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trauma

Ein Raubüberfall hat meinen Urlaub und dann mein Leben zerstört

Ich hatte ein Messer an der Kehle, aber die Folgen des Vorfalls waren noch viel erschreckender.
Links der Rustaweli-Boulevard in Tiflis, wo Nick ausgeraubt wurde | Foto:Kober | Wikimedia Commons

| Gemeinfrei || rechts Nick Martinello | Foto: privat

Es war meine letzte Nacht in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dort hatte ich einen Monat meiner dreimonatigen Auszeit in Europa verbracht – als Kanadier wollte ich mir viel Zeit nehmen, um möglichst viel von dem Kontinent zu erkunden. In jener letzten Nacht in Georgien kam ich sehr betrunken von der Party eines Freunds nach Hause, es war vielleicht drei Uhr morgens. Ich stieg auf der Hauptstraße aus dem Taxi, stolperte nach Hause und war sofort weg, als ich mich aufs Bett legte.

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Etwa eine Stunde später weckte mich lautes Hämmern an meiner Wohnungstür. Ich schaute aus dem Fenster und sah eine junge Frau, die allein im Hof des alten Gebäudes stand. Sie rief irgendwas auf Georgisch. Ich verstand kein Wort, aber es klang, als steckte sie in Schwierigkeiten. Ich machte die Tür auf und fragte, was los sei. Sie versuchte, sich in die Wohnung zu zwängen – als ich die Tür schließen wollte, quetschte sie sich in den Spalt. Zwei Männer kamen um die Ecke gerannt, in meine Wohnung, und schleuderten mich zu Boden. "Give us your money!", schrien sie mir ins Gesicht.

"Nehmt, was ihr wollt", flehte ich, ebenfalls auf Englisch. Ich hatte nur 20 georgische Lari in meinem Portmonee, umgerechnet etwa 6,50 Euro. Für viele Menschen in Georgien ist das schon ein Tagesverdienst, aber eindeutig zu wenig, um einen Raub zu rechtfertigen. Sie wurden immer aggressiver. Einer der Männer griff sich ein großes Messer vom Küchentresen und stach damit direkt neben meinem Gesicht mehrmals in den Boden. Dabei verlangte er mehr Geld. Der andere Mann durchwühlte derweil meine Wohnung.


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Der Mann mit dem Messer riss meinen Kopf zurück und drückte die Klinge fest an meinen Hals. Die Frau reichte mir Stift und Zettel und befahl mir, die PINs meiner Bankkarten aufzuschreiben. Dann gab sie mir mein Handy und forderte mich auf, das Passwort einzugeben. Sie setzten mein Handy auf die Werkseinstellungen zurück – vermutlich, damit man es nicht über Security-Apps verfolgen konnte. Dann führten sie mich ins Bad, schlossen die Tür und machten das Licht aus.

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Als ich wieder rauskam, waren sie weg und meine Wohnung ein einziges Chaos. Sie hatten alle Wertsachen mitgenommen – meinen Pass, meinen Laptop, mein Handy und sogar eher wertlose Dinge wie meinen Gürtel und ein billiges Paar Sneaker.

Ich stand unter Schock. Ich ging zu dem feinen Hotel nebenan und bat die Rezeptionistin, die Polizei zu rufen. Die Beamten erschienen im Handumdrehen und brachten mich aufs Revier, wo ich etwa 15 Stunden mit meiner Aussage und Papierkram verbrachte. Es dauerte unter anderem so lange, weil sie alles zwischen Georgisch und Englisch hin- und herübersetzen mussten.

Zu kaputt für Urlaub

Für europäische Verhältnisse hat Georgien eine eher schwache Wirtschaft, die Tourismus-Branche ist eine der wichtigsten des Landes. Deshalb nehmen die Behörden Verbrechen gegen Touristen – vor allem gegen westliche Touristen – auch sehr ernst. Die Ermittler legten sich offensichtlich sehr ins Zeug und verhafteten die Verdächtigen bereits am folgenden Tag. Ich bekam all meine Sachen zurück, bis auf ein paar Kleinigkeiten wie meine Sneaker – ich glaube, einer meiner Angreifer trug sie bei der Gegenüberstellung.

Das rechtliche Prozedere wurde für mich beschleunigt, da ich ja eigentlich hatte abreisen wollen. Zwei Tage nach dem Raubüberfall konnte ich das Land verlassen. Man sagte mir, die Diebe hätten gestanden und je vier Jahr Haft plus Bewährung bekommen. Freunde überwiesen mir einen Notgroschen und ich buchte einen Flug nach Istanbul.

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Ich hatte für die restliche geplante Reise schon alles bezahlt, also reiste ich zwei Monate weiter durch Europa. Ich weiß gar nicht wirklich, warum ich das tat. Attraktionen und Sehenswürdigkeiten interessierten mich wenig. Ziellos und pleite schleifte ich mich durch Rom, ohne ein einziges Museum zu betreten. Ich saß in Krakau allein in einer Bar und trank, statt Auschwitz zu besichtigen, was ursprünglich mein Plan für die Zeit in Polen gewesen war. Ich verbrachte drei Wochen in Budapest, in denen ich kaum die Wohnung verließ, die ich gemietet hatte.

Nach dem Schock die Wut

Als ich in meine Heimatstadt Toronto zurückkehrte, war ich von dem Überfall noch immer erschüttert, aber es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was genau in mir vorging. Menschen, die mir nahestehen, empfahlen mir, es mit einer Therapie zu versuchen, und das tat ich. Die Therapeuten, bei denen ich war, fanden es alle schwer, mir eine Diagnose zu stellen. Alle sagten, ich hätte keine Posttraumatische Belastungsstörung. Ich litt nicht an Schlaflosigkeit oder Albträumen, ich erlebte keinen Trigger-Effekt, der mich in Panikattacken oder Flashbacks stürzte. Sie boten mir keine Erklärung dafür, was mit meiner Psyche los war. Die einzige Beschreibung, die sie mir für meinen Zustand gaben war "anhaltende Traumasymptome".

Ich fühlte mich sozial isoliert, als würde niemand verstehen, was ich durchgemacht hatte. Das führte dazu, dass ich weniger Empathie für andere übrig hatte. Ich hielt alle, die noch nie so etwas Traumatisches durchgemacht hatten, für naiv oder feige. Und das machte mich wütend. Wann immer ich mich gestresst fühlte, wurde Wut zu meiner Standardreaktion.

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Manchmal dachte ich, alles sei in Ordnung, und war ganz der Alte, fröhlich und sozial. Aber dann verfiel ich wieder in tiefe Depressionen. Ich ging feiern, als eine Art Selbstmedikation. Ich trank jeden Abend, nahm immer häufiger Kokain und MDMA. Mein Verhalten wurde immer unberechenbarer und selbstzerstörerischer. Freunde sagten mir, ich sei seit meiner Rückkehr so kontaktfreudig und selbstbewusst, aber im Grunde verwechselten sie nur den völligen Verlust von Hemmungen mit diesen positiven Eigenschaften. Auf Veranstaltungen baten mich Leute immer, von meiner erschütternden Erfahrung zu erzählen – immer mit der Frage, ob ich mich wohl dabei fühle, darüber zu sprechen. Ich sagte immer, es sei in Ordnung. Die Aufmerksamkeit gab mir das Gefühl, dass ich das Ganze wenigstens nicht völlig umsonst durchgemacht hatte. Ich fühlte mich besonders, interessant und mutig – immer wieder redete ich mir selbst ein, der Überfall hätte mich gar nicht mitgenommen. Meine echten Gefühle unterdrückte ich. Doch als mein ganzer Bekanntenkreis mit der Geschichte vertraut war, bekam ich keine besondere Aufmerksamkeit mehr und fühlte mich noch einsamer.

Ein Foto, das Nick während seines Aufenthalts in Rom geschossen hat

Ich schoss mich weiter völlig ab, um nichts zu fühlen. Ich ging gut aufgelegt und gesprächsfreudig auf Partys und in Bars, nur um hinterher allein zu weinen – manchmal zu Hause, manchmal in der Öffentlichkeit. Es war erbärmlich.

Eines Nachts war ich allein auf einem Parkplatz. Ich war betrunken und versuchte, mein Fahrrad aufzuschließen. Der Schlüssel steckte im Schloss fest. Ich rüttelte und zerrte daran, aber das Schloss gab kein bisschen nach. Ich rastete völlig aus. Ich fing an, so hart ich konnte gegen eine Wand zu schlagen und zu treten und dabei wirres Zeug zu schreien. Ich fiel zu Boden, wo ich mich wand und schrie und völlig aufgelöst schluchzte. Ich hyperventilierte, bis mir die Puste ausging. Bald war ich von Polizeibeamten umringt. Sie fragten mich, ob ich auf Drogen sei, vorhätte, Suizid zu begehen, oder ob ich in ein Krankenhaus wolle. Ich sagte zu allem Nein. Stattdessen erzählte ich ihnen, was ich durchgemacht hatte und wie es mir ging. Einer der Beamten sagte mir, Polizisten hätten ständig solche Zusammenbrüche. Sie fuhren mich im Streifenwagen nach Hause. Ich schämte mich so sehr.

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Ich brauche Hilfe – von mir selbst

Mich schreiend auf dem Asphalt zu winden, war viel erschreckender, als ein Messer an der Kehle zu haben. Ich kann nicht beschreiben, wie furchterregend es ist, wenn man merkt, dass man den Verstand verliert. Danach war ich sehr paranoid und erwartete ständig, dass es wieder passieren würde. Ich musste mein Leben in den Griff kriegen.

Wenn die Menschen dich als traumatisiertes Opfer sehen, sagen sie dir, du könntest das niemals allein verarbeiten. Du brauchst angeblich unbedingt Therapie. Vielleicht bin ich ja geizig, naiv oder dumm, aber mir war kein bisschen danach, ein kleines Vermögen für eine Therapie zu zahlen, wo ich es doch noch gar nicht richtig auf eigene Faust versucht hatte.

Mittlerweile sind seit dem Überfall acht Monate vergangen. Vor Kurzem bin ich 30 geworden. Ich habe mich in letzter Zeit intensiv bemüht, Stabilität und Disziplin in mein Leben zu bringen, und inzwischen fühle ich mich, als hätte ich meine Psyche wieder im Griff. Ich trinke allerdings immer noch mehr, als ich sollte. Aber mein impulsives Verhalten, wozu auch das Trinken gehört, kriege ich immer besser unter Kontrolle. Bisher habe ich es nicht noch einmal mit Therapie versucht, aber wenn es wieder schlimmer wird, mache ich das vielleicht doch noch. Ich weiß nicht wirklich, wie ich diese Entscheidung vor Leuten rechtfertigen soll, die sagen, dass ich unbedingt Therapie brauche. Aber ich habe das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, und das ist mir das Wichtigste. Ich weiß, dass ich noch einiges aufzuarbeiten habe – aber so langsam kann ich mir gut vorstellen, nochmal irgendwo Urlaub zu machen.

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