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Ingress-Gamer machen Konzentrationslager zu Augmented Reality-Spielfeldern

Wo liegen die Grenzen des GPS-Gaming?
Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Motherboard

Das Augmented-Reality-Spiel Ingress bringt Abenteuer in den schnöden Alltag. Du läufst mit deinem Smartphone oder Tablet durch die Stadt und hackst, eroberst oder zerstörst dabei Portale, die Energie, sogenannte exotische Materie, bergen. Es ist die Gamification des Lebens, bereit gestellt von der Google-Tochter Niantic.

Ingress-Portale sind in der Regel mit real existierenden Sehenswürdigkeiten verknüpft, obwohl rein theoretisch auch an jedem beliebigen anderen Ort exotische Materie ausströmen könnte (welche natürlich die Menschheit gefährdet—ein wenig Drama muss sein). Doch am härtesten umkämpft sind die Portale, die sich an besonders prägnanten, gerne auch historischen Sehenswürdigkeiten, Statuen oder Bauwerken befinden. Und seit neustem gibt es die Augmented Reality auch in Konzentrationslagern, wie das Zeit Magazin berichtet.

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Betroffen von dem GPS-Spieltrieb war zum Beispiel Sachsenhausen, wo sich auf dem Gelände zeitweise 74 Ingress-Portale befanden. In diesem wie auch den anderen großen deutschen ehemaligen Konzentrationslagen in Dachau, Hamburg-Neuengramme, Buchenwald oder Mittelbau-Dorau hat Google Ingress mittlerweile deaktiviert und die Aktivitäten auf den Geländen gelöscht. In weniger bekannten KZs wie Hinzert, Oranienburg oder Osthofen sind die Portale jedoch teilweise noch bespielbar.

Das Portal am Eingangstor von Sachsenhausen nannte sich „Arbeit macht frei". Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Zeit Magazin

Sachsenhausen Gedenkstätte in der Bildmitte rechts oben. Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Motherboard

Der Top-Ingress-Zocker Morka, der zeitweise Weltranglisten-Erster war, berichtete uns im Interview, dass er und seine Crew ebenfalls besonderen Wert auf das Erobern historischer Orte legen. Damit meinte der 30-jährige Pariser allerdings eher Denkmäler, geschichtsträchtige Plätze und historische Häuserfassaden wie den Eiffelturm oder die Statue von Louis XIV am Place des Victoires.

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Und auch wenn die Ingress-Portale im KZ Sachsenhausen selbst mittlerweile gelöscht sind, gibt es in der unmittelbaren Umgebung noch immer reguläre Spielfelder. Eines befindet sich an der Büste des evangelischen Theologen und Gegner des Nationalsozialismus Heinrich Grüber.

Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Motherboard

Für viele Gamer ist das Bespielen geschichtlich aufgeladener, sensibler Orte nicht verwerflich. Solange die Portale nicht gerade „Arbeit macht frei" heißen, finden es manche auch gar nicht weiter schlimm, die Augmented Reality, die ohnehin oft historische Spielstätten mit einbezieht, auch auf solche Gedenkstätten zu erweitern.

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Diese Reaktion steht jedoch im völligen Gegensatz zu den Aussagen der Betreiber der Gedenkstätten. „Wir sind hier alle sehr erschüttert", äußerte sich Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen im Zeit Magazin. „Es muss dafür gesorgt werden, dass auch kleinere KZ-Gedenkstätten von Google-Spielen verschont bleiben."

Google nahm zwar die Löschung zahlreicher umstrittener Portale vor, die Orte und Namen der Spielfelder werden jedoch von den Nutzern selbst bestimmt und die Ingres-Supportseite regt die Gamer auch dazu an, sich fleißig einzubringen. „Hilf uns, das Spielfeld zu füllen, indem du mögliche Portale direkt über deinen Scanner ortest, fotografierst und einreichst."

Überblick über Auschwitz Birkenau. Die Ingress-Spielfeldern auf dem Gelände der ehemaligen KZs wurden inzwischen gelöscht; es befinden sich nur noch außerhalb und in der Umgebung andere Portale, ohne Zusammenhang zu den KZs. Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot Motherboard

Wie die Karte oben zeigt sind die Portale in Auschwitz-Birkenau von Google mittlerweile gelöscht worden, in weniger bekannten Holocaust-Gedenkstätten finden sich teilweise aber immer noch Ingress-Spielfelder. So zum Beispiel am Aussenlager des KZ-Natzweiler-Struthof in Leonberg. Dort fertigten zur Zeit des Nationalsozialismus tausende Zwangsarbeiter im Tunnel für die deutsche Rüstungsindustrie Tragflächen des Düsenjägers Me 262.

Auf Grund der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen starben viele der Häftlinge und wurden zum großen Teil auf dem Blosberg, der heute als Mahnmal Blosberg bekannt ist, in Massengräbern beigesetzt. Die genaue Zahl der Opfer lässt sich nicht benennen, doch die Höchtbelegungsstärke, die im Januar 1945 in Leonberg erreicht worden war, beziffert sich auf 3.200 KZ-Häftlinge.

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KZ-Gedenkstätte Leonberg. Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Motherboard

Auf dem Gelände rund um das ehemalige Führerhauptquartier Wolfsschanze, wo sich weitläufige Bunkeranlagen befinden, sind auch nach wie vor einige Portale verzeichnet:

Bild: Ingress/ Niantic Lab. Screenshot: Motherboard

Diese Vorfälle werfen in jedem Fall allgemeine Fragen dazu auf, wie wir Regeln dafür finden können, wie in der Augmented Reality mit historisch sensiblen Orten umzugehen ist. Gleichzeitig steht fest, dass nutzergenerierte Portaleingänge auf dem Gelände von Gedenkstätten zumindest ein großes Missbrauchspotential darstellen.

Der heute 95-jährige Dachau-Überlebende Jean Thomas hat eine ganz klare Sichtweise auf die Ereignisse. Er wurde 1944 als Angehöriger des französischen Widerstands in einem Transport von Paris nach Dachau befördert und ist entsetzt von dem respektlosen Umgang der Ingress-Spieler mit diesen ehemaligen Orten des Grauens. „Von den 100 Kameraden in meinem Waggon starben 71, die waren nicht virtuell. Man kann an solch symbolträchtigen Orten nicht spielen, das ist ein Skandal."