Der älteste Tintling der Welt: Warum hatte Ötzi so viele Tätowierungen?
Die Leiche von Ötzi. Auf der Website Icemanphotoscan.eu lassen sich auch einzelne Tattoos anklicken und in hochauflösenden Bildern aus der Nähe betrachten. Bild: South Tyrol Museum of Archaeology/Eurac/Marco Samadelli/Gregor Staschitz. Verwendet mit freundlicher Genehmigung.

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Der älteste Tintling der Welt: Warum hatte Ötzi so viele Tätowierungen?

Unser legendärer Vorfahre hatte 61 Tattoos auf seinem Körper. Die Hinweise verdichten sich, dass die Tattoos kein Körperschmuck waren sondern den Gletschermann gesünder machten.

Die verdrehte Leiche liegt mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Von hinten erschossen und dann verblutet. Der Körper des etwas 45-jährigen Mannes ist mit 61 Tattoos übersät. Ein Gang-Mitglied? Nein. Der Tote liegt schon eine ganze Weile da, als er gefunden wird—etwa 5.300 Jahre. Es ist der älteste Tätowierte der Welt, Ötzi.

Das war nicht immer so: Bis vor kurzem glaubten Mumien-Forscher noch, das älteste Tattoo gehöre einer Trocken-Mumie der Chinchorro-Kultur, einem Fischervolk aus Chile. Der Chinchorro-Mann trug eine gepunktete Linie als Schnurrbart—gestochen mit Kohlepulver. Zwei Jahrzehnte lang glaubte die Fachwelt, er wäre 500 Jahre älter als Ötzi. Tatsächlich ist den Wissenschaftlern beim Aufschreiben das Datums ein Tippfehler unterlaufen, den lange Zeit niemand bemerkte. In Wahrheit ist Ötzi 1.500 Jahre älter als „Mr. Mustache" und damit ab Februar 2016 wieder Guinness-Rekordhalter.

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Dann erscheint im Fachblatt Journal of Archaeological Science: Reports eine Studie, die den Fehler belegt. Darin stellen die Autoren die Frage: Wieso trug Ötzi überhaupt so viele Tattoos? Die Frage gibt der Wissenschaft noch immer Rätsel auf. Einer der Experten, der sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt, ist der Archäologe und Tattoo-Forscher Lars Krutak. Er ist nicht nur selbst tätowiert sondern beschäftigt sich auch seit 20 Jahren mit Naturvölkern und deren Tattoos. Seine These: Ötzi habe mit seinen Tattoos gezielt Krankheiten behandelt. Krutak hat auf Reisen zu Naturvölkern überall auf der Welt ebenfalls Hinweise gefunden, die seine Vermutung stützen.

Ötzis Körperbilder wurden übrigens nicht gestochen, sondern mit scharfen Steinklingen in die Haut geritzt. Anschließend rieb der Tätowierer dunkelblaues Kohlepulver in die Wunden, welches wahrscheinlich aus Feuerstellen stammte. Darauf deuten auch winzige, mineralische Farb-Sprenkel hin, die sich im Ruß befinden.

So entstanden 61 Tattoos, die der Tätowierer im Laufe der Zeit immer wieder nachstach. Fast alle Ötzi-Tattoos sind parallele Linien, bis auf zwei Kreuzchen an Knie und Knöchel und zwei gestochene Armbändchen am Handgelenk. Der Gletschermann könnte alle selbst gestochen haben—mit Ausnahme von zwei Tattoos am Rücken, die sich etwas höher als heutige Arschgeweihe befinden.

Einige der Tattoos auf Özis Rücken im UV-Licht. Bild: South Tyrol Museum of Archaeology/Eurac/Marco Samadelli/Gregor Staschitz (Verwendet mit freundlicher Genehmigung)

Ötzis Körperzeichnungen waren jedoch vermutlich kein Körperschmuck, sondern dienten wohl eher als medizinische Tattoos zur Schmerzlinderung: „80 Prozent der Ötzi-Tattoos liegen an Körperstellen, die die traditionelle chinesische Akupunktur zum Behandeln von Rheuma nutzt", führt Krutak in einer E-Mail an Motherboard aus.

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Mit Ötzi könnte der Ursprung der Akupunktur plötzlich nicht mehr in China, sondern in Europa liegen.

Das ergibt durchaus Sinn, denn Ötzi litt unter Gelenkverschleiß, Arthrose, Peitschenwürmern im Darm und an Gallensteinen—seine Tattoos liegen über den richtigen Akupunktur-Leiterbahnen, um diese Schmerzen zu lindern. Das bestätigten Akupunkteure, die die Ötzi-Forscher zuvor konsultiert hatten, schon 1998.

Die Akupunktur-Theorie zu beweisen wird schwierig, wäre aber eine Sensation: „Der Ursprung der Akupunktur würde damit um 2.000 Jahre vorverlegt und läge nicht mehr in China, sondern in Europa. Das würde die Geschichte umschreiben", sagt Mumienforscher Albert Zink vom EURAC-Institut für Mumien und den Iceman. Er und sein Team hatten die Tattoos entdeckt und beschrieben—das 61. und letzte erst Anfang 2015, mit Hilfe einer UV-fähigen Kamera.

Indes bleibt Ötzi eine Quell wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse: Erst vor kurzem haben die EURAC-Forscher herausgefunden, dass Ötzi das Bakterium Helicobacter pylori im Magen hatte, das Geschwüre und sogar Krebs verursachen kann. Bald kommt eine neue Studie zum Mageninhalt des Eismannes heraus, in der steht, „was Ötzi aß, wie viel Fett und Eiweiß drin war und welche anderen Bakterien", verrät Albert Zink schon mal vorab, welche speziellen Aspekte aus dem Leben des Urzeitmenschen aktuell von ihm erforscht werden.

Ob er in Zukunft noch weiter an den Ötzi-Tattoos forscht? Nach der Entdeckung überlässt Zink das erst einmal anderen Forschergruppen. Aber eins interessiert ihn noch brennend: „Wir wollen die Ausprägung von Ötzis Krankheiten noch einmal untersuchen und in Relation zu den Tätowierungen setzen—und damit Fragen beantworten wie: Steigt mit der Stärke der Beschwerden die Anzahl therapeutischer Tattoos?"

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Therapeutischen Akupunktur-Tattoos ist Krutak auf seinen Reisen schon häufiger begegnet. Zum Beispiel auf der Sankt-Lorenz-Insel bei Alaska, wo ein Eskimo-Volk, die Yupik, sich Tattoos an denselben Stellen wie Ötzi stechen. Auch sie setzen die Tätowierung bewusst gegen Rheuma-Schmerzen ein. Die Yupik mischen die Holzkohle mit Urin und Robbenöl. Das Gemisch halten sie für entzündungshemmend. Japanische Ureinwohner, die Ainu, stachen sich immer schon Strich-Tattoos mit Holzkohlepulver auf Rücken und Schultern, ebenfalls gegen Rheuma und Verstauchungen. Die Heil-Tattoos der Ainu sehen jenen von Ötzi übrigens zum Verwechseln ähnlich.

Dass bei medizinischen Tattoos weltweit Holzkohlepulver zum Einsatz kommt, ist kein Zufall: Holzkohle absorbiert Geruchs- aber auch Giftstoffe; ihre Heilwirkung ist lange schon bekannt. Auch in Ötzis Magen und Darm fanden sich Kohlereste—ein weiteres Zeichen dafür, dass der von Parasiten geplagte Gletschermann Pflanzenkohle als Arznei verwendete.

Sogar moderne Chirurgen setzen Kohle-Tattoos ein: Nach dem Entfernen von Schilddrüsen-Tumoren wächst das Krebsgewebe in manchen Fällen nach. Um die Patienten nicht am Hals zu verletzen, tätowieren Chirurgen daher vorab das nachgewachsene Krebsgewebe mit einer Kohlelösung. Danach erst schneiden sie die schwarz markierten Geschwülste per Skalpell aus dem Hals. Die Ärztin Linda Chami hat die Prozedur bereits mit Erfolg an über 100 Patienten im Pitié-Salpêtrière-Krankenhaus in Paris getestet.

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Tattoo-Akkupunktur als Selbstversuch. Und der Proband fühlt sich besser.

Etwas weniger wissenschaftlich ging es bei einem anderen Feldversuch zu: Zum 20. Jahrestag des Ötzi-Fundes wollte der dänische Tätowierer Colin Dale überprüfen, was an der Akupunktur-Theorie dran ist. Er konnte den Schmied David Schütze, der über Rücken- und Gelenksschmerzen, Asthma und übermäßiges Schnarchen klagte, als Probanden gewinnen. Ein Physiotherapeut und Akupunkteur zeigte Dale die richtigen Akupunktur-Meridiane. Dann stach dieser mit einer Knochennadel 55 Tattoos, allesamt Linienpaare in bester Ötzi-Manier.

Drei Monate später haben sich Schützes Beschwerden subjektiv gebessert. Das Rheuma sei fast verschwunden, das Asthma zwar wieder da, aber nur noch schwach, erklärte er Irg Bernhardt, dem beratenden Akupunkteur. Der meint, therapeutische Tätowierungen ersetzen zehn bis fünfzehn Akupunktur-Sessions. Wissenschaftlich gesichert ist das alles aber freilich nicht.

Genauso schwierig ist es, wissenschaftlich zu beweisen, dass Ötzis Tattoos therapeutisch waren. Trotzdem glaubt keiner der Wissenschaftler, dass sie nur als Körperschmuck dienten. Dafür sind sie viel zu versteckt platziert. Ötzi-Forscher Zink sagt: „Eine kosmetische Anwendung kann man sicher ausschließen. Falls Ötzis Tattoos rituell waren, erschließt sich mir ihre Symbolik nicht, es sind ja keine Tier-Darstellungen. Es spricht schon sehr viel dafür, dass Ötzis Tattoos zumindest der Versuch einer Therapie waren."

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Tattoos an Ötzis Bein. Bild: South Tyrol Museum of Archaeology/Eurac/Marco Samadelli/Gregor Staschitz. Verwendet mit freundlicher Genehmigung.

Über die ältesten Tattoos, ihren Zweck und ihren Träger wird schon bald erneut im großen Rahmen diskutiert: Zum 25. Fundjubiläum im September ruft Zink bei einer Tagung in Bozen alle ehemaligen und aktuellen Ötzi-Forscher zusammen, um über die Genetik, Mumien-Tattoos und die letzten noch verbliebenen Geheimnisse des Gletschermannes zu reden.

Dazu gehört auch, dass noch lange nicht klar ist, wer den ältesten Tätowierten gemeuchelt hat und warum. „Wir arbeiten jetzt mit Profilern aus München, die Experten für Tatort-Rekonstruktionen sind", sagt Albert Zink. „Die schauen sich nur die harten Fakten an – Interpretationen und Theorien wollen die nicht hören. Vielleicht erfahren wir dadurch ja mehr über das Motiv. War es ein Mord aus Rache? Oder gar ein Raubmord?"

So oder so: Dass es Mord war, ist schon mal klar: Denn Ötzi war trotz zahlreicher Krankheiten und Beschwerden in körperlicher Topform. Gut möglich, dass auch seine medizinischen Tattoos seine Gesundheit gestählt haben.

Martin Angler arbeitet aktuell als fester Informatiker an der EURAC.