA-Sequenz einer Zuchtpflanze überhaupt patentierbar sei. Denn die Saatgutmultis investieren zwar intensiv in die Entwicklung von besonders ertragreichen und resistenzfähigen Hybriden, doch die Eigenschaften der Pflanzen habe schlussendlich die Natur – und nicht der Saatgutmulti – hervorgebracht, betont Egloff. Syngenta relativiert auf Anfrage von VICE: "Es muss korrekt zwischen Entdeckung und Erfindung unterschieden werden." So habe Alexander Flemming das Penicillin nicht nur als Naturprodukt aus Schimmelpilzen entdeckt, sondern eben auch dessen Verwendung als Arzneimittel zur Behandlung von Infektionen erfunden.

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Seltene Sorten und gefährdete Rassen: Pro Specie Rara in den Merian Gärten

Egloff hält dieser Rechtfertigung allerdings entgegen, dass in den letzten Jahren auch immer mehr Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen wie Peperoni oder Brokkoli erteilt worden seien. Zudem patentierten die Saatgutmultis nicht nur die Samen, sondern die gesamte daraus hervorgehende Wertschöpfungskette vom Saatgut über die Pflanze bis hin zu den Endprodukten wie zum Beispiel Brot oder Bier. Um auf diese Problematik aufmerksam zu machen, bietet Pro Specie Rara mit ihrem Stadt-Tomaten-Projekt urbanen Menschen die Möglichkeit, nicht patentiertes Saatgut von Tomaten, Peperoni, oder Schlafmohnsorten selber auf dem Balkon zu setzen.

"Orwell'sche" Zustände

Entgegen ihrem eigentlichen Zweck, Erfindungen zu schützen und damit einen Anreiz für Innovationen zu schaffen, behinderten gemäss Egloff Patente auf Saatgut Innovationen in der Pflanzenzucht massgeblich; Denn sie erhöhen die Markteintrittsbarrieren für neue Akteure. Tatsächlich hat die Konzentration im Saatgutmarkt seit den 1980er-Jahren exponentiell zugenommen, wie eine Studie des EU-Parlamentes von 2013 zeigt. Während 1996 die neun grössten Saatgutmultis bloss 17 Prozent des weltweiten Saatgutmarktes ausmachten, so waren es 2009 bereits 44 Prozent. 2012 kontrollierten dieselben neun Firmen über 60 Prozent des gesamten Marktes.

Geht es nach den Saatgutmultis, soll dieser Konzentrationsprozess 2017 mit den geplanten Firmenübernahmen von Syngenta durch Chemchina, und Monsanto durch Bayer sowie der Fusion zwischen DuPont und DowChemical weitergehen. Falls die entsprechenden Kartellbehörden keine Einwände vorbringen, würden Ende 2017 drei Konglomerate 60 Prozent der Märkte für kommerzielles Saatgut und für Agrarchemikalien beherrschen, wie die NGO Germanwatch in ihrem 2017 publizierten Konzernatlas feststellt. Gemäss Egloff wären das unhaltbare, orwell'sche Zustände. "Weniger Wettbewerb und Innovation führen zu erhöhten Preisen und einer kleineren Auswahl in der Gemüseabteilung. Längerfristig sehe ich die Ernährungssicherheit gefährdet."

Seltener Brokkoli: Romanesco

Auf der Rückfahrt werde ich mir über die oft unterschätzte Bedeutung von Saatgut bewusst; Es ist neben Wasser die wohl existentiellste Ressource für die Menschheit. Sie wurde von unseren Vorfahren als gemeinsames Erbe betrachtet. Der Gedanke, dass in den letzten hundert Jahren drei von vier Sorten dieses Erbes bereits ausgestorben sind, und Ende dieses Jahres mehr als die Hälfte des verbleibenden Saatguts von drei privaten Konglomeraten kontrolliert werden könnte, löst in mir ein Gefühl der Ohnmacht aus. In Anbetracht dieser Zukunft tut es gut zu wissen, dass es in Basel ein Backup von biologischen Samen gibt – nur für den Fall, dass die Karten, auf die Monsanto und Co. setzen, doch nicht die richtigen sein sollten.

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