FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Hier ist die radikalste Idee zur Klimarettung: Keine Kinder kriegen

Kinder sind niedlich, aber leider viel zu umweltschädlich, argumentiert ein Bioethiker und löst damit einen Proteststurm aus. Doch hat er wirklich Unrecht?
Bild: Shutterstock

Saisonal einkaufen, bisschen Fahrradfahren, die Waschmaschine voll laden und zu einem unabhängigen Ökostromanbieter wechseln—es gibt viele Klimarettungs-Tipps, die sich einigermaßen einfach und ohne große Einbußen umsetzen lassen.

Doch was ist mit unserem Wunsch, sich weiter fortzupflanzen? Sollte die Wahl der Familiengröße tatsächlich eine völlig unbelastete, freie Entscheidung zwischen zwei Menschen sein—oder handeln Eltern mit jedem Kind selbstsüchtiger, weil sich unser Planet kaum mehr neue (und schon gar keine wohlhabenden und verschwenderischen!) Kinder leisten kann?

Anzeige

Folge Motherboard auf Facebook, Instagram und Snapchat

Diese radikale These vertritt Travis Rieder, ein Philosoph und Bioethiker an der John Hopkins University, und sie hat ihm über 70.000 Shares auf Facebook und mindestens genauso viele erboste Kommentare eingebracht. Er ist—je nachdem, wen man fragt—der Schöpfer der moralisch korrektesten und radikalsten oder der absolut dümmsten Idee zur Weltrettung bislang. Denn Rieder fordert tatsächlich: Wer es ernst meine mit der Erhaltung der Menschheit, solle sich bitte dreimal überlegen, ob man sich wirklich zwingend fortpflanzen müsse.

Partys für Schwangere? Einen Toast auf den werdenden Vater? Absolut falsch, findet Rieder, denn ein weiteres Kind sei kein Grund zum Feiern, sondern aus ethischer Sicht eine nicht zu verantwortende Belastung derer, die sich nicht wehren können.

„Folgendes passiert, wenn ich ein Kind bekomme: Ich erschaffe bewusst ein Wesen, das proportional viel mehr Schaden [zum Klimawandel] beisteuert, und nicht so sehr leiden wird wie ein anderes Kind. Und das ist doch nicht fair", sagt er in einer Vorlesung, bei der der US-amerikanische Radiosender NPR zuhören durfte.

Was ist wohl moralisch besser zu rechtfertigen: „Menschen glücklich machen" oder „glückliche Menschen machen"?

Die Argumente, die Rieder ins Feld führt, unterfüttert er mit beängstigenden Zahlen: Bei einer konservativen Schätzung von einem Temperaturanstieg von 1,5 bis zwei Grad Celsius an der Erdoberfläche werden in den nächsten zehn bis 40 Jahren mindestens 250.000 Menschen pro Jahr durch Klimaschäden sterben—darunter Hitzewellen, Stürme, Überschwemmungen. Diese nahe Zukunft ist kein Schreckensszenario, das sich der Philosoph am Schreibtisch ausgedacht hat, sondern eine Berechnung der Weltgesundheitsorganisation.

Anzeige

Wie bereits bekannt ist, werden die Opfer des Klimawandels vor allem die ärmsten Menschen der Erde sein, während die Reichen (also wir im globalen Norden) für's Erste nicht nur vor den schlimmsten Folgen der Erderwärmung geschützt sein werden, sondern auch durch unseren CO2-intensiven Lebensstil für Tod und Leid in anderen Regionen verantwortlich sind. Ungerechterweise sind wir als Hauptverursacher des Klimawandels durch die Beschleunigung des Klimawandels auf Kosten anderer (Stichwort Ressourcenausbeutung) überhaupt erst zu unserem Reichtum gekommen.

In seiner philosophischen Argumentation gegen das Kinderkriegen unterscheidet Rieder nun zwischen „Menschen glücklich machen" und „glückliche Menschen machen". Ersteres—zum Beispiel, indem man einem Hungernden Essen gibt—mache jemanden glücklich, der vorher unglücklich war. Letzteres—die Zeugung eines Babys, das in wohlhabenden Verhältnissen aufwächst—füge der Welt nur einen neuen glücklichen Menschen hinzu.

„Ich würde argumentieren, dass es lebensfeindlicher ist, die Erschaffung neues Lebens dem Schutz existierenden Lebens vorzuziehen."

Fürsorge für die Menschen, die schon heute in Armut, Krieg und Hunger leben, sei eine moralische Verpflichtung, die den Ungeborenen keinen Schaden zufügt, sondern eine Frage des Respekts für das menschliche Leben, argumentiert Rieder.

Verzichte nur jedes zweite Paar im Laufe seines Lebens auf ein Kind, würden die Aussichten für unseren kleinen Planeten deutlich rosiger ausfallen. Und wer schon ein Kind hat (wie der Philosoph)? Für den läge die moralische Hürde für ein zweites eben nochmal deutlich höher.

Anzeige

Kritikern, die ihn „lebensfeindlich" nennen, entgegnet Rieder: „Ich würde argumentieren, dass es lebensfeindlicher ist, die Erschaffung neues Lebens dem Schutz und der Fürsorge existierenden Lebens vorzuziehen. Oder sogar, dem existierenden Leben zumindest nicht zu schaden."

Der steigende Meeresspiegel durch die Erderwärmung führt zu immer mehr Überschwemmungen—aber erstmal nicht bei uns, sondern wie hier im indischen Chittagong. Moralisch zu rechtfertigen, ist unser Lebensstil deshalb trotzdem kaum. Bild: imago

Aber würde dann nicht die Wirtschaft komplett zusammenbrechen, wenn es kaum mehr Kinder gibt?, fragt sich an dieser Stelle vielleicht der wachstumsorientierte Rationalist erschrocken, der sich schon heute von Rentnern überrannt fühlt. Die philosophische und ökonomische Antwort darauf wäre, dass unser Wirtschaftswachstum genau wie unser Bevölkerungswachstum endlich sind und natürlichen Grenzen unterliegen—„und wir können uns jetzt überlegen, wie wir unsere Wirtschaft schützen, während wir auf eine nachhaltige Bevölkerung hinarbeiten oder das Problem ignorieren, bis die Natur es uns aufzwingt—vielleicht unerwartet oder mit Gewalt", schreibt Rieder bei The Conversation.

Cash statt Babies—oder Strafe.

Rieder und zwei seiner Kollegen gehen in einem Paper sogar noch weiter: Um die Idee global durchzusetzen, solle man Frauen für regelmäßige Verhütung bezahlen, so wie es in manchen indischen Staaten schon praktiziert wird—und diejenigen, die trotzdem Kinder kriegen, steuerlich benachteiligen. Also Cash statt Babys oder Strafe? Ja, das sei aus moralischen und Umweltschutzgründen ein Muss, findet der Philosoph.

Wenig überraschend teilen dann auch nicht alle Ethiker seine Meinung. „Das bedeutet im Klartext doch nur, dass es viel leichter für Reiche wird, Babys zu bekommen", protestiert die Ethikerin Rebecca Cookler von der Georgetown University gegenüber NPR. Rieders Idee von sozialer Gerechtigkeit durch die Begrenzung auf Kleinstfamilien würde so völlig ad absurdum geführt werden.

So richtig ins Abseits hat sich Rieder trotz seiner provokanten Thesen nicht gespielt. Und genau das ist es, was er damit vor allem erreichen möchte. Dass diese Diskussion überhaupt geführt werden könnte, sei „der erste Schritt hin zu einer Zukunft, für dessen Erschaffung wir nicht verdammt werden".

Als größten Vorteil seiner Idee sieht der Philosoph die unkomplizierte Umsetzung: Es sei ja kein komplizierter staatlicher Steuerungsmechanismus nötig, sagt er. „Wir wissen doch ganz genau, wie man weniger Babies macht."

Seine Forderung nennt Rieder „population engineering, die absichtliche Manipulation der Größe und Struktur der menschlichen Bevölkerung". Auch wenn es bis zur Umsetzung auf größerer Ebene noch viel zu diskutieren und einzuwenden gibt, hat Rieder die ersten Teilnehmer des Population Engineering schon gefunden: Seine Frau, die er lange genug belabert hat und seine Tochter, die aus moralischen Gründen Einzelkind bleiben wird.