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Riesige Studie zeigt, was wirklich gut und wirklich schlecht an Cannabis ist

Forscher haben über 10.000 wissenschaftliche Arbeiten durchkämmt und in einer Metastudie zusammengefasst, um Gras-Mythen von der Wahrheit zu trennen. Das Ergebnis: Es gibt noch viel zu tun.
Gras wird immer häufiger legalisiert, also muss es auch besser erforscht werden. Bild: Imago

Es ist sehr leicht, angebliche Cannabis-Wahrheiten auf Stammtisch-Niveau herunterzubrettern: Hilft beim Einschlafen, something something chronische Schmerzen? Aber: Einstiegsdroge! Und: Bloß nicht, wenn man schwanger ist!

Etwas schwerer, doch weitaus ergiebiger ist es dagegen, die Ergebnisse von über 10.000 wissenschaftlichen Arbeiten zusammenzufassen, um mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen zu können, was stimmt und was bloß Mythos ist. Eine solche gigantische Metastudie, also eine Studie von Studien und anderen Metastudien, wurde jetzt von Medizinern, Psychologen und Neurowissenschaftlern der US National Academies of Sciences, Engineering and Medicine veröffentlicht, einem Zusammenschluss vieler namhafter US-Universitäten. Ihr Ziel: Die gesicherten positiven und negativen Effekte des Kiffens aufzuschlüsseln und auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen.

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Das ist auch nötig: Die Legalisierung von Marihuana schreitet voran, in den USA haben allein im November sieben Staaten Marihuana entweder als Arzneimittel oder als Freizeitbeschäftigung legalisiert (insgesamt gibt es jetzt 28 US-Bundesstaaten mit legalem Gras) und auch in Deutschland laufen seit Jahren Diskussionen über eine mögliche Legalisierung. Der Markt boomt und trotzdem ist es, aus wissenschaftlicher Sicht, noch immer nicht so ganz klar, was genau die gesundheitlichen Vor- und Nachteile sind.

Gut bei Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen und gegen Übelkeit in der Chemo: Wie Cannabis hilft

Zunächst die guten Nachrichten für Kiffer: Ja, es gibt starke wissenschaftliche Belege für positive Effekte von Cannabis. Leider sind es nur nicht ganz so viele wie gern propagiert. So gut wie eindeutig durch viele qualitativ hochwertige Untersuchungen belegt ist zum Beispiel, dass THC gegen chronische Schmerzen und gegen Übelkeit in der Chemotherapie hilft. Vorherige Metastudien mit einem kleineren Datensatz waren gerade bei diesen Aspekten etwas vorsichtiger. Bei Multipler Sklerose hilft Cannabis ebenfalls, weil es die Heftigkeit von Spasmen und Krämpfen lindert—das sagen zumindest die Untersuchungen, in denen Patienten befragt wurden, andere Studien sind da skeptischer.

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Auch für die Behandlung von Aufmerksamkeitsdefiziten (ADHD/ADHS) bei Jugendlichen sind Cannabinoide unbedenklich—zumindest wenn es um das Suchtpotential geht. Geht es jedoch um die Gehirnentwicklung bei Jugendlichen, muss man auch diese Ergebnisse wieder mit Vorbehalt betrachten. Weiterhin als gesichert gilt, dass Marihuanakonsumenten keinem größeren Risiko ausgesetzt sind, an Krebs zu erkranken.

Von Lernschwierigkeiten bis chronischem Husten: Wie Cannabis schadet

Und jetzt die schlechten Nachrichten: Cannabis hat durchaus negative Nebeneffekte und nicht alle sind komplett harmlos — selbst wenn sie nicht besonders überraschend sind. Laut der Metastudie gibt es starke Belege dafür, dass Cannabis-Konsum für Fahrer zu einem erhöhten Risiko für Verkehrsunfälle führt (…Überraschung!). Mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlimmert das Rauchen von Cannabis außerdem bestehende Atemprobleme, zum Beispiel bei chronischer Bronchitis. Für die These, Kiffer würden häufiger an Lern- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten leiden, gibt es ebenfalls schon einige, aber noch keine eindeutigen Belege.

Je früher man mit dem Konsum anfängt, desto eher könnte auch ein Problemverhalten (also negative Auswirkungen auf soziale Kontakte, akademische Leistung oder die Entwicklung von psychologischen Problemen) entwickelt werden. Besonders gefährdet sind Männer.

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Das alles ist wenig überraschend, interessanter dagegen sind die Folgen von Cannabis für Schwangere. Ziemlich sicher belegt ist nämlich, dass Cannabis-Konsum in der Schwangerschaft ein geringeres Gewicht des Kindes zur Folge hat, wenn auch (bislang) keine anderen eindeutig belegbaren gesundheitlichen Auswirkungen feststehen.

Bild: Imago

Letztlich sind auch die Effekte auf die geistige Gesundheit von Nutzern nicht zu vernachlässigen. Je mehr Gras konsumiert wird, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, Schizophrenie oder „eine andere Psychose" zu entwickeln. Zwar zeigen einige hochwertige Studien dass Cannabis psychisch Erkrankten helfen kann, genauso gibt es aber auch überzeugende Studien, die das Gegenteil belegen: dass Cannabis-Konsum z.B. eine bipolare Störung noch weiter verschlimmert oder im schlimmsten Fall sogar auch die Wahrscheinlichkeit eines Suizids erhöhen kann.

Fazit: Es ist kompliziert

Diese Widersprüche machen die 400-seitige Metastudie schwer zu bewerten. Nur für wenige Folgen von Cannabis-Konsum gibt es genug hochwertige Studien, um wirklich Fehler, Bias oder andere Wirkungen ausschließen zu können. Ein Beispiel: Für die These, dass Cannabis bei den Folgen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) hilft, gibt es nur eine einzige Studie, die das belegt. Die Auswirkungen von Cannabis aufs Immunsystem sind praktisch unerforscht.

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Diese Probleme sind den Forschern bewusst und deswegen wollen sie—mehr Gras: „Es ist oft schwer, Zugang zu bekommen zur benötigten Menge, Qualität und Art von Cannabis-Produkt, um spezifische Fragen zu den Vor- und Nachteilen von Cannabis-Konsum zu beantworten", heißt es im Fazit der Studie. Der nächste Schritt, so die Forscher, sei jetzt die Forschung voranzubringen. Es braucht standardisierte Forschungsmethoden, Fragenkataloge und mehr öffentliche Gelder, um auch alle anderen Effekte von Cannabis zweifelsfrei zu erforschen und den Stammtisch-Mythen durch belastbare Fakten beizukommen, so die Forscher.

Die komplette Studie ist online abrufbar.